Als Heike B. die Tür zu dem Zimmer im ersten Stock ihres Würzburger Einfamilienhauses öffnet, erwarten einen dort sechs strahlende Kindergesichter. Doch schnell wird klar: Hier spielen keine echten Kleinkinder miteinander. Es sind lebensecht wirkende Puppen, die ordentlich aneinandergereiht im Raum verteilt sitzen. Die 60-jährige Heike B. hat ein ungewöhnliches Hobby: Sie sammelt sogenannte Reborn-Babys.
Der englische Begriff "Reborn" steht für "wiedergeboren". Die Puppen werden aus Bausätzen zusammengesteckt und individuell angefertigt. Ihr lebensechtes Aussehen bekommen sie, wenn die Herstellerin, eine sogenannte "Rebornerin", das Gesicht in detaillierter Handarbeit bemalt. Kleine Adern, rote Wagen und eingestochene Haare aus feiner Mohairwolle - die Puppen sind von echten Kindern auf den ersten Blick kaum zu unterscheiden. Gefertigt werden sie nach den Wünschen der Kundinnen und Kunden.
Die Enkelkinder dürfen mit den Puppen spielen
Die zierliche Rentnerin lebt gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten in einer ruhigen Würzburger Gegend. Sie erzählt von ihren zwei Kindern, vier Enkelkindern und vier Hunden - und dass ihre Familie und ihr Umfeld sie nie für ihr Hobby kritisiert hätten. "Meine Enkelkinder haben sogar viel Spaß daran, mit mir gemeinsam die Puppen zu frisieren und neue Kleider auszusuchen", sagt die 60-Jährige. Ihren vollständigen Namen möchte sie trotzdem lieber nicht nennen. Lediglich der Vater ihres Lebensgefährten betrachte ihr Hobby skeptisch: "Er findet die Puppen fürchterlich und sagt, das seien alles Leichen."
Aber nicht jeder reagiert so positiv auf die Reborn-Puppen wie die Familie der Würzburgerin. Viele Frauen wollen laut Heike B. nicht öffentlich über ihre Reborn-Babys sprechen, weil sie oft als verrückt abgestempelt würden. Das sei auch der Grund, warum einige aus der Community ihr von einem Interview abgeraten hätten, sagt sie. Doch die Rentnerin sieht das anders, für verwerflich hält sie ihre Leidenschaft nicht: "Jeder hat sein Hobby, der eine sammelt Spielzeugautos, der nächste Eisenbahnen und ich halt meine Puppen", sagt sie schulterzuckend.
Heike B: "Früher habe ich nie mit Puppen gespielt"
Früher sei sie von Puppen nicht begeistert gewesen, sagt Heike B.. Aber als die in Amerika entstandenen Reborn-Babys auch nach Deutschland kamen, habe sie - wie viele andere Frauen - ihre Liebe zu ihnen entdeckt. Das war vor rund zwei Jahren. Im Internet sei sie auf die lebensecht wirkenden Puppen gestoßen, erzählt Heike B.. "Sie haben mich sofort in ihren Bann gezogen."
Ihr gefalle, dass die Puppen ganz nach ihren Wünschen gestaltet werden: "Ich war von Anfang an dabei, vom Rohling bis zum ersten Haar, und konnte immer eingreifen." Das unterscheide die Reborn-Babys von anderen Puppen. "Sie sehen realistisch aus, sind keine Massenproduktion und jede hat ihren eigenen Charakter." Wie zum Beispiel Puppe Mila mit dem frechen Lachen, die B. liebevoll "Rotz-Göre" nennt.
Die Würzburgerin erlaubt sich auch mal einen Scherz mit den Puppen
Ihr erstes Reborn-Baby - ein schlafendes Neugeborenes - hat die 60-Jährige Azelea getauft. Rund 800 Euro hat sie für die Puppe bezahlt. "Ich hatte auch mal ein Baby aus Vollsilikon, aber das habe ich direkt verkauft", erklärt sie. "Zu schwabbelig" und zu lebensecht sei ihr das Ganze gewesen. Die Puppen aus Vinyl, die zwischen 600 bis 800 Euro kosten, seien ihr da doch lieber.
Für Heike B. sind die Puppen, was sie eben sind: Puppen. Die Rentnerin erlaubt sich mit ihnen auch gern mal den ein oder anderen Spaß. Einmal habe sie Gabriela, die dunkelhaarige Puppe im Kleinkindalter, an den Gartentisch gesetzt und ihr ein Glas Wein in die Hand gedrückt. "Dann habe ich ein Foto gemacht und meinem Mann geschrieben, dass wir jetzt einen trinken", erzählt sie schmunzelnd und gibt zu: "So einen Blödsinn mache ich dann schon mal."
Reborn-Babys - Ein Trend, der auch in Deutschland weiter wächst
Seit 2019 sind die Reborn-Puppen auch in Deutschland weit verbreitet und die Gemeinschaft wächst weiter an. Auf Facebook findet man unzählige Gruppen, in denen sich Frauen über ihre Leidenschaft austauschen oder Zubehör und Puppen verkaufen. Dort trifft Heike B. auch immer wieder auf Frauen, für die die Reborn-Babys mehr als nur ein Hobby sind. "Für manche ist das ein Kinderersatz", erklärt B. und fügt schnell hinzu: "Davon distanziere ich mich komplett. Für mich ist das ein Hobby." Dennoch könne sie diese Frauen verstehen: "Wenn Menschen keine Kinder bekommen können oder nicht adoptieren dürfen, finde ich das nicht verwerflich. Ich würde so etwas nie belächeln oder bewerten." Denn: Hinter jeder dieser Frauen stecke eine Geschichte.
Dem stimmt auch Julia Zängler zu. Sie ist Psychotherapeutin am Uniklinikum Würzburg und hält den Umgang mit den Puppen für unproblematisch. Nur "wenn sich die Frau aufgrund der Puppe zurückzieht, andere Interessen und Sozialkontakte vernachlässigt", würde sie das Hobby der Reborn-Frauen als verhaltensauffällig bezeichnen. Generell hält sie die Arbeit mit den Puppen für eine gute Möglichkeit, um beispielsweise über einen unerfüllten Kinderwunsch oder einen Verlust hinwegzukommen.
Reborn-Puppen als vorrübergehende Bewältigungsstrategie
Denn in der Reborn-Community trifft man nicht selten auf Frauen, die ihre Puppen wie Kinder behandeln, sie wickeln, spazieren fahren und regelmäßig füttern. Dafür hat sich mittlerweile ein riesiger Markt entwickelt, Frauen können sich sogar sogenannte Erinnerungsbabys anfertigen lassen. Diese Puppen werden nach dem Vorbild des verstorbenen oder mittlerweile erwachsenen Kindes gestaltet. Viele Frauen mit unerfülltem Kinderwunsch lassen sich auch ihr Wunschbaby anfertigen. "Das ist eine gute Idee für eine vorübergehende Zeit und mit Sicherheit eine Bewältigungsstrategie", sagt Zängler. Die Psychotherapeutin legt die Betonung jedoch auf "vorübergehend".
Die Reborn-Babys von Heike B. bekommen im November noch einmal Zuwachs. Aktuell lässt sich die 60-Jährige eine weitere Puppe im Kleinkindalter anfertigen. Aus diesem Grund verkauft sie auch ihre Puppen Azelea und Mila, zu denen sie nicht den gleichen Bezug habe, wie zu den anderen Puppen, wie sie selbst sagt. Dass sie früher oder später all ihre Puppen verkauft, hält B. für unwahrscheinlich: "Ich habe meine Lieblinge, die will ich nicht verkaufen."