Pest, Cholera, Spanische Grippe – spätestens seit dem Mittelalter kämpfte und kämpft die Menschheit immer wieder gegen schwere Seuchen. Welche Dimension hat aber Corona– aus historischer Sicht? Und was wird die Pandemie für unsere Gesellschaft bedeuten? "Jede Seuche ist ein großer Stresstest für eine Gesellschaft", sagt der Erlanger Medizinhistoriker Prof. Karl-Heinz Leven. Immer hätten sie tiefe Spuren hinterlassen. Ein Gespräch über die historische Einordnung der Corona-Krise – und die Frage, ob wir aus den Seuchen der Vergangenheit überhaupt gelernt haben.
Prof. Karl-Heinz Leven: Ich möchte zwischen der Ausbreitung der Krankheit und der Pandemie-Krise unterscheiden. Hinsichtlich der Sterblichkeit verläuft Corona im Vergleich mit historischen Epidemien, zumindest in Deutschland und Europa, eher mild. In derselben Zeit, in der 100 000 Menschen an und mit Corona gestorben sind, sind in Deutschland insgesamt zwei Millionen Menschen gestorben. Es gibt eine akute Krise, weil die sehr aufwendige und nur begrenzt vorhandene Intensivmedizin überlastet ist. Durch die weltweiten Isolierungs- und Absperrungsmaßnahmen ist die Pandemie-Krise allerdings ein gewaltiges Ereignis, das eine Epochenwende markiert, vielleicht vergleichbar mit den Folgen des Ersten Weltkriegs.
Leven: Zwischen der Corona-Krise und dem Ersten Weltkrieg besteht keine direkte Analogie, es geht hier um eine Ähnlichkeit bezüglich der Größenordnung der Folgen. Entscheidend ist, das Leben geht weiter, aber es ändert sich sehr viel, das zuvor gewohnt war. Die Pandemie-Krise, die eben erst begonnen hat und lange anhalten wird, hat bereits jetzt global sichtbare Folgen für Politik, Gesellschaft, Wirtschaft, Mentalität. Denken Sie an den Aufstieg Chinas, die wirtschaftliche Situation und die Verwerfungen weltweit.
Leven: Im Frühjahr 2020 nach meinem Eindruck gefragt, war ich optimistisch, dass die Pandemie eingrenzbar bleiben würde. Außerdem konnte ich mir nicht vorstellen, dass strikte Isolierungs- und Absperrungsmaßnahmen wie in China bei uns eingeführt würden. Schließlich habe ich vermutet, dass die bereits vom ersten Tag an erwartete Impfung einen entscheidenden Umschwung bewirken würde. In allen Punkten habe ich meine Ansichten modifizieren müssen, und das ist vielen Beobachtern so gegangen.
Leven: Ausgesprochene "Fehler" sehe ich wenige, wenn damit gemeint wäre, man hätte an einem bestimmten Tag etwas falsch gemacht. Die Pandemie ist ein komplexes Naturgeschehen, das sich Berechnungen oft entzieht. Statt Fehlern sehe ich eher Mängel und Versäumnisse, die zum Teil vermeidbar wären.
Leven: Europa hat viel gelernt in den vergangenen 500 Jahren. Der Umgang des Abendlandes mit der Seuche – mit der Pest, mit anderen Krankheiten – zeigt eine Art Lernkurve. Man merkte recht bald, dass Ansteckung eine große Rolle spielt bei Seuchen. Isolierungen, Quarantäne, Absperrungen – das waren vernunftgeleitete Maßnahmen. Durch die naturwissenschaftliche Medizin im späten 19. Jahrhundert und – noch früher – durch die Ende des 18. Jahrhunderts erfundene Pockenschutzimpfung hatte man erste Instrumente. Es entstand etwas, das man Handlungszuversicht nennen kann, eine Haltung, die wir auch heute in der Seuchenbekämpfung sehen.
