Dicke Regenwolken am Himmel machen dem Turnnachwuchs an diesem Mittwochnachmittag einen Strich durch die Rechnung. Doch die Kinder stört das gar nicht. Statt auf den grünen Rasen stürmen sie eben in die Halle der TSG Estenfeld. Hauptsache wieder rennen, springen und toben – egal wo. Die Fünf- bis Siebenjährigen hatten ihre letzte Turnstunde im Februar 2020. 16 Monate ist das nun her.
Hindernisse und Geräte sind fertig aufgebaut. Es ist nicht die erste Stunde für Übungsleiterin Sabine Röhm an diesem Tag. Seit dem Mittag steht sie in der Turnhalle. Erst kamen die Dreijährigen, dann die Vierjährigen und als letztes sind die Vorschulkinder und Erstklässler dran. Ein Heimspiel für Röhm: "Die kennen mich ja alle seit ihrem ersten Eltern-Kind-Turnen mit einem Jahr."
Aufregung vor der ersten Turnstunde
Aufgeregt schwärmen die Kinder durch die Halle, aber sie wissen: Die Stunde beginnt im Sitzkreis. Röhm geht die Regeln durch. Und sie merkt schnell: Es klappt noch. Nur beim Aufwärmspiel "Feuer, Wasser, Luft" wird untereinander getuschelt, was beim Kommando "Kaugummi" gilt. Doch mit gegenseitiger Hilfe "kleben" schließlich alle an der Wand. Beim Ausruf "Marienkäfer" werfen sich alle schnell auf den Rücken und rudern mit Armen und Beinen in der Luft. "Sie haben doch nicht zu viel vergessen", sagt Röhm erleichtert.
Insgesamt hat die TSG 1566 Mitglieder, 406 davon unter 13 Jahren. Im vergangenen Jahr haben viele gekündigt, erzählt Röhm, die auch Abteilungsleiterin Turnen ist. Und nicht nur Mitglieder haben den Verein verlassen. Normalerweise würden die Vorschulkinder und die Erstklässler in getrennten Gruppen turnen, jedoch fehlen Übungsleiter. "Viele haben während des Lockdowns gemerkt, wie stressig es für sie war und haben sich entschieden aufzuhören", sagt sie. "Wir haben daher die beiden Jahrgänge zusammen gelegt, weil es schade wäre, wenn es für eine Sparte ausfallen müsste."
Nach dem Aufwärmen ist es soweit: Endlich darf wieder geturnt werden. Während Alia gekonnt über den Schwebebalken balanciert, robbt Philipp durch die Tunnelrolle und Romy springt von Balancierstein zu Balancierstein. "Man merkt, wie viel Energie in ihnen steckt", sagt die Übungsleiterin.
Weichbodenmatten gibt es eben nicht zu Hause
Als alle Kinder die verschiedenen Stationen durchlaufen haben, dürfen sie in die Mitte der Halle – und dort auf die großen blauen Weichbodenmatten springen. Schnell kommt es zum Stau. Eine riesige Matte zum Springen hatte eben im Lockdown niemand zu Hause. Die Kinder genießen es sichtlich, sich endlich einmal wieder sportlich austoben zu dürfen. "Ich glaube, wir können noch drei Stunden so weitermachen und ihr seid nicht müde", ruft Röhm.
Im Spätsommer gab es ein kurzes Zeitfenster, in dem Turnen wieder eingeschränkt erlaubt gewesen wäre. "Aber damals wurde die Halle saniert und wir wollten auch durch die Begrenzung keine Kinder vom Sport ausschließen", sagt sie. Denn wer entscheidet, wer mitmachen darf und wer nicht?
Nach den ersten Runden wird es kniffliger für die Kinder. An den verschiedenen Hindernissen warten Reifen zum Durchklettern auf sie. Während so manch einer auf Händen und Füßen auf dem Schwebebalken hindurch krabbelt, schafft es Adrian mit Leichtigkeit. Und in der nächsten Runde wird es noch einmal schwieriger: Für die Kinder gilt es nun, den Parcours rückwärts zu durchlaufen.
24 020 Kinder und Jugendliche sind in den rund 180 Sportvereinen im Landkreis Würzburg angemeldet. Für viele davon ging es in dieser Woche endlich wieder in die Halle oder auf den Platz. "Es wird Zeit, dass die Kinder wieder ihre Chance kriegen", sagt die Sportreferentin des Landkreises, Sandra Handke.
Eltern können keine qualifizierten Übungsleiter ersetzen
"Gerade in jungen Jahren gehen viele Qualifikationen verloren", erklärt sie. Vereine könnten das schnell wieder auffangen. "Die Zahl der Kinder, die einen vernünftigen Purzelbaum machen können war vor Corona schon nicht sehr hoch", zählt sie als Beispiel auf. Und auch auf einer Linie entlang gehen zu können, sei eine wichtige Fähigkeit. "Das können Eltern ihren Kindern nicht so beibringen wie qualifizierte Übungsleiter", so Handke.
Auch die Sportreferentin bestätigt den Mitgliederschwund bei den Vereinen während der Corona-Zeit und hofft, dass den Kindern "der Computer nicht wichtiger geworden ist als der Sport". Handke setzt darauf, dass sie sich wieder motivieren lassen, aktiv zu sein: "Ich hoffe, dass die Kinder den Sportvereinen wieder die Türen einrennen!"
Finn und Flo haben an diesem Nachmittag keine Probleme mit der Motivation. Und auch Sophia und Magdalena sind mit großem Eifer bei der Sache. Auf die Frage, ob sie sich freuen, wieder Turnstunde zu haben, kommt aus allen Mündern ein lautes "Jaaaaaa!". Die Kinder genießen es, ein Stück vom Alltag zurück zu haben. In der Turnhalle am Ortsausgang von Estenfeld ist Corona für sie in diesem Moment ganz weit weg.
Sabine Röhm hat ihre Turnstunden mit den Kindern vermisst – auch wenn sie in der Nacht auf Mittwoch vor Aufregung kaum ein Auge zugemacht hat. Wie würden die Kinder auf sie reagieren? "Die Kleineren kennen mich ja nicht", sagt sie. Und dass Corona das Leben bestimmt hat, merkt Röhm: "Gerade in den jüngeren Jahrgängen sind die Kinder in der Gruppe beim sozialen Verhalten zögerlicher."
Auch für die Übungsleiterin hat Corona Auswirkungen. "Bei den Hygienevorschriften ändert sich täglich etwas", scherzt sie. Sie verbringe mittlerweile mehr Stunden mit der Organisation der Einheiten als in der Halle selbst.
Kurz vor Schluss der Turnstunde sind die dunklen Wolken über Estenfeld weitergezogen, zum Abschluss geht es noch einmal raus auf den grünen Rasen der Sportanlage. Die Kinder nutzen den Platz aus, um "Ochsenberger" zu spielen. Damit hat Sabine Röhm es am Ende des Tages nun wirklich geschafft – die Kinder sind müde.
Doch bevor es nach Hause geht, kommt für einige noch der Höhepunkt der Turnstunde: Sabine Röhm verteilt Stempel auf die kleinen Hände. Zwei Abdrücke, wenn es super gelaufen ist, einer, wenn beim nächsten Mal noch besser auf die Trainerin gehört werden muss. Gibt es keinen Stempel, steht ein Gespräch mit Mama oder Papa an. Doch an diesem Abend dürfen sich alle doppelt freuen: Jeder geht mit zwei Stempeln triumphierend nach Hause. Und das haben sich die Kinder nach 16 Monaten Warten auch wirklich verdient.