Pandemie und Krieg hinterlassen Spuren: Gerade in Krisenzeiten benötigen immer mehr Menschen psychotherapeutische Unterstützung. Doch schon zuvor waren die Wartezeiten für eine Behandlung lang. Das 2020 in Kraft getretene neue Psychotherapeutengesetz soll die Versorgung eigentlich verbessern und mehr qualifizierten Nachwuchs in die Psychotherapie bringen. Doch eine unzulängliche Umsetzung in Bayern droht die Lage weiter zuzuspitzen.
"Wir bräuchten mehr Psychotherapeuten, steuern aber auf einen Mangel zu", befürchten Prof. Jürgen Deckert, Leiter der Psychiatrie an der Würzburger Uniklinik, und Prof. Matthias Frosch, Dekan der Medizinischen Fakultät der Uni Würzburg. Es fehle an den nötigen Finanzmitteln und Personal für den neuen Studiengang zur Psychotherapie. Die psychologischen Institute der Universitäten in ganz Bayern kritisieren das.
Wie gut ist Unterfranken mit Psychotherapeutinnen und -therapeuten versorgt?
Aktuell gibt es in Unterfranken mit seinen 1,3 Millionen Einwohnern nur 513 zugelassene Psychotherapeutinnen und -therapeuten, ein Drittel von ihnen ist über 60 Jahre alt. Dies geht aus dem Versorgungsatlas der Kassenärztlichen Vereinigung Bayern hervor. Jeweils ein knappes Fünftel arbeiten als ärztliche Psychotherapeuten oder als Kinder- und Jugendpsychotherapeuten. Das Gros stellen mit fast zwei Drittel (329) die psychologischen Psychotherapeutinnen und -therapeuten. Mit 75 Prozent sind deutlich mehr Frauen als Männer in der Psychotherapie tätig.
Die Bundespsychotherapeutenkammer fordert von der Politik deutlich mehr Zulassungen für Praxen und ein Sofortprogramm mit 1600 zusätzlichen Kassensitzen. Und auch aus den Kliniken sind Hilferufe zu hören. "Zwei Drittel unserer Patienten leiden unter Depressionen", sagt der Würzburger Uni-Psychiatrie-Chef Jürgen Deckert. Er sieht einen großen Bedarf an ambulanter Psychotherapie nach einem stationären Aufenthalt und die weitere Prävention.
Wie lange müssen Patientinnen und Patienten auf eine Psychotherapie warten?
Nach einer Auswertung der Bundespsychotherapeutenkammer warteten im Jahr 2019 rund 40 Prozent der Patientinnen und Patienten ab Diagnose mindestens drei bis neun Monate auf eine Behandlung. Durch die Pandemie haben sich die Wartezeiten noch deutlich verlängert. "Die Corona-Krise verschärft den Mangel an Behandlungsplätzen", kritisiert Kammerpräsident Dr. Dietrich Munz. Insbesondere während der zweiten Corona-Welle hätten die Anfragen bei niedergelassenen Psychotherapeutinnen und -therapeuten massiv zugenommen.
Woher sollen künftig mehr Fachkräfte für die Psychotherapie kommen?
Bundestag und Bundesrat haben im November 2019 eine gesetzliche Reform der Psychotherapeuten-Ausbildung beschlossen. Künftig steht die Approbation als Psychotherapeutin oder als Psychotherapeut am Ende eines fünfjährigen Universitätsstudiums (Bachelor plus Master). Für die kassenärztliche Zulassung ist im Anschluss noch eine mehrjährige Weiterbildung erforderlich. Das Bundesgesundheitsministerium rechnete im Zuge der Reform mit bundesweit rund 2500 Studierenden, die jährlich eine Approbation erlangen. Damit hielt man die psychotherapeutische Versorgung für sichergestellt – das war noch vor der Pandemie. Die Qualität der Ausbildung sollte verbessert und praxisnäher werden, die Berufsbezeichnung wird mit "Psychotherapeutin" bzw. "Psychotherapeut" vereinfacht.
Was ändert sich am Studium für die Psychotherapie konkret?
Bis vor zwei Jahren studierten Interessierte Psychologie oder – bei Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten – zunächst Pädagogik. Für die Approbation war im Anschluss eine mehrjährige Weiterbildung zum Psychotherapeuten erforderlich. Sie wurde nicht oder nur geringfügig entlohnt. Teilweise waren 12.000 bis 15.000 Euro selbst zu bezahlen. Das ändert sich nun mit einem eigenen Studiengang, angelehnt an die Facharztausbildung: Auf die Approbation (Master Psychotherapie) folgt eine fünfjährige Weiterbildung mit regulärer, bezahlter Anstellung in Kliniken und Instituten.
Außerdem wurden praktische Inhalte in das Masterstudium verlegt. Dies führt zu einem deutlichen Mehraufwand in der Lehre, sagt Matthias Gamer, Professor für Experimentelle Klinische Psychologie an der Uni Würzburg. "Die neuen Studiengänge sind betreuungsintensiver." Dafür müsse der Freistaat Stellen schaffen. Doch hier hapert es. Neben der Psychotherapie gibt es künftig noch den Master in allgemeiner Psychologie.
Warum gibt es in Bayern so wenige Studienplätze für die Psychotherapie?
Mehr Psychotherapeuten? Im Freistaat könnte das Gegenteil eintreten, Experten befürchten einen Versorgungsmangel. Der Grund: Die fünf Universitäten in Würzburg, Bamberg, Nürnberg-Erlangen, München und Regensburg können nur jeweils 15 Psychotherapie-Masterplätze anbieten, also 75 Masterplätze für ganz Bayern. Mehr sei mit den vorhandenen Ressourcen und Personal nicht zu machen. Es brauche mehr Mittel und Stellen. Kritiker verweisen auf Bundesländer wie Hessen, Nordrhein-Westfallen oder Baden-Württemberg, die deutlich mehr Geld für Psychotherapie und Studienplätze in die Hand nähmen.
Dort könnten sich auch bayerische Bachelor-Absolventen bewerben. Psychologie-Professor Gamer warnt: "Es droht eine regionale Versorgungslücke in Unterfranken. Denn viele lassen sich als Psychotherapeuten eher dort nieder, wo sie studiert haben." Um die Versorgung aufrecht zu erhalten, müssten im Freistaat laut bayerischer Psychotherapeutenkammer statt der aktuell finanzierten 75 eigentlich 350 Psychotherapeutinnen und -therapeuten pro Jahr approbiert werden.
Was sagt Bayerns neuer Wissenschaftsminister zur Problematik?
Das bayerische Wissenschaftsministerium verweist auf die Autonomie der Hochschulen, für das Studienangebot gebe es keine externen Vorgaben. Heißt: Die Unis sollen selbst schauen, wie sie Stellen und Finanzierung bewerkstelligen. Dazu der Fingerzeig von Wissenschaftsminister Markus Blume (CSU) nach Berlin: Der Bund habe mal wieder eine Reform beschlossen und lasse die Länder mit der Umsetzung allein, "insbesondere in finanzieller Hinsicht".
Warum aber nehmen andere Bundesländer den Ball auf, Bayern dagegen zögert? Blume verweist auf die staatlichen Investitionen in den Hochschulbetrieb. Zehn zusätzliche Stellen für die Psychotherapie habe der Freistaat bereits geschaffen. Man erwarte aber auch, dass die Unis Mittel aus der bayerischen Hightech-Agenda mit ihren 1000 zusätzlichen Professuren verwenden. So wie beispielsweise die Uni Erlangen-Nürnberg damit eine Professur für klinische Psychologie eingerichtet habe. Das Ministerium arbeite gemeinsam mit den Hochschulen an einer Lösung.
Wie angespannt ist die Situation an der Universität Würzburg?
Seit Jahren beklagen Psychologie-Studierende an der Julius-Maximilians-Universität (JMU), dass es nach dem Bachelor kaum Plätze für ein Masterstudium gibt. Für die Psychotherapie spitzt sich das Problem nun weiter zu. Zwar begrüßt Psychologie-Professor Matthias Gamer das neue Psychotherapeutengesetz in Inhalt und Ausrichtung. Aber: "Es muss auch finanziert werden." Gamer rechnet in Würzburg pro Semester mit rund 280 Bewerbungen auf 15 Plätze im Masterstudiengang "Klinische Psychologie, Psychotherapie und Klinische Neurowissenschaften". Mindestens zwei Drittel der Studienanfänger in der Psychologie wollten später in die Psychotherapie gehen. Immerhin: An der Uni Würzburg können Studierende den Master in Psychotherapie auch im Sommersemester – ebenfalls mit 15 Plätzen – beginnen. Pro Jahr stünden an der JMU damit 30 Masterplätze zur Verfügung.
Was kann die Uni Würzburg selbst tun, um mehr Kapazitäten zu schaffen?
Fakultät (Humanwissenschaften) und Universität wollen laut Sprecherin Esther Knemeyer den Masterstudiengang für 60 Studierende pro Jahr einrichten. Das entspräche einer Verdoppelung im Vergleich zur aktuellen Lage. Für einen schrittweisen Ausbau sei man im Gespräch mit dem Wissenschaftsministerium. Letztlich muss aber auch der Finanzminister mitspielen.
Uni-Präsident Paul Pauli kennt die Hintergründe nur allzu gut. Seit zwei Jahrzehnten hat er den Lehrstuhl für Psychologie I, Biologische Psychologie, Klinische Psychologie und Psychotherapie inne. Nach seiner Wahl zum Uni-Präsidenten ist er seit April 2021 beurlaubt. Pauli hofft auf eine deutliche Aufstockung der Masterplätze für die Psychotherapie bis zum Wintersemester 2023/24. Erst dann würde der erste Jahrgang des neuen Psychologie-Bachelors in den Master drängen.
Dass der Engpass gänzlich Studienanfänger abhält, glaubt der Uni-Präsident nicht. Man könne später in andere Bundesländer wechseln, etwa nach Baden-Württemberg, "dort wurde viel gemacht". Allerdings unterstreicht auch Pauli, wie wichtig ein regionales Studienangebot für die künftige regionale Versorgung ist.
Gibt es genügend Plätze für die praktische Ausbildung?
Viel Praxis im Masterstudiengang Psychotherapie heißt: Es braucht Praktikumsplätze, nächstliegende Adresse wäre die Psychiatrische Uniklinik. Aber just diese lehnt die weitere Betreuung von Praktikanten ab, wenn nicht zusätzlich Personal dafür finanziert wird. "Ansonsten geht das zu Lasten der Patientenversorgung. Das können wir nicht verantworten", sagt Psychiatrie-Chef Deckert. Zusätzliche Vorlesungen könne man anbieten, eine intensive Betreuung von Studierenden in Praktika dagegen nicht.
Und auch für die Weiterbildung nach der Approbation fehlt es nach Einschätzung von Medizin-Dekan Matthias Frosch in zwei bis drei Jahren an den nötigen Stellen. Er sieht das Wissenschaftsministerium gefordert, das Psychotherapie-Studium sei "vorne und hinten nicht finanziert". Andere bayerische Uni-Psychiatrien argumentieren ähnlich. Deckerts Ruf nach mehr Personal richtet sich sowohl an das Ministerium wie an die Würzburger Uni-Leitung. Während Uni-Präsident Paul Pauli auf 60 Praktikumsplätze an Kliniken und Instituten im regionalen Umfeld verweist, warnen Deckert und Frosch vor einem Qualitätsverlust in der Ausbildung.
Was sagen die Studierenden zu der angespannten Lage?
Psychologie-Studierende in Bayern machen ihrem Unmut Luft. Für den 24. Juni planen die Fachschaften eine gemeinsame Demonstration in München. Die Fachschaftsinitiative Psychologie an der Uni Würzburg warnt vor einem Versorgungsengpass in der Psychotherapie. Eine Erhöhung der Masterstudienplätze sei "zwingend notwendig". Es brauche, wie in anderen Bundesländern, mehr Finanzmittel und Stellen in der Lehre – auch am Psychologischen Institut der Uni Würzburg.
Die Fachschaft fordert für den Masterstudiengang "Klinische Psychologie, Psychotherapie und Klinische Neurowissenschaften" an der JMU mindestens 60 Plätze im nächsten Jahr. Statt sich auf ihr Studium zu konzentrieren, kämpften angehende Psychotherapeutinnen und -therapeuten mit Zukunftssorgen und Notendruck. Tatsächlich rechnet Psychologie-Professor Gamer damit, dass unter den aktuellen Voraussetzungen ein Bachelorabschluss mit einer Note von 1,4 oder besser für einen Platz im Psychotherapie-Masterstudiengang nötig ist.
Das beste wäre es allerdings, wenn diese Blenderpartei endlich auch auf Landesebene aus der Regierungsverantwortung fliegen würde!
Das Fehlen von psychologischer Hilfe wird man andernfalls bezahlen mit immer mehr Betroffenen, die infolge dann Polizei, Staatsanwaltschaften, Gerichte, jugendämter etc. beschäftigen. Aber soweit denken Leute wie Blume natürlich nie bzw. schlimmer: es ist ihnen egal. Es zählen die schnelle Schlagzeilen und Populismus.
Solches Versagen, wie in diesem Artikel offengelegt, zeigt jedoch, woraus die Probleme resultieren: für die Opfer der Ausgrenzungspolitik, die Menschen und Familien belastet, gibt es nicht einmal mehr die erforderlichen Hilfestrukturen.