Leven: Die recht wirksamen Maßnahmen bis hin zu den Impfungen haben allerdings auch die grundsätzliche Erwartung geweckt, man würde die Seuchen allesamt "besiegen". Darin sind zwei Fehlanahmen zu sehen: Erstens hat man trotz punktueller Erfolge stets weltweit und auch bei uns mit Infektionskrankheiten zu tun, und das wird so bleiben. Zweitens ist die Vorstellung eines "Krieges" oder "Kampfes" gegen ein Virus sachlich falsch und gesellschaftlich gefährlich. Seit dem späten 14. Jahrhundert kehrt sich nämlich die Gewalt, mit der eigentlich die Krankheit zu "bekämpfen" wäre, gegen gesellschaftliche Randgruppen. Es wird moralisch geurteilt, Schuld wird verteilt. Und das sehen wir auch heute.
Leven: Nun ja, man soll die Hoffnung nicht aufgeben. Immerhin ist vielen Menschen bewusst, dass in der Corona-Krise vordergründige Schuldzuweisungen keinen Nutzen bringen, sondern nur Hass und Spaltung befördern. Diese Einsichten könnten ruhig noch ein wenig stärker werden, Verstand und nüchternes Überlegen sollten an die Stelle von Emotionen treten. Wenn wir eben über "Fehler" sprachen: wir sehen sie am ehesten in der öffentlichen Kommunikation über die Seuche.
Leven: Nicht wirklich überrascht, weil wir das in jeder Pandemie seit der Vormoderne sehen. Die Bedrohung durch die Seuche ist abstrakt und unfassbar, das ist auch durch die naturwissenschaftliche Medizin nicht besser geworden. Der Ansteckungsgedanke, der sachlich begründet ist, bestärkt auch die Vorstellung, dass jemand die Krankheit verbreitet – und damit verbindet sich sofort der Schuldgedanke. Das führt dazu, dass Gruppen beschuldigt werden, anfänglich Skifahrer, Karnevalisten, "Feierwütige". Die ehemalige Kanzlerin warnte vor "Eröffnungsdiskussionsorgien", die Wortwahl zeigt die Absicht, um die es geht. Jetzt konzentriert sich der öffentliche Groll auf die "Ungeimpften", die als Sündenböcke der Epidemie präsentiert werden.
Leven: In jeder Seuche spielen Emotionen eine (zu) große Rolle. Die Vernunft gerät ins Hintertreffen.
Leven: Wenn man von Epidemie und Seuche spricht, dann impliziert das immer: Es ist eine neue Krankheit, und sie breitet sich explosionsartig aus und erschüttert das Gemeinwesen eine Weile. Ob Pest im 14. und 16. Jahrhundert, Cholera im 19. Jahrhundert oder Aids im 20. Jahrhundert – jede neue Seuche hat die Gesellschaft und die Wissenschaft herausgefordert. Bei Aids in den 1980er Jahren hat die Politik sehr klug reagiert.
Leven: Indem sie von vorneherein jede Art von Denunziation von Minderheiten und Betroffenengruppen vermieden hat. Diese Vorgehensweise erscheint vorbildlich aus heutiger Sicht. Die Gesundheitspolitik hat seinerzeit die Kommunikation klug gesteuert und sachlich geprägt, und das in einer Zeit, als Aids tatsächlich eine absolut tödliche Krankheit war.
Leven: Eine erste Antwort lautet: Nein, das hat es in der Geschichte in größerem Umfang nie gegeben, dass Leute als gefährlich gelten, die äußerlich gesund sind. Unsere neuen Testverfahren haben dazu geführt, dass der traditionelle Gesundheitsbegriff nicht mehr existiert. Auch wenn man drei Mal geimpft ist, gilt man im öffentlichen Raum als krankheits- bzw. ansteckungsverdächtig.
Leven: Bei bakteriellen Infektionen hat man bereits im 19. Jahrhundert entdeckt, dass es asymptomatische Ausscheider gibt, zum Beispiel bei Typhus, einer gefährlichen Darmkrankheit. Manche scheiden Typhusbakterien aus, sind aber selbst nicht krank. Das kommt glücklicherweise nicht so oft vor. Und es gibt auch den asymptomatischen Verbreiter von Viren, Infizierte, die zwei oder drei Mal geimpft sind. Die Besonderheit von Corona besteht darin, dass wir nun einen hohen Prozentsatz Geimpfter haben, die vor schwerer Erkrankung recht zuverlässig geschützt sind, aber das Virus dennoch weitergeben können. Außerdem gibt es sogenannte Impfdurchbrüche, das heißt Geimpfte, die auch schwer erkranken.
