Es ist jetzt schon klar, dass Covid-19 seinen festen Platz in der Medizingeschichte bekommen wird. Und es wird irgendwann viel dazu geforscht werden, wie sich Staat, Medizin und Gesellschaft in der Krise damit - und miteinander - auseinandersetzten. An der Universität Würzburg beobachtet die Medizinhistorikerin Dr. Sabine Schlegelmilch die Pandemie und Berichterstattung darüber von Beginn an. Die Altphilologin ist Kustodin und Sammlungsbeauftragte der Medizinische Fakultät. Und sie hält für die Medizinstudenten regelmäßig die Vorlesung zur Seuchengeschichte. Welche historische Bedeutung hat das Coronavirus also? Und was lässt sich aus der Vergangenheit lernen? Ein Gespräch über Pest, Spanische Grippe - und das Verdrängen.
Wann haben Sie von Sars-CoV-2 beziehungsweise Covid-19 zum ersten Mal bewusst gehört? Beziehungsweise wann dachten Sie, das wird was sehr Ernstes und Großes?
Dr. Sabine Schlegelmilch: Gehört tatsächlich klassisch in der Tagesschau, die ich regelmäßig anschaue – mit dem Finger am Aufnahmebutton, am Computer. Ich suche immer Stoff für die Vorlesung Seuchengeschichte, die ich regelmäßig halte, und bin da sensibilisiert. Im vergangenen Jahr war viel mit Ebola. Und als es in diesem Jahr hieß, es gibt eine neue Grippe aus China, dachte ich: Aha, kenne ich doch, nimmste mal auf. Und dann hat das relativ schnell eine große Dynamik entwickelt und ich bin schon Mitte Februar gar nicht mehr hinterhergekommen mit dem Sammeln von Interviews und mit dem Aufnehmen. Ich habe jetzt eine ganze Festplatte voll.
Sie zeichnen als Historikerin die Nachrichten auf, die tagesaktuellen Meldungen?
Schlegelmilch: Der Antrieb, aktuell zu sein, ist wohl ein spezielles Kennzeichen der Medizingeschichte. Wir haben zwar in der Vorlesung letztlich die historische Perspektive auf alles, aber wir müssen auch immer schauen, dass wir einen aktuellen Bezug herstellen. Die Medizinstudierenden sollen verstehen, wieso das, was sie heute erleben, so ist wie es ist. Und auf was sie sich gefasst machen müssen. Und da ist Seuchengeschichte ein wirklicher Klassiker, weil sich die Strukturen seit 2000 Jahren immer wieder ähneln und wiederholen. Ich saß im Februar vor dem Fernseher und dachte: So, wann kommt jetzt das und dann das?
Das heißt, Ihnen war schnell klar: Das wird eine richtige Pandemie?
Schlegelmilch: Ja. Es war mir auch relativ schnell klar, dass vieles, was die Studenten über typische gesellschaftliche Reaktionen und Verhaltensmuster lernen müssen, spätestens dann einsetzt, wenn das Virus Europa erreicht. Wie reagieren Staat und Gesellschaft? Es gibt dynamische Entwicklungen, bei denen wir relativ genau voraussagen können, was passieren wird.
Zum Beispiel?
Schlegelmilch: Das sogenannte Othering, also von „other“, anders. In allen Gesellschaften, allen bedrohten Bevölkerungsgruppen tendiert jeder Einzelne erst einmal dazu, wenn er Kontrollverlust spürt und Angst, zu sagen: Das ist ja weit weg. Das hat ja mit mir nichts zu tun, das sind die anderen. Bei HIV/Aids war das ganz lange so, bei Ebola in Afrika funktioniert das. Und bei Covid ist es ähnlich. Wir schieben immer schön weg. Junge Leute sagen : Ich bin ja keine Risikogruppe. Und ziehen die falsche Folgerung: Ich kann’s ja nicht kriegen.
Bei Corona ist das „Wegschieben“ und Verdrängen aber ziemlich schwierig geworden. Welche Dimension hat die Corona-Pandemie, historisch betrachtet?
