Keine Fotos“, knurrt der Security-Mann (schwarzes T-Shirt, schwarze Hose) am Eingang der Rio-Bar in der Bohdana Chmelnyzkoho-Straße in Kiew. Er steht am hellen Nachmittag nicht vor irgendeinem Haus. Das sechsstöckige Jugendstilgebäude aus gelbem Klinker mit den eleganten schmiedeeisernen Balkongeländern gehört den Boxweltmeistern Vitali und Wladimir Klitschko und beide wohnen auch hier, erzählt man sich in der deutschen Botschaft, die direkt gegenüber liegt.
Später stellt sich heraus, dass die Klitschkos lediglich die Sanierung des Prachtbaus finanziert haben und wohl auch nur einer der Brüder lebt darin. Klar ist immerhin, dass die beiden promovierten Sportwissenschaftler sich für die ukrainische Opposition und für weltweite Kinderhilfsprojekte engagieren. Zweimal hat Vitali für den Bürgermeisterposten in Kiew kandidiert, derzeit bewirbt er sich um einen Sitz im ukrainischen Parlament. Er ist Vorsitzender der „Ukrainischen demokratischen Allianz für Reformen“. Die Abkürzung „UDAR“ bedeutet auf Ukrainisch „Schlag“ – kein schlechter Name für eine Partei, der ein Boxer vorsteht.
Mehr von Roland Flades Reise:
Die deutsche Botschaft ist ein vierstöckiger Zweckbau, der im Innern, wenn der Besucher die Sicherheitsschleuse überwunden hat, mit seinem hellen Lichthof eine gewisse Eleganz ausstrahlt. Gehen die Klitschkos hier ein und aus? Michael Freudenberg, Leiter des Wirtschaftsreferats, lächelt. „Sie kommen, wenn der Botschafter sie einlädt und wenn sie Zeit haben.“
Draußen auf der Straße fahren schwere Luxuslimousinen und Geländewagen vorbei, viele mit deutschen Markenemblemen, die Lieblingsautor auch von Oligarchen und Mafiosi. Das Gespräch mit dem Botschaftsrat wendet sich wie von selbst dem Thema Korruption und organisiertes Verbrechen zu. Freudenberg berichtet von Firmenvertretern, die unliebsame Erfahrungen mit „Raidern“ gemacht haben, mit Mafialeuten, die sich in ihren Betrieben festsetzen und sie unter ihre Kontrolle bringen.
Die Hoffnung auf ein Eingreifen der Behörden ist wenig ausgeprägt. Viele Beamte sind käuflich, Freudenberg: „Ohne Schmierstoff funktioniert hier nichts richtig.“ Auch von den Ukrainern glauben nur elf Prozent, dass es in ihrem Land ein Justizsystem gibt, das ihre Rechte effektiv vertritt, schreibt das englischsprachige, der Opposition nahestehende Kiewer Wochenblatt „Kyiv Weekly“. Kein Wunder, dass sich ausländische Investoren zurückhalten.
In der Politik ist es nicht viel besser. Rinat Achmetow, der reichste Mann der Ukraine, gilt als Hauptfinanzier der „Partei der Regionen“ des umstrittenen Staatspräsidenten Viktor Janukowitsch. „Geld schafft Einflussmöglichkeiten“, sagt auch die Kiewerin Tatjana Kuzmenko, Dolmetscherin und in Mai Begleiterin einer Delegation des bayerischen Arbeiter-Samariter-Bundes (ASB) bei einer Reise durch die Ukraine.
Die Gruppe um ASB-Geschäftsführer Thomas Klüpfel aus Würzburg hat das Wirken der „Raider“ indirekt zu spüren bekommen. Maskierte mit Knüppeln und Schilden stürmten das ursprünglich gebuchte Hotel und brachten es unter die Kontrolle eines für Auftragsmorde berüchtigten Verbrechersyndikats.
Die Ausweich-Unterkunft erwies sich dann jedoch als ausgezeichnete Wahl: Von vielen Zimmerfenstern des Hotel Rus hat man einen perfekten Blick auf das von deutschen Architekten mit einem luftig schwebenden Stahldach versehene Olympiastadium, Heimat des bekanntesten Sportvereins der Ukraine, FC Dynamo Kiew. Hier findet am Sonntagabend das Endspiel der Fußballeuropameisterschaft statt.
Kiew mit seinen 2.800.000 Einwohnern ist seit 1991 Hauptstadt der unabhängigen Ukraine. Anderthalb Jahrtausende ist die Stadt alt, die wegen der vielen Kirchen und Klöster den Beinamen „Jerusalem des Ostens“ trägt. Überall reflektieren vergoldete Kuppeln der mit großem Aufwand restaurierten Kathedralen die Sonnenstrahlen. Der mächtige Dnjepr, der nach Süden dem Schwarzen Meer entgegenfließt, teilt die Stadt. Das historische Zentrum am westlichen Ufer liegt auf mehreren Hügeln; eine funktionierende Handbremse ist auf den stark abschüssigen Straßen lebenswichtig.
Am Prachtboulevard Kretschschatik demonstrieren ein paar Unentwegte in einem Zeltdorf für Julia Timoschenko, die Anführerin der orangen Revolution von 2004, die im 450 Kilometer entfernten Charkow inhaftiert ist, wo die Deutschen am 13. Juni Holland mit 2:1 Toren besiegten.
