Was eine Auswanderer-Familie aus dem kleinen Dorf Moos zwischen 1924 und 1930 an weiten Reisen absolviert hat, verlangt auch dem heutigen Betrachter, der an große Entfernungen gewöhnt ist, Respekt ab: Zuerst fuhren die Eltern Nikolaus und Elsbeth Langmandel im August 1924 mit vier Kindern per Bahn nach Bremen, wo sie das Auswandererschiff Crefeld bestiegen. Nach dreieinhalb Wochen und 12.000 Kilometern kamen sie in der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires an, nur um mit dem Zug ein weiteres Ziel in 930 Kilometern Entfernung anzusteuern, die landwirtschaftliche Siedlung Monte Comán.
Doch anstelle hier den in einer Werbebroschüre versprochenen raschen Wohlstand als landwirtschaftliche Pioniere zu finden, wurde die Familie, zu der sich in Monte Comán drei weitere Kinder gesellten, in der nahe der Andenkette liegenden Ansiedlung von Wassermangel und Erdbeben geplagt. Daher beschlossen die Eltern nach sechs Jahren, anderswo erneut ihr Glück zu versuchen.
Sie verkauften ihr Land und erwarben welches in der Kolonie Villa Paranacito, die wesentlich näher an Buenos Aires liegt. Paranacito, gegründet 1906, breitet sich auf einer der vielen Ibicuy-Inseln im Delta des Flusses Paraná aus, der in den Rio de la Plata fließt. Hier setzte sich das Wachstum der Familie fort; 1932 kam Rita zur Welt, 1934 als neuntes und letztes Kind José.
Nachkommin besucht Moos, den Heimatort ihrer Familie
Josés 1967 geborene Tochter Analia Langmandel, eine Grafikdesignerin aus Buenos Aires, hat die abenteuerliche Geschichte ihrer Großeltern rekonstruiert. Am 12. Februar wird sie mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern in Moos empfangen. Noch nie waren seit 1924 Nachkommen der Emigranten in dem Ort, der heute zu Geroldshausen gehört.
"Als mein Vater José 2022 starb, wurde mir klar, dass er das letzte der neun Kinder von Nikolaus und Elsbeth war", sagt Analia Langmandel. "Mit ihm gingen viele Erinnerungen und Fakten, die meine Großeltern ihren Kindern und uns Enkeln nie erzählt hatten." Sie begann, Informationen über das Leben der Vorfahren zu sammeln, um, wie sie sagt. "die Familie zu retten, eine Kontinuität zu schaffen zwischen denen, die früher da waren und denen, die heute hier sind".
In Paranacito gab es 1930 einen viel größeren Anteil deutscher und österreichischer Einwanderer als in Monte Comán, was mit zur Umzugsentscheidung beigetragen haben mag. Ein deutschsprachiges Umfeld war wichtig, denn Elsbeth Langmandel weigerte sich bis zu ihrem Tod 1981, Spanisch zu lernen. In der Familie sprach man daher deutsch.
Als die Langmandels 1930 mit zunächst sieben Kindern in Paranacito sesshaft wurden, war die Siedlung nur mit Booten auf dem Wasserweg erreichbar. Erst sieben Jahre später erfolgte der Anschluss ans Straßennetz; elektrischen Strom gab es sogar erst ab 1971. Der Umzug war nach Ansicht von Analia Langmandel ein Fehler, "da die Ibicuy-Inseln ständig überschwemmt sind und die Nähe zu Buenos Aires nicht so vorteilhaft war wie es scheinen mochte".
Unerwartet starb der Vater
In Paranacito errichteten die Einwanderer aus Moos mit eigenen Händen ein Haus, dessen Wohnräume so hoch lagen, dass man in ihnen auch eine der häufigen Überschwemmungen überstehen konnte. Dahinter befand sich ein ausgedehnter Garten, in dem die Langmandels verschiedene Obstsorten und Gemüse anbauten; sie hatten auch Schweine und einen Hühnerstall. Die Familie lebte von der Bewirtschaftung dieses Gartens.
Dann geschah das Unerwartete: Der Vater starb am 10. Oktober 1934 im Alter von erst 43 Jahren im Garten hinter dem Haus, wahrscheinlich bei der Arbeit; der im April zuvor geborene José erlebte ihn nie. Später erfuhr Nikolaus‘ Enkelin Analia, dass er verblutet war, nachdem ein Leistenbruch platzte. Nikolaus Langmandel, Emigrant aus dem unterfränkischen Dorf Moos, wurde auf dem deutschen Friedhof in Buenos Aires beigesetzt.