Schlegelmilch: Das ist nicht einfach zu beantworten. Die meisten fangen an, mit Zahlen um sich zu werfen. In der Seuchengeschichte sind Standardzahlen: Mitte des 14. Jahrhundert die Pest mit 25 Millionen Toten in Europa. Oder die spanische Grippe zwischen 1918 und 1920 mit 50 Millionen Toten weltweit. Bei Corona sind wir jetzt bei fast 700.000 Toten. Aber was sagen diese Zahlen, wenn man sie nicht in Beziehung setzt zu den historischen Gegebenheiten? In den Quellen für das Mittelalter, für die Zeit nach der Pest, finden wir weniger Erwähnungen von Schwindsucht. Offenbar waren die Landstriche so entvölkert, dass es keine Ballungsräume mehr gab, in denen sich die Schwindsucht ausbreiten konnte.
Ohne Corona relativieren zu wollen . . . . Mit der Pest und der Spanischen Grippe ist die aktuelle Pandemie dann wohl schwer vergleichbar?
Schlegelmilch: Gerade was das Mittelalter und auch die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg angeht, muss man sehen: Das Konzept „Virus“ war unbekannt. Man konnte bis zum Einsatz der Elektronenmikroskope, bis in die 1940er Jahre nicht nachweisen, dass es Viren gibt und was sie sind. Und man hatte keine Antibiotika. Wenn man den viralen Infekt überlebt hatte, das Immunsystem geschädigt war und sich dann Entzündungen in den Körper setzen, zum Beispiel durch den Tuberkulosebazillus – dann hatte man keine Antibiotika zum Bekämpfen. Und vorher vier Jahre lang Krieg und Hunger! In die 50 Millionen Tote bei der Spanischen Grippe muss man die „Folge-Toten“ einrechnen.
Wann sagen Sie eigentlich Seuche und wann Pandemie?
Schlegelmilch: Bei uns heißt es Seuchengeschichte. Seuche hat mit dem mittelhochdeutschen Wort „siech“ zu tun, mit „saugen“. Man hatte die Vorstellung, es gibt ein Gespenst, etwas Unsichtbares, das einen aussagt. Auch „Sucht“ gehört zu der Wortfamilie. Wieso sprechen wir in der Wissenschaft von „Pandemie“ oder nennen es „Epidemie“? Seuche ist ein emotionalisierendes Wort, das auch oft auf andere, nichtmedizinische Bereiche übertragen wird.
Jemand hat die Seuche . . .
Schlegelmilch: . . . oder jemand ist „voll die Seuche“! Man kann das auch über Leute sagen, die überall sind und die man nicht mehr losbekommt. Man muss aufpassen, wie man über Dinge spricht. Wenn ich „Seuche“ sage, transportiere ich: Das ist nicht kontrollierbar, das ist bedrohlich, vermutlich tödlich. Der Begriff „Pandemie“ verwissenschaftlicht das Ganze.
Covid-19 ist also eine Seuche.
Schlegelmilch: Aus Sicht der Gesellschaft – oder sagen wir, mit Blick auf Gesellschaft und ihre Reaktionen - ist es mit Sicherheit eine Seuche. Ich habe ganz gut aufgepasst: In allen Interviews, die ich gesehen und gelesen habe, ist zwei Mal bislang einem Virologen oder einem Wissenschaftler das Wort „Seuche“ über die Lippen gekommen.
Wem ?
Schlegelmilch: Jedenfalls nicht den bekannt gewordenen „Vorzeige-Virologen“. Lauterbach, Streek, Drosten vermeiden ganz präzise auffällig das Wort "Seuche". Es heißt immer „Pandemie“, da sind alle sehr korrekt. Aber was Wissenschaftler frei und wahllos benutzen, ist das Wort „durchseucht“. Ein ziemlich schreckliches Wort, aber da gibt es offenbar kein Pendant. Und kein Bewusstsein.
Also „durchpandemisiert“ . . . Diese globale Dimension von Sars-CoV-2, ist die mit früheren Seuchen vergleichbar?
Schlegelmilch: Die „Spanische“ Grippe, die ja aus den USA kam, hat auch weitgehend alle Kontinente betroffen und war global. Wir sind abhängig von den Medien, die berichten. Wir wissen, dass sich im 19. Jahrhundert die Cholera entlang der Handelswege von Indien her nach England und Holland und aus dem arabischen Raum über Russland nach Zentraleuropa verbreitet hat. Aber es gibt darüber eben keine globale Berichterstattung darüber wie heute über das Internet. Sicher, dass sich Viren und Bakterien heute so extrem rasch über den Globus verbreiten, weil jeder überall hinjettet – das ist schon unsere moderne Lebensweise.
Welche historischen Seuchen haben die Welt tatsächlich verändert? Welche hatten die größten Folgen?
Schlegelmilch: Die Pest mit Sicherheit. Die hat Mitteleuropa wirklich größtenteils entvölkert. Bei Tuberkulose oder bei Syphilis, die ganze Familien über Generationen „begleitet“ hat, fehlen quasi die punktuellen Ereignisse, an denen man Folgen festmachen kann. Sie waren immer da, jahrhundertelang. Die Kinder waren quasi schon krank, wenn sie geboren wurden. Es gab Elendsviertel, in denen jeder von Syphilis entstellt war.
Wird die Welt nach der Seuche, der Pandemie jetzt, eine andere sein? Was sagen Sie aus historischer Perspektive?
Schlegelmilch: Man kann hoffen, dass ein bisschen was an Erfahrung hängen bleibt. Aber wie gesagt, erfahrungsgemäß verdrängen Menschen gerne. Beim „Othering“, dem Abgrenzen, kommt ja noch eine Stufe dazu, leider auch jetzt wieder. Nämlich das aggressive „Othering“, das Suchen eines Sündenbocks, mit Grundzügen von Alltagsrassismus. Wir haben in Amerika einen Präsidenten, der das Ganze nur das „China-Virus“ nennt. Die eigene Hilflosigkeit wird an anderen abreagiert. Da bin ich pessimistisch, dass sich durch diese Pandemie etwas ändert. Auch Antisemitismus nimmt im Moment zu, auch in Verbindung mit Pandemiethemen.
Da sind wir bei den Verschwörungstheorien . . .
Schlegelmilch: . . . die es auch schon seit 2000 Jahren gibt, zu den verschiedensten Pandemien. Insofern – wird sich groß etwas ändern? Den großen Wandel wird Corona hier nicht auslösen.
Sie haben die Bevölkerung schon im April aufgerufen, „Corona-Objekte“ für die Sammlung des Instituts für Medizingeschichte vorbei zu bringen.
Schlegelmilch: Wenn ich über Infektionskrankheiten ein Seminar halte, soll Corona auch dabei sein. Und dafür möchte ich ein paar Rätselobjekte haben. Die Studenten sollen rätseln und herausfinden: Was hat dieses Ding mit einer Pandemie zu tun? Bei Krankheiten, die man operieren kann, gibt es medizinische Instrumente oder Geräte. Seuchen aber sind schwer zu „sammeln“ und abzubilden.
Die Masken sind sicherlich nicht rätselhaft . . . Was wäre denn ein Corona-Ding, das man nicht gleich mit Medizin in Verbindung bringt und bei dem man nicht gleich auf eine Seuche kommt?
Schlegelmilch: Der selbstgebastelte Besenstiel mit angeschraubtem Haken, an dem man einen Eimer aufhängt, um damit der Oma Blumen oder Geschenke – mit Abstand - in den ersten Stock zu reichen.
Also suchen Sie . . .
Schlegelmilch: . . . im weitesten Sinne alles, was in und um Würzburg im familiären Kontext an Objekten benutzt worden ist. Gar nicht mal nur medizinisch gedacht. Auch was als symbolisch für diese Krise empfunden wird. Bilder sind auch gut. Zum Beispiel ein Foto von total zerschlissenen Hausschuhen. Weil jemand, der zur Risikogruppe zählt, drei Monate lang nicht aus der Wohnung gegangen ist und immer nur die Hausschuhe an hatte.
Früher die schnabelförmige Arztmaske mit Kräutern drin, heute die Hausschuhe . . .
Schlegelmilch: Die Arztmaske? Ja, das ist das Standardbild für die Pest. Das finden wir in der Medizingeschichte immer ganz drollig, weil es so etwas hier gar nicht gab. Nicht nördlich der Alpen. Irgendjemand muss so eine Pestmaske aus Italien, aus dem Raum Venedig, mitgebracht haben als Kuriosität, und dann hat sich das Bild verselbständig. So, dass heute jeder sagt: Die Pestdoktoren hatten Schnabelmasken an.