Die vorsintflutlichen Straßenbahnen, die durch die Straßen rumpeln, haben bessere Zeiten gesehen. Die Farbe blättert ab, und von Niederflurwagen hat man in Charkow, der ostukrainischen Industrie- und Universitätsstadt, noch nichts gehört. Doch dann fallen moderne Busse auf – und vor allem die unzähligen jungen Menschen, von denen viele das T-Shirt tragen, das sie als freiwillige Helfer bei den drei EM-Vorrundenspielen ausweist, die hier stattfinden.
An diesem Mittwoch trifft das deutsche Team im 1926 errichteten und für rund 44 Millionen Euro ausgebauten Stadion von Metalist Charkiw auf die Holländer – ein geschichtsträchtiger Klassiker in einer Stadt, die ihre eigene Geschichte hat.
Das fängt schon beim Namen an. „Charkow“ ist russisch, und diese Sprache sprechen in der zweitgrößten Stadt der Ukraine die meisten der 1 460 000 Einwohner noch immer. „Charkiw“ ist ukrainisch; die Landessprache ist seit dem Zerfall der Sowjetunion und der Unabhängigkeit langsam auf dem Vormarsch, allerdings nicht so schnell wie im Westen des Landes, wo die Hauptstadt Kiew liegt.
Deutsche haben Charkow mitgeprägt, im Guten wie im Schlechten. Als 1805 die Universität gegründet wurde, kamen 28 Professoren und Dozenten aus deutschen Landen. Im Oktober 1941 marschierte Hitlers Wehrmacht ein und eine mehrjährige Leidenszeit begann. Im Mai 1942 scheiterte ein sowjetischer Rückeroberungsversuch; im Februar 1943 waren sowjetische Truppen dann doch erfolgreich, nur um einen Monat später wieder vertrieben zu werden. Jede Schlacht ging mit schweren Kämpfen und großen Zerstörungen einher. Erst im August 1943 wurde Charkow endgültig befreit.
Heute sind Deutsche in Charkow vor allem auf sozialem Gebiet aktiv. Einer von ihnen ist der 19-jährige Marian Blok aus Köln, der im Rahmen der Aktion Sühnezeichen alte Menschen betreut. So wie die 84-jährige ehemalige Zwangsarbeiterin Nadeschda Wassilewskaja, die in der Ukraine als Deutschlehrerin arbeitete; im Gegenzug bringt sie ihm Russisch bei. Mit 14 Jahren wurde Nadeschda Wassilewskaja im Herbst 1942 aus ihrem Dorf auf der Krim nach Deutschland verschleppt, wo sie in Zwölf-Stunden-Schichten Teile für landwirtschaftliche Maschinen herstellen musste: „Sechs Tage fuhren wir in einem Güterwagen, meistens in der Nacht, wenn die Gleise frei waren“, erinnert sie sich. „Wir litten unter Kälte, Hunger und Schmutz.“ Als Folge eines Gehirnschlags braucht sie jetzt Hilfe. Ein Gespräch leitet sie mit den Worten „Ich liebe die deutsche Sprache“ ein. Trotz allem. Denn sie hat auch Menschen guten Willens in Deutschland getroffen.
Charkow ist eine internationale Studentenstadt; Tausende junger Ausländer, vor allem aus Asien, Afrika und Südamerika, haben sich an den Universitäten und der Technischen Hochschule eingeschrieben. Marian Blok: „Das Studium ist hier günstig; die Kurse finden auf Englisch statt oder werden übersetzt.“
Marians ukrainische Altersgenossen fieberten der Europameisterschaft entgegen, hat der 19-Jährige beobachtet; sie sind allerdings nicht sonderlich gut darüber informiert, wie umstritten die EM in Westeuropa ist.
Die 25-jährige Sozialarbeiterin Julia Dolgaya nahm an einem Kurs teil, in dem junge Charkower als Ersthelfer für die Fußballspiele ausgebildet wurden. „Die EM ist eine tolle Sache“, sagt sie. „Wir sind sehr stolz, denn wir haben die Chance, unsere Stadt von ihrer besten Seite zu zeigen.“ Weit mehr Jugendliche als benötigt hatten sich für die Kurse angemeldet – und das sicher nicht nur wegen der begehrten T-Shirts.
Julias Ausbilderin Nataliya Shevchenko (30) arbeitet für den ukrainischen Ableger des bayerischen Arbeiter-Samariter-Bundes (ASB). Die gelernte Krankenschwester ist Mitglied eines ASB-Pflegeteams und kümmert sich unter anderem um frühere NS-Zwangsarbeiter.
Charkow hat für seine Bemühungen um den europäischen Integrationsgedanken als erste Stadt der Ukraine den Europapreis des Europarats erhielt. Junge Menschen wie Julia und Nataliya wollen sich dem Westen annähern. Doch ein fertig ausgehandeltes Assoziierungsabkommen mit der EU liegt wegen des brutalen Umgangs der Herrschenden mit Julia Timoschenko und anderen ehemaligen Regierungsmitgliedern auf Eis.
Auf dem internationalen Flughafen sind Vergangenheit und Zukunft zu sehen. Neben dem winzigen alten Abfertigungsgebäude im Zuckerbäckerstil mit Türmchen samt Hammer und Sichel erhebt sich eine riesige neue Halle aus Stahl und Glas. Auf dem frisch betonierten Rollfeld verlieren sich wenige Maschinen einer ukrainischen Inlandsgesellschaft.
Marian Blok, und nicht nur er, fragt sich, ob die gigantischen Summen, die für die Infrastruktur dreier EM-Spiele in Charkow flossen, sinnvoll angelegt sind, vor allem da sie dringend benötigten Sozialprojekten entzogen wurden. „Charkow hat keine touristische Perspektive“, sagt er. „Wofür braucht man dann einen internationalen Flughafen sowie mehrere Vier-Sterne-Hotels?“