Nikolaus und seine Frau Elsbeth hatten nur zehn gemeinsame Jahre in Argentinien gehabt, in denen sie daran arbeiteten, sich zunächst in Monte Comán und dann in Villa Paranacito zu etablieren. "Es müssen keine einfachen Jahre gewesen sein", sagt Analia Langmandel. "Sie mussten sich an ein neues Land, eine neue Sprache, eine neue Kultur, einen neuen Lebensstil anpassen und das Land produktiv machen."
Sie glaubt allerdings, dass dies "viel einfacher gewesen sein muss, als den Ersten Weltkrieg zu überstehen, den sie in Europa durchgemacht hatten, und danach die politisch-wirtschaftlichen Entwicklungen und das Trauma der Nachkriegszeit". Die Auswanderung habe auch verhindert, dass die Söhne des Ehepaars zur deutschen Wehrmacht einberufen wurden und im Zweiten Weltkrieg kämpften.
Elsbeth Langmandel musste neun Kinder erziehen und ernähren
Elsbeth Langmandel, die nie wieder heiratete, war nun Witwe. Sie hatte neun Kinder zwischen 17 Jahren und sechs Monaten zu erziehen und zu ernähren. "Dies muss eine sehr große Herausforderung für eine Frau gewesen sein, die kein Spanisch sprach", meint Analia Langmandel, "auch wenn sie sich sicherlich auf die lokale deutsche Gemeinschaft und offensichtlich auch auf die Kirche verlassen konnte". Die wirtschaftlichen Bedingungen waren schwierig, da der Garten, in dem die Kinder entsprechend ihren Möglichkeiten mitarbeiteten, ihre einzige Existenzgrundlage darstellte.
Nicht weniger schwierig war freilich zu dieser Zeit die Situation im nationalsozialistisch gewordenen Deutschland, das noch unter den Folgen der Weltwirtschaftskrise litt. Unter anderem wohl deshalb erfolgte keine Rückkehr ins Land der Vorfahren.
José, der jüngste Sohn von Elsbeth und Nikolaus, konnte mit Hilfe einer Stiftung ein Internat der Salesianer Don Boscos besuchen, wo er in der ersten Klasse endlich Spanisch lernte. Auch die anderen Kinder des Ehepaars brauchten, sobald sie Paranacito verließen, die spanische Sprache.
Die Töchter Rita und Cecilia wurden Krankenschwestern; ihr Bruder, der 1921 in Moos geborene Hermann, beging im Alter von 23 Jahren Selbstmord, indem er aus dem Fenster des deutschen Krankenhauses in Buenos Aires sprang, weil er hörte, dass er Krebs hatte.
José besuchte anschließend eine technische Schule und heiratete 1962 Emilse Lovisi, die Tochter eines italienischen Einwanderers aus Neapel und einer Argentinierin. Dies war keine uneingeschränkt freudige Angelegenheit, denn Josés Mutter Elsbeth war strikt dagegen, dass ihre Kinder mit Menschen außerhalb der deutschen Gemeinschaft die Ehe schlossen und nahm deshalb auch nicht an der Hochzeit teil.
Josés und Emilses Tochter Analia wiederum heiratete 1997 den Elektroingenieur Fabio Bustos, mit dem sie von 1998 bis 2000 in München wohnte, wo ihr bei Siemens in Buenos Aires angestellter Mann eine Weiterbildung absolvierte. Elsbeth Langmandel lebte bis zu ihrem Tod 1981 bei ihrer Tochter Maria Magdalena in der Nähe von Buenos Aires. Sie war eine ernste Frau. "Ich kann mich nicht erinnern, sie jemals lächeln gesehen zu haben", sagt Analia Langmandel.
Der Hof mit der Hausnummer 4 in Moos bleib lange im Besitz von Nikolaus' jüngstem Bruder Hermann. Später übernahmen ihn eine von Hermanns Töchtern und deren Mann; inzwischen ist er längst in andere Hände übergegangen. Eines der beiden Wohnhäuser steht weiterhin direkt an der Würzburger Straße, das andere, in dem der Auswanderer Nikolaus Langmandel zur Welt kam, wurde in den 1960er Jahren abgerissen.