Martina H. richtet sich auf einen gemütlichen Fernsehabend ein. In der Zeitung hat sie den Film „Twelve Monkeys“ mit Brad Pitt und Bruce Willis angestrichen. Kurz nach 22 Uhr soll der spannende Endzeitthriller laufen. Die 79-Jährige lebt allein in ihrem Haus in Arnstein (Lkr. Main-Spessart) unweit des Schlosses. Sie geht gerne auf Flohmärkte, und das sieht man. Das Haus ist bis unters Dach voll mit Möbeln, Nippes, Bildern, Uhren, mit Kissen und Teppichen. Im Erdgeschoss hat sich Martina H. eine gemütliche Wohnküche mit einem bräunlichen 50er-Jahre-Sofa eingerichtet. Hier schläft sie oft vor dem Fernseher ein – so auch an diesem Abend, dem 6. September 2002. Doch aufwachen wird sie nicht mehr. Irgendwann zwischen 0 und 3 Uhr morgens wird die Frau Opfer eines heimtückischen Mordes, brutal niedergestreckt mit zahlreichen Messerstichen.
Rippen und Wirbelsäule der alten Frau werden durchstoßen
Gefunden wird Martina H. von ihrer Tochter. Simone S. hat im Haus der alten Dame übernachtet, mindestens einmal pro Woche kommt die Lehrerin, die im 100 Kilometer entfernten oberfränkischen Lichtenfels lebt und arbeitet, zu Besuch. Als die 54-Jährige an diesem Morgen gegen 7 Uhr in die Wohnküche kommt, liegt Martina H. leblos auf dem Sofa, bis unter das Kinn in Decken gehüllt. Nur ein Arm lugt hervor, und weil der so seltsam blass ist, läuft sie zum Hausarzt der Familie, der nur 300 Meter entfernt lebt. Unter den Decken kommt das gesamte Ausmaß der Tat zum Vorschein. 47 Mal wurde auf Martina H. eingestochen – in Brust, Rücken und Bauch. Der Angriff erfolgte so heftig, dass Rippen und Wirbelsäule der alte Frau durchstoßen wurden.
Und noch etwas ist auffällig: Die 79-Jährige muss auf der Seite gelegen und geschlafen haben, als sie attackiert wurde, da sich an ihrem Körper keinerlei Abwehrverletzungen finden. Die Polizei stellt die Tatwaffe, ein Küchenmesser mit einer zwölf Zentimeter langen Klinge, das dem Opfer gehört, in der Speisekammer des Hauses sicher. Es wurde nur notdürftig abgewischt und mehr schlecht als recht versteckt. Das Blut des Opfers klebt noch daran. Da es keine Einbruchsspuren gibt, und die beiden Frauen offenbar allein im Haus waren, gerät Tochter Simone S. sofort unter Verdacht. Sie wird noch am selben Tag von den Beamten mitgenommen und einen Tag später dem Haftrichter vorgeführt.
Das Verhältnis von Mutter und Tochter soll nicht das beste gewesen sein
In Arnstein machen Gerüchte die Runde, und enthüllen ein mögliches Motiv. Die Schwester der Ermordeten war kurz zuvor gestorben. Es soll Streit um das Erbe gegeben haben, weil die Tochter – nicht wie erwartet - das Haus ihrer Tante geerbt hat, sondern diese kurz vor ihrem Tod ihr Testament noch einmal geändert hat. Das soll Martina H. ihrer Tochter zum Vorwurf gemacht haben. Überhaupt sei das Verhältnis von Mutter und Tochter nicht das beste gewesen. Martina H. sei zu fordernd gewesen, habe sich ständig in das Leben der Tochter eingemischt, die Lehrerin unter Druck gesetzt, sie noch häufiger zu besuchen, und sie habe kein gutes Haar am Verlobten der 54-Jährigen gelassen.
Simone S. bestreitet in den Vernehmungen, irgendetwas mit dem Mord an ihrer Mutter zu tun zu haben. Sie habe tief und fest im ersten Stock des Hauses geschlafen. Allerdings habe sie am Abend eine Hintertür zum Garten offen gelassen, als sie den Müll herausgebracht habe. Über diese Tür müsse irgendwann in der Nacht der Mörder eingedrungen sein. Aus dem Gefängnis heraus schreibt die Lehrerin Briefe an Freunde und Bekannte, in denen sie beteuert: „Meine Mutti war mir die liebste Person. Sie war meine beste Freundin. Wir haben uns so gut verstanden.“ Und sie kritisiert die Arbeit der Polizei. Sie schreibt auch von Spuren, denen nicht nachgegangen werde, und von einem Mörder, der noch frei herumläuft.
Schwierige Familienverhältnisse kommen im Prozess zur Sprache
Die Ermittler finden keine handfesten Beweise, wie beispielsweise DNA-Spuren an der Tatwaffe, die Simone S. direkt mit dem Verbrechen in Verbindung bringen, doch auch keine, die auf einen anderen Täter hindeuten. Alle Indizien deuten in eine Richtung. Simone S. wird wegen Mordes aus Heimtücke angeklagt. Ein Jahr nach dem Verbrechen beginnt der Prozess am Landgericht Würzburg. Es ist ein Mammutverfahren. 36 Verhandlungstage in sieben Monaten, 63 Zeugen und zahlreiche Aktenordner. Im Prozess wird die jetzt 55-Jährige von Kollegen und ihrer Nichte als hilfsbereite, freundliche Person beschrieben. Doch auch das gespaltene Verhältnis zwischen Mutter und Tochter kommt immer wieder zur Sprache.
In Briefen hat Simone S. sich mehrfach über die Mutter ausgelassen, geschildert, dass ihr die Besuche gelegentlich lästig wurden, dass das Weihnachtsfest wegen der Mutter der „totale Horror“ gewesen sei, weil sie sich einfach nicht mit ihrem Lebensgefährten verstehen wollte. Die viele Zeit, die sie bei der Mutter verbringen müsse, sei für sie die Hölle, vertraut sie einmal einer Putzfrau an ihrer Schule an. Auch kommen schwierige Familienverhältnisse zur Sprache. Der Vater hat sich einer Geschlechtsumwandlung unterzogen, als die Lehrerin gerade 18 Jahre alt war. Zu ihm hat sie seither keinen Kontakt mehr. Auch über ihre gescheiterte Ehe mit einem Polizisten kommen Details ans Licht. Es wird viel über Simone S. geredet, sie selbst schweigt. Nur zu Beginn des Prozesses beteuert sie erneut ihre Unschuld. Die Lehrerin hat in der Haft stark abgenommen, ist von Kleidergröße 42 auf 36 abgemagert, sie wirkt blass und angespannt.
Die Verurteilte und ihre Anwälte legen Revision ein
Ihr Verlobter sitzt mit einem selbst gebastelten rosafarbenen Herzen aus Pappe am Revers, auf dem „Ich liebe dich“ steht, im Zuschauerraum, als der Staatsanwalt sein Plädoyer hält und lebenslange Haft fordert. Das Gericht folgt seinem Antrag. Es ist überzeugt davon, dass es an jenem verhängnisvollen Abend zum Streit zwischen den beiden Frauen kam, dass Simone S. anschließend versucht habe, ihren Verlobten telefonisch zu erreichen. Als dieser nicht ans Telefon ging, habe sie ihrem Ärger keine Luft machen können. Die Wut über die Mutter habe sich aufgestaut, sodass sie nachts aus dem ersten Stock in die Wohnküche geschlichen sei und ihre Mutter, die arglos auf dem Sofa schlief, niedergestochen habe. Die Umstände deuten auf eine Beziehungstat hin, Indiz dafür sei auch die Vielzahl der Stiche. Anhaltspunkte auf einen anderen Täter gebe es nicht. „Sie wissen, dass Sie Ihre Mutter eine Woche vor ihrem 80. Geburtstag bestialisch abgestochen haben“, wendet sich der Richter direkt an Simone S. Die schüttelt nur heftig den Kopf.
Die Verurteilte und ihre Anwälte wollen einen neuen Prozess und legen Revision beim Bundesgerichtshof ein. Diese wird im September 2004, fast zwei Jahre nach dem Mord, abgewiesen. Auch eine Verfassungsbeschwerde bleibt erfolglos. Trotz des Urteils halten Freunde und ihr Verlobter fest zu Simone S. 2007 wird der Fall für die RTL-Reihe „Unschuldig hinter Gittern“ noch einmal aufgerollt. Diplom-Biologe Dr. Mark Benecke, anerkannter Kriminaler und häufiger Gast-Experte in Sendungen wie „Autopsie - Mysteriöse Todesfälle“, kommt nach Arnstein. Mit einer Gruppe Studenten, zehn Litern Tierblut und sechs Kilo Schweinerippen im Gepäck stellt er den Mord an Martina H. nach und kommt zu dem Schluss: „Es gibt weder Beweise für noch gegen Simone S.“
Ein zweiter Kriminaler legt sich Ende 2015 deutlicher fest, was den Tathergang anbelangt. Über zehn Jahre nach der Tat engagieren Unterstützer von Simone S. mit Axel Petermann, einen der bekanntesten Profiler Deutschlands, damit er sich den Fall noch einmal ansieht. Petermann arbeitete fast 40 Jahre lang bei der Bremer Kriminalpolizei und war dort Leiter der Mordkommission. Seit seiner Pensionierung rollt er Fälle neu auf, die seit Jahrzehnten ungelöst sind. Oder Fälle, in denen Täter im Gefängnis sitzen und ihre Unschuld beteuern – so wie Simone S. Um das Verbrechen möglichst exakt nachstellen zu können, fährt Petermann nach Arnstein, dort erhält er Zugang zum Haus von Martina H. und ist überrascht.
Axel Petermann präpariert eine Puppe mit den Kleidern der Toten
Der Tatort ist nach all der Zeit noch fast völlig unverändert, selbst die alte Fernsehzeitung liegt noch auf dem Tisch. „Das war, als wäre die Zeit stehen geblieben“, erinnert sich der Kriminaler im Gespräch mit dieser Redaktion. Sogar die Kleidung des Opfers ist erhalten. Das kommt Petermanns Methode, in den Kopf des Täters zu schlüpfen, nachzustellen, wie sich die Tat zugetragen haben könnte, entgegen. Zwei Tage verbringt der Ermittler in Arnstein. Er präpariert eine Puppe mit dem schwarzen Mieder und dem durch Stiche zerfetzten T-Shirt des Opfers und legt diese auf die durchgesessene alte Couch, die mit den längst getrockneten Blutflecken und den tiefen Einstichen in der Lehne stummer Zeuge der Tat ist. Er stellt den Weg nach, den der Täter genommen haben muss.
Das Haus ist klein und verwinkelt, überall steht Nippes herum, und das Sofa, auf dem Martina H. schlief, ist für einen Eindringling kaum zu sehen. Ein Fremder hat es schwer, sich hier zurechtzufinden, glaubt Petermann. Und noch etwas verwundert den Ermittler. „Das Opfer war bis obenhin zugedeckt. Würde man seine Mutter so finden, würde man sie doch schütteln oder aufdecken, um zu überprüfen, was mit ihr los ist.“
Warum an der Tatwaffe keine DNA von Simone S. gefunden wurde, erklärt Petermann so: Es muss nicht automatisch zum Übertragen von DNA kommen, der Täter kann zum Beispiel Handschuhe getragen haben. Auch dass sich keine Blutspritzer an der Kleidung der Lehrerin befanden, entlastet Simone S. aus der Sicht des erfahrenen Profilers nicht: Ihre Mutter wurde ja durch eine Decke hindurch erstochen. Überhaupt deute die Wut und die Aggression, mit der die Stiche ausgeführt wurden, darauf hin, dass Emotionen bei der Tat eine große Rolle gespielt haben. „Das war ein Übertöten.“ Petermann kommt zu einem Schluss: „Das Urteil des Gerichts dürfte schon richtig gewesen sein.“ Das teilt er auch den Unterstützern von Simone S. mit. Dennoch ist der Fall für ihn noch nicht ganz abgeschlossen: Er würde die Frau, die noch immer für den Mord an ihrer Mutter im Gefängnis sitzt, bei Gelegenheit gerne einmal in der Haft besuchen, und sie mit den Ergebnissen seiner Analyse konfrontieren. Denn Simone S. hat immer wieder ihre Unschuld beteuert.
Wenn ich dieser Mörder, ähm sorry, dieser Ermittler wäre, würd ich das ja ändern lassen wollen.
Und ich dachte immer: „im Zweifel für den/die Angeklagte/n.“