Nicht weit entfernt leuchten das 1954 errichtete erste Kiewer Hochhaus, genannt „Haus mit Stern“, sowie der Amtssitz von Präsident Janukowitsch und Regierungsgebäude in der Sonne, viele im Zuckerbäckerstil der Stalinzeit errichtet. Auch Tatjana Kuzmenkos Familie hat unter Stalin gelitten. Ihr Großvater war zehn Tage in deutscher Gefangenschaft und wurde, wie andere Angehörige seines Regiments, nach dem Krieg als Verräter verurteilt, weil er sich ergeben hatte. Viele Jahre verbrachte er im berüchtigten Gulag-Komplex Kolyma.
Und trotzdem sagt Tatjana: „Ich hatte keine unglückliche Kindheit. Die Sowjetunion war meine Heimat, jetzt habe ich praktisch keine mehr.“
Tatjanas Muttersprache ist Russisch – wie es bei einem Drittel der Ukrainer der Fall ist. Seit der Unabhängigkeit wird das Ukrainische gefördert. Das führt, wie die in Kiew geborene deutsche Piraten-Politikerin Marina Weisband beim Besuch in einer Kiewer Schule erlebte, zu widersprüchlichen Ergebnissen: „An der Schule wird nur Ukrainisch gesprochen, Russisch wird nicht einmal mehr gelehrt. Nach dem Gong gehen die Erwachsenen hinaus. Sie unterhalten sich untereinander plötzlich auf Russisch. Als sie aus der Klasse heraus sind, steigen auch alle Kinder auf Russisch um.“
Vom Olympiastadion sind es nur 20 Gehminuten zum Unabhängigkeitsplatz (Maidan), wo vor acht Jahren die Ukrainer mit Julia Timoschenko an der Spitze den Aufstand probten gegen den kurz danach aus dem Amt gejagten Viktor Janukowitsch. Heute dominiert eine gigantische Reklamewand für amerikanisches Budweiser-Bier den Platz. Budweiser nutzt die EM zum Verkaufsstart in der Ukraine.
Die Hoffnungen von damals sind grenzenloser Desillusionierung gewichen. „Von der orangen Revolution sind nur Enttäuschung und Frust geblieben“, sagt Tatjana Kuzmenko. „Nichts von dem, was versprochen wurde, ist in Erfüllung gegangen. Alles ist an den politischen Kämpfen gescheitert.“ Wahrscheinlich auch ein Grund dafür, dass Julia Timoschenko, die Janukowitsch für einige Jahre ablöste, im Westen populärer ist als in der Ukraine selbst.
Die internationale Aufwertung und politische Öffnung, die sich viele Ukrainer von der EM erwartet haben, ist jedenfalls nicht eingetreten. Die Folge ist Apathie. „Die Menschen sind müde geworden, sich zu empören“, schrieb Marina Weisband in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, als sie im Mai die Stadt besuchte. Und: „Die BMW-Fahrer und die Fußgänger leben aneinander vorbei, ohne sich je zu begegnen.“
Wie in vielen Staaten der ehemaligen UdSSR haben sich die sozialen Gegensätze in den letzten Jahren verschärft. Die ASB-Delegation aus Bayern hört frustrierende Nachrichten: Ein Drittel der ukrainischen Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze. 2009 gab es noch zwölf Pflegeteams der aus Bayern unterstützten Samariter in Kiew, die über 300 bedürftige ehemalige Zwangsarbeiter und Kriegsveteranen betreuten. Doch seit Staat und Stadt die Zahlungen fast komplett eingestellt haben, ist nur noch Geld für zwei Teams da, die sich um 54 Menschen kümmern.
Das Kiewer Kinderkrankenhaus muss mit 40 bis 60 Cent pro Tag auskommen, um ein Kind auf der Intensivstation zu behandeln. In der Hauptstadt gibt es nur noch einen funktionsfähigen Baby-Notarztwagen. Der Internationale Währungsfonds hat die Absenkung der Renten gefordert; gleichzeitig hat die Janukowitsch-Regierung das gesetzliche Rentenalter heraufgesetzt. Für Männer liegt es jetzt bei 65 Jahren. Das wäre nicht weiter bemerkenswert, wenn nicht die durchschnittliche Lebenserwartung der ukrainischen Männer bei 62 Jahren läge.
Viele ukrainische Jugendliche verlieren die Geduld mit ihrem Staat. „Sie sehen keine Zukunft in diesem Land und wollen auswandern“, sagt Tatjana Kuzmenko. Die meisten gehen nach Kanada, wo es bereits eine 1,3 Millionen Menschen starke ukrainische Gemeinde gibt und die Integration leicht fällt.
Wer mit dem Zug in die Ukraine reist, muss an der Grenze drei Stunden warten, weil die Eisenbahnwaggons neue Fahrgestelle für die breiteren ukrainischen (und russischen) Gleise erhalten. Fluggäste, die die modernen neuen Abfertigungshallen in Kiew oder Charkow passieren, merken davon nichts. Aber die unterschiedliche Spurweite ist ein Symbol für die Kluft, die immer noch zwischen der Ukraine und Westeuropa klafft.
Die Europameisterschaft hat sie, zum Leidwesen vieler Ukrainer, nicht kleiner werden lassen.