Die zierliche blonde Frau mit den großen dunklen Augen, neben der ich in einem kleinen Café des Kiewer Flughafens sitze, ist ein Medienstar. Gerade hat „Gala“ über ihre kurze Ehe mit einem elf Jahre älteren britischen Rockmusiker und ihre jetzige vermutete Liaison mit einem ukrainischen Unternehmer berichtet. Doch die 32-jährige Jewgenija Timoschenko steht in der Society-Postille und anderen Medien weltweit nicht wegen ihres Privatlebens im Mittelpunkt, sondern weil sie den Kampf für ihre Mutter aufgenommen hat, die kranke, zu sieben Jahren Haft verurteilte ehemalige ukrainische Ministerpräsidentin Julia Timoschenko.
Ich habe Jewgenija Timoschenko am Mittwoch zufällig im Flugzeug getroffen, das von Charkow nach Kiew unterwegs war. In der ostukrainischen Universitäts- und Industriestadt hatte sie ihre Mutter im Krankenhaus besucht. Danach berichtete sie vom starken psychischen Druck, der auf Julia Timoschenko lastet, unter anderem weil private Informationen an die Öffentlichkeit lanciert wurden und sie pausenlos mit mehreren Videokameras überwacht wird (siehe Interview).
Ich war in Charkow als Mitglied einer Delegation des Arbeiter-Samariter-Bundes (ASB), dessen ukrainischer Ableger sich mit finanzieller Unterstützung des bayerischen ASB um hilfsbedürftige Menschen kümmert. Darunter sind viele, die während des Zweiten Weltkriegs als Zwangsarbeiter nach Deutschland verschleppt wurden.
Wir hatten in Charkow auch die Strafkolonie 54 gesehen, in der rund 1200 weibliche Häftlinge Arbeitskleidung nähen und in der Julia Timoschenko bisher inhaftiert war. Am Eingang steht ein großes Werbeschild, das, wie mir unsere Übersetzerin erläuterte, die hervorragende Qualität der Textilien anpreist. Hier soll die Ex-Regierungschefin weitere sechs Jahre einsitzen.
Ohne Zögern stimmt ihre Tochter Jewgenija im Antonow-Jet einem Interview zu. Nach der Landung tippt sie zunächst einige Nachrichten in ihr Blackberry-Handy, das verschlüsselte Nachrichten übermittelt. Dann verabschiedet sie sich von einer siebenköpfigen Delegation kanadischer Parlamentarier, die einen Bericht über Menschenrechtsverletzungen in der Ukraine verfassen; der Fall Timoschenko spielt die wichtigste Rolle, sagt der Abgeordnete Ralph Goodale im Bus, der uns vom Rollfeld zum Terminal bringt. Das Interesse der Kanadier ist auch darin begründet, dass 1,3 Millionen Menschen mit ukrainischen Wurzeln in diesem Land leben.
Die 32-Jährige Jewgenija, die ein englisches Internat besuchte und Politikwissenschaft und Philosophie an der London School of Economics studierte, hat ihre Haare neuerdings blond gefärbt und trägt sie ganz so wie ihre Mutter, was die große Ähnlichkeit unterstreicht. Eine Perlenkette im Haar erinnert an Julia Timoschenkos Zopf – und soll das wohl auch. Man kann die Aktivitäten Jewgenijas als geschickte PR-Aktion für eine Oligarchin sehen, die selbst Dreck am Stecken hat. Unbestritten ist aber, dass die derzeitige ukrainische Regierung einen Feldzug gegen ihre Vorgänger organisiert.
In den 90er Jahren herrschte in der Ukraine, wie in anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion, in Politik und Wirtschaft Wildweststimmung, inklusive Mord und Totschlag. Auch um den Aufstieg Julia Timoschenkos zur steinreichen Unternehmerin ranken sich allerlei Legenden. Dass ihr allerdings ein von ihr als Regierungschefin mit Russland ausgehandelter ungünstiger Gasliefervertrag sieben Jahre Haft eingebracht hat, ist nach übereinstimmender Ansicht von Experten eindeutig Rechtsbrechung. EU und Europarat sprachen von einem „politisch motivierten Urteil“.
Am Tag zuvor habe ich in der Drei-Millionen-Einwohner-Metropole Kiew das Protestlager der Timoschenko-Anhänger besucht. In Zelten und an Plakatwänden informieren und agitieren sie seit Monaten für jene Frau, die sie wie eine Heilige verehren und gegen jene Mann, der sie mit Hilfe der ihm hörigen Justiz in die Strafkolonie 54 gebracht hat: Staatspräsident Viktor Janukowitsch.
Mitten in Kiew hängt hier in der Kreschtschatikstraße in der Nähe des Unabhängigkeitsplatzes, wo 2004 die Orangene Revolution begann, ein Janukowitsch-Kopf an einem Galgen. Ein blutverschmierter Schlägertyp aus Pappmaché, der Justitia verkörpern soll, steht daneben, mit Handschellen und einem Schlagstock in den Händen.
Ich staune über die Möglichkeiten freier Meinungsäußerung, erfahre aber bei anderen Gelegenheiten auch von deren Grenzen. Regimekritische Journalisten werden bedroht, steht in einer Zeitung; ein Arzt, der ein staatliches Sanatorium leitet, lässt sich auf die Frage nach seiner Einschätzung der Lage lediglich unverdächtige Worte entlocken: „Die Politiker machen ihre Politik und wir leben unser Leben.“ Klar, er ist im Interesse seiner Patienten auf ein gutes Verhältnis zu den Machthabern angewiesen.
Ein Plakat im Timoschenko-Camp zeigt die Vision einer erhofften besseren Zukunft. Engelsgleich schwebt die 51-Jährige in einem bunten Ballon nach oben. Ihr Gegner Janukowitsch hängt außen als Ballast, fertig zum Abwurf. Tatsächlich ist denkbar, dass ein Bündnis der Oppositionsparteien bei der Parlamentswahl im Oktober die Mehrheit holt; dann wären die Möglichkeiten des Präsidenten eingeschränkt; auch seiner Wiederwahl im Jahr 2014 kann sich Janukowitsch nicht sicher sein, selbst wenn viele Menschen im Osten des Landes weiter hinter ihm stehen.
Michael Freudenberg, Leiter des Wirtschaftsreferats in der Deutschen Botschaft in Kiew, braucht im Gegensatz zum Sanatoriums-Chef kein Blatt vor den Mund zu nehmen. Er spricht von weitverbreiteter Korruption „auch ganz oben“ und einer käuflichen Justizverwaltung. Politisch sieht er „kein Licht am Ende des Tunnels“, denn „für Veränderungen müssten Julia Timoschenko und andere Minister ihrer ehemaligen Regierung freikommen“. Dafür sei jedoch der Hass der gegenwärtig Regierenden zu groß. Allerdings ist nach Ansicht des Botschaftsrats die Ukraine immer noch demokratischer als Russland oder Weißrussland.
Im eleganten Besprechungszimmer mit Drucken expressionistischer Maler an der Wand zeigt er Verständnis für die Frustration vieler Ukrainer beider Lager. Denn: „Auch Julia Timoschenko hat ihre Vorhaben nicht umgesetzt.“ Mitglieder der Botschaft haben sich dafür engagiert, dass deutsche Medikamente für die Ex-Regierungschefin schnell den Zoll passieren konnten und waren auch bei Besuchen deutscher Ärzte von der Berliner Charité anwesend. Zu ukrainischen Ärzten und zu ukrainischer Medizin hat Timoschenko kein Vertrauen.
Wegen der Veröffentlichung ihres Therapieplans und permanenter Videoüberwachung hat sie kürzlich die Behandlung ihres Rückenleidens zeitweise abgebrochen.
Nicht weit vom Straflager entfernt liegt das Fußballstadion, in dem am 13. Juni die deutsche Nationalmannschaft auf Holland trifft. Deutsche Politiker werden wohl nicht unter den Zuschauern sein, aber es ist gut möglich, dass Viktor Janukowitsch kommt.
„Gemeinsam Geschichte machen“ lautet das Motto der Europameisterschaft. Als der Präsident des ukrainischen Fußballverbandes die EM in sein Land holte, hat er sich wohl nicht das unrühmliche Trauerspiel vorstellen können, das gerade in Kiew und Charkow abläuft.
Timoschenko-Interview im Video
Bei seinem Besuch in der Ukraine hat Redakteur Roland Flade in dieser Woche Stätten besucht, die mit der Inhaftierung der Oppositionspolitikerin Julia Timoschenko in Verbindung stehen. In Kiew war er mit der Videokamera im Demonstrations-Camp der Timoschenko-Anhänger unterwegs, in Charkow filmte er den Eingang zur Frauenstrafkolonie 54, in der die Ex-Ministerpräsidentin vor ihrer Verlegung in eine Klinik inhaftiert war. In seinem Video sind auch Ausschnitte aus dem englischsprachigen Interview zu sehen, das er mit Timoschenkos Tochter Jewgenija führte.