Leven: Wenn ich die Corona-Krise mit dem Ersten Weltkrieg vergleiche, dann wegen des Ausmaßes der Folgen, gesellschaftlich, politisch, wirtschaftlich, mental. Es ist eine neue Art von Unsicherheit im Weltgeschehen, das auch zuvor schon ziemlich kompliziert und zum Teil gefährlich war. Es gibt eine neue Instabilität, jetzt ist alles möglich. Aber was man auch sehen muss: In einigen Bereichen gibt es Fortschritte, so in der Digitalisierung, und die Medizin, speziell die Virologie hat einen großen Sprung gemacht! Man muss es nicht durchweg negativ sehen. Es ist eine neue Zeit. Die Zeit "vor Corona" ist Geschichte.
Leven: Das hat es in dieser Form noch nie gegeben. Die soziale Distanzierung ist das neue Gebot der Nächstenliebe, eine Art Kulturrevolution.
Leven: Aus dem Corona-Dilemma werden wir auf absehbare Zeit nicht herauskommen. Nach der Entspannung im Frühjahr und Sommer 2022 wird man schon an die nächste Welle im Winter denken müssen. Die Maßnahmen werden bleiben. Das Einzige, was uns wirklich helfen würde, ist ein Therapeutikum. Es gibt kein wirksames Mittel gegen diese Krankheit bisher. Die Tablette gegen Corona – sie könnte einen Umschwung einleiten.
und? Ist doch alles ok und gut, dass man diesmal hoffentlich rechtzeitig überlegt, wie man einer evtl. 5 Welle begegnen kann. Wenn das dann nicht mehr nötig ist, prima. Und ansonsten ist es doch logisch, dass sich die Impfintervalle je nach Erstimpfung eben monatelang durch die Bevölkerung ziehen werden.
Die soziale Distanzierung war im Mittelalter und der frühen Neuzeit aber ungleich härter.
Damals wurde erkennbar Infizierte in Siechenkobel weit draußen vor der Stadt abgeschoben. Medizinische Versorgung gab es da nicht nur die aller nötigsten Lebensmittel.
Wie heute hielten sich die Menschen damals auch nicht an die Weisung, Reisen zu unterlassen und verbreiteten so die Pest in ganz England. Und ebenso wurde die Krankheit in vielen Familien verschleiert und verschwiegen, weil sie Ausgrenzung fürchteten.
Auch die spanische Grippe wäre nicht so verheerend ausgefallen, wenn die - in fast ganz Europa kriegshalber zensierte - Presse sie nicht auch verharmlost und totgeschwiegen hätte.
Der Name "Spanische Grippe" kommt daher, dass die weitgehend unzensierte spanische Presse zuerst ungeschminkt darüber berichtete.
Viel haben wir also nicht dazugelernt.
Wenn diese 4% doch zum Teil vermeidbaren Todesfälle in Ihrem engsten Freundes- oder Verwandtenkreis eintreten tun Sie das wahrscheinlich nicht mehr so lapidar ab.
Herz-/Kreislauferkrankungen weiterhin häufigste Todesursache (34 %)
https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2021/11/PD21_505_23211.html
Ich glaube, der Vergleich hinkt. Die Herz-Kreislauf-Probleme sind zu einem großen Teil selbst beeinflussbar, im guten wie im schlechten. Nur haben wir uns an die div. Erzeugnisse der Pharma hiergegen gewöhnt, nicht jeder "wirkt mit". Und es gibt auch keinen Druck, weil er nur sich selbst gefährdet. Das ist bei Corona anders. Inzwischen kann man, begrenzt und schwer vorab erkennbar (Impfdurchbrüche) etwas tun, aber trotzdem bleibt ein Risiko für andere und das steigt exponentiell mit denen, die mit oder ohne eigenes Mit-wirken das Virus verbreiten. Am Herzinfarkt hat sich noch keiner angesteckt und wir haben inzwischen gute Medikamente. Deshalb.
Es müssen sich schon im Frühjahr 22 Gedanken über den Herbst/Winter 22 gemacht werden.
Das ist wirklich der einzige Fehler, den die Politik gemacht hat. Die Pandemie unterschätzt und kaum 3 Monate in die Zukunft gedacht. Lauterbach macht es hoffentlich besser!