Weihnachtsabend 2010: Wenige Stunden nachdem er seine Ehefrau im Schlafzimmer erst durch zahlreiche Messerstiche verletzt und dann mit über 20 Hammerschlägen auf den Kopf getötet hatte, klingelt der 71-jährige Rentner Ernst H. (Name geändert) bei der Familie im Stockwerk darunter. Weinend berichtet er: Seine Ehefrau habe wegen starker Herzbeschwerden kurzfristig eine Kur in Bad Tölz angetreten. Es sei für ihn seit langer Zeit das erste Weihnachtsfest, das er allein verbringen müsse.
In dem kleinen Ort im Landkreis Würzburg lädt die Familie den Rentner zu sich ein. „Gut gelaunt, wie selten vorher“ sei er gewesen, als man bei einem Glas Wein zusammensaß, erzählten die Gastgeber später. Zwischendurch habe der Rentner aus Angst um seine Frau immer wieder mal geweint. „Das klang ganz authentisch.“ Für den Fall, dass die Ehefrau die schwere Herzerkrankung überlebt, plante der Rentner angeblich bereits den Umzug in eine Einrichtung für „betreutes Wohnen“.
Am 1. Weihnachtsfeiertag revanchiert er sich und lädt die Familie zu Kaffee, Weihnachtsstollen und Plätzchen ein. Was die nicht ahnt: Nebenan liegt im Schlafzimmer die ermordete 77-Jährige schon viele Stunden tot in einer Blutlache. Der zur Tat benutzte Hammer soll zufällig neben dem Bett gelegen haben. Damit hatte der Angeklagte am Abend vorher einen Nagel in die Wand geschlagen, für den Kalender des neuen Jahres.
Vom Vermieter verabschiedet bis zum nächsten Treppenhaus-Dienst
An Silvester verabschiedet der Rentner sich vom Hausbesitzer und kündigt an: Er werde seine Frau in einer Kurklinik am Bodensee besuchen. Er bittet darum, seinen Briefkasten zu leeren und verspricht, am 10. Januar wieder da zu sein: weil er da mit dem Reinigen des Treppenhauses dran ist.
Entdeckt wird das Verbrechen am Neujahrstag 2011, weil der Angeklagte vor seiner Flucht das Schlafzimmerfenster weit geöffnet hat. Bei Temperaturen um minus zehn Grad machen sich Hausbewohner Gedanken, dass etwas passiert sein könnte.
Da ist er bereits in einer Pension in der Nähe von Lindau, wo man ihn von früheren Aufenthalten her kennt. Er hatte für einige Tage gebucht mit dem Hinweis, dass seine Frau vor Kurzem gestorben sei. Festgenommen wird der Rentner, als er gerade mit seinem kleinen Terrier zum Gassi gehen die Pension verlässt. Ein Sondereinsatzkommando kann wieder abrücken, er leistet keinen Widerstand.
Oberstaatsanwalt: "Geständnis, aber kein Motiv"
Ungewöhnlich an dem Fall war, so Oberstaatsanwalt Boris Raufeisen ein Jahr später vor dem Schwurgericht Würzburg, dass man einen geständigen Täter hat - aber das Motiv nicht aufklären konnte. Durch Angstzustände „affektiv aufgeladen“, habe der Rentner seine Frau getötet, nachdem er am Heiligen Abend gegen vier Uhr früh aufgewacht war, eine Lampe eingeschaltet und kurz mit der sechs Jahre älteren Ehefrau gesprochen hatte, die auch wach geworden war. Dabei sei ein Stichwort gefallen, das ihn ausrasten ließ. Was die ehemalige Krankenschwester gesagt hat, wisse er nicht mehr, so der Angeklagte beim Gespräch mit einem psychiatrischen Gutachter. Vor Gericht machte er überhaupt keine Angaben.
Das Verbrechen stehe, so das Gericht, trotz großer zeitlicher Distanz, in enger Beziehung zur Unterbringung des Angeklagten als Zweijähriger in einem Kinderheim - und zum sexuellen Missbrauch dort durch Erzieherinnen über Jahre hinweg. Der Mann sei später immer wieder von seiner Vergangenheit eingeholt worden. Er habe ständig in Angst vor erneutem Missbrauch gelebt, fühlte sich bedroht und entfernte sich dabei zunehmend von der Realität. Er erzählte Frauen beim Hunde ausführen wirre Geschichten von regelmäßigen Nackt-Feten in einer Hütte im Wald und einer Domina mit Peitsche, die hinter ihm her sei.
Angst sogar vor dem Kaffee-Kränzchen
Zu seinen nicht aufgearbeiteten Erlebnissen als Kind hatten Psychiater weder bei ambulanten noch stationären Aufenthalten Zugang gefunden. Häufig - so seine Ehefrau zu Lebzeiten bei behandelnden Ärzten - sei ihr Mann nachts schweißgebadet aufgewacht. Er fürchtete sogar, dass sie ihn als Sex-Sklaven an ältere Damen ihres Kaffee-Kränzchens vermieten wolle. Die Erlebnisse im Heim, so das Schwurgericht, haben dazu geführt, dass der Angeklagte von Situationen überzeugt war, die mit der Realität überhaupt nichts zu tun hatten.
Vor Gericht stellt sich heraus: Bei Spazierfahrten zu früheren „Tatorten“ behauptete er, in kleinen Kirchen und Kapellen missbraucht worden zu sein. Wenn in einem Dorf zufällig eine alte Frau aus dem Fenster schaute, war er sich ganz sicher, dass das eine von denen sei, die ihn damals missbraucht hatten. Er glaubt sich zu erinnern: Während seiner Zeit auf der Landstraße habe er in der Oberpfalz von Bäuerinnen manchmal Lebensmittel bekommen und dafür eine Runde nackt durchs Dorf laufen müssen.
Sohn eines Mörders wurde "Spielzeug" für Erzieherinnen
Die Jahre, die der Mann, wie die meisten seiner 13 Geschwister als Kind wegen drohender Verwahrlosung in Heimen in Niedersachsen verbrachte, müssen die Hölle gewesen sein. Zumal schnell bekannt wurde, dass sein Vater eine der Töchter vergewaltigt und dann umgebracht hatte, um die Tat zu verdecken. Ob der danach beim Einsatz in einem Strafbataillon an der Front gefallen ist oder durch den Strang hingerichtet wurde, hat das Gericht nicht ermitteln können.
Jedenfalls war der Jugendliche im Heim für die anderen Kinder als Sohn eines Mörders der Außenseiter, den sie regelmäßig verprügelten. Und dann seien da noch Erzieherinnen gewesen, die - sogar zu dritt - den "Mördersohn" als "Spielzeug" missbrauchten.
- Gelöste Kriminalfälle: Lebenslänglich für den Mord an der eigenen Mutter
Bei dem Verbrechen am Heiligen Abend 2010 ging es nach Überzeugung der Richter also nicht - wie zunächst angenommen - um Rache nach Demütigung in 33 Ehejahren, sondern um die realitätsferne Überlegung, sich von seinen Ängsten zu befreien. Das Gericht bedauerte, dass der Angeklagte im Prozess wichtige Fragen nicht beantwortete. Angeblich hatte er im Dezember 2010 Angst vor Besuchern an Weihnachten. Um wen es sich dabei handeln sollte, sagte er nicht. Möglicherweise stand auch da die Angst im Raum, missbraucht zu werden. Rätselhaft blieb auch die Bemerkung gegenüber einem psychiatrischen Gutachter in der Justizvollzugsanstalt: Er habe nicht noch einmal „so ein Weihnachten wie damals“ erleben wollen, ohne nähere Angaben.
Wurzeln der Tat liegen in den Heim-Erlebnisse
Dem Gericht war klar, dass ein schwer kranker, alter Mann besonders haftempfindlich ist und dass er vermutlich nicht mehr in die Freiheit zurückkehren wird . Dennoch habe man eine hohe Strafe verhängen müssen - trotz erheblichen Steuerungsmängeln zur Tatzeit. Verurteilt wurde der Rentner „nur“ wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von neun Jahren
Die Urteilsbegründung vom 23. Dezember 2011 enthält Passagen, die von dem Fall losgelöst, immer noch aktuell sind: Dass die Wurzeln dieser Tat in Heim-Erlebnissen zu suchen sind, das entschuldigt die Tat nicht, so der damalige Vorsitzende Richter Lothar Schmitt, jetzt Generalstaatsanwalt in Nürnberg. Die Tat sollte aber Mahnung sein an die Adresse aller, die Kinder und Jugendliche missbrauchen und den Tätern deutlich machen, was sie damit auslösen können.
Motiv für die Heirat dürfte "helfen wollen" gewesen sein
Die Wege des Mordopfers, einer ehemaligen Krankenschwester, und des alkoholabhängigen Obdachlosen hatten sich einst in Schwetzingen gekreuzt, im Krankenhaus. Dort habe die Stationsschwester den Mann ohne festen Wohnsitz als kardiologischen Notfall kennengelernt und sich um ihn gekümmert. Es sei - so eine Vertraute der Getöteten vor dem Schwurgericht - wohl nicht Liebe gewesen, sondern das Helfer-Syndrom der stark christlich geprägten Frau. Im Ort war die Ehefrau des Mörders wegen ihres sozialen Engagements - auch und vor allem für Suchtkranke - bekannt und beliebt.
- Gelöster Kriminalfall: Der Tod in der Badewanne
Ihr Mann hat nach einer Therapie zwar noch getrunken, aber erheblich weniger als vorher. Das habe er, so der Angeklagte, bei einer Selbsthilfe-Organisation für Alkoholkranke so erfolgreich verheimlicht, dass er dort als Referent eingesetzt wurde und beispielsweise in Betrieben gezielt für Lehrlinge Vorträge hielt: über die Folgen des maßlosen Alkoholkonsums.