Man könnte verstehen, wenn Marcos Mutter jegliches Vertrauen in Therapeuten verloren hätte. Im Gedenken an den einen, den Logopäden, packt sie noch immer kalte Wut: "Ich möchte ihm die Haut…" Und dann folgen Worte, die den ärgsten Folterknecht in der Inquisition blass aussehen lassen würden.
Erstaunliche Wandlung eines Verbrechens-Opfers
Dass Doris Koller (Name geändert) überhaupt wieder Vertrauen fassen konnte, liegt wohl an der erstaunlichen Wandlung ihres Sohnes in den Wochen vor Weihnachten – und an Sandra und Frank Hierath, die mit ihrer Pilotwal Sound Therapie Erstaunliches geschafft haben: Einem verunsicherten siebenjährigen Missbrauchs-Opfer wieder Lebensmut zu vermitteln.
Noch immer kann Marco nicht sprechen wie andere siebenjährige Buben. Aber er ist nicht mehr apathisch, sondern wild und ungestüm und formuliert Laute, als wolle er weitererzählen, was er von den Delphinen gehört hat – und was ihm sonst auf der Seele liegt.
"Es ist der Hammer, wie er sich entwickelt"
Beim Anruf bei Doris Koller im Raum Würzburg hört man das vorher so stumme Kind fröhlich im Hintergrund krähen und brabbeln. Und seine Mutter, die schwankte zwischen Wut und Apathie, die ihren Job aufgeben musste, um sich um Marco zu kümmern, die Magenkrämpfe und schlaflose Nächte hatte, klingt wie erlöst: "Es ist der Hammer, wie er sich entwickelt", sagt sie strahlend. "Da hat sich ganz viel getan."
Seit sieben Monaten weiß die 30-jährige Mutter: Ein Logopäde, der ihrem Sohn helfen sollte, hat sie (und andere Mütter in Würzburg) unfassbar getäuscht. Dem angesehenen Therapeuten und Trainer, dem Mann mit dem sanften Auftreten eines sensiblen Kinder-Verstehers, war sein Trieb offenbar wichtiger als die Fürsorge für einen Siebenjährigen, der sich von ihm Hilfe erhofft hatte.
Als die Befürchtung zur Gewissheit wurde
Marco ist behindert und kann nicht sprechen. Und die Ermittlungen zeigten, dass genau dies zum Beute-Schema des mutmaßlichen Täters passte: Kinder, die nicht verraten konnten, dass er sie sexuell missbrauchte, dabei filmte und die Bilder mit Gleichgesinnten tauschte.
Seit sieben Monaten hat Marcos Mutter schreckliche Gewissheit: Ihr behindertes Kind (und indirekt auch sie) wurden Opfer im Würzburger Kinderporno-Fall. Dass ihr siebenjähriger Sohn und seine Mutter daran nicht zerbrochen sind, sondern nach neun Monaten ganz langsam wieder Mut fassen, ist allein schon ein kleines Weihnachtswunder.
Eine kleine Handvoll Menschen half
Sie weiß, dass sie das einer Handvoll Menschen zu verdanken hat, die sich bemühen, den beiden beizustehen, damit sie das Schreckliche überwinden: Natürlich ihrer Familie. Aber auch dem Würzburger Kripo-Chef Armin Kühnert, dem wichtig war, nicht nur den Fall zu ermitteln, sondern auch die rat- und hilflosen Eltern nicht mit ihrer Angst allein zu lassen. Den Therapeuten Sandra und Frank Hierath mit ihrer Pilotwal-Sound-Therapie, die Marco das Lachen in den Augen wiedergaben. Und Boris Zimmermann, dem Vater eines anderen behinderten Kindes aus der Gruppe.
Zimmermann hat ebenfalls ein behindertes Kind in dem Alter und weiß, was das von Eltern erfordert: "Ich bin jedes Jahr fast 5000 Kilometer mit meinem Sohn unterwegs", sagt er, zu Therapien, die ihm helfen. Zunächst war er sich nicht sicher, ob sein Sohn nicht auch (wie 500 andere Kinder, die bei dem Logopäden in Behandlung waren) Missbrauchs-Opfer sein könnte. Dafür fand die Kripo aber keine Beweise. Umso mehr ehrt den BWL-Professor, dass er sich nicht wegduckte, wie andere, deren Hilfsversprechen leere Worte blieben.
Hilfe gesucht und gefunden
"Ich kannte sie nur von Facebook, sah aber schnell: Sie war viel schlimmer dran!" erinnert sich Zimmermann. Er reagierte binnen Minuten, als Marcos Mutter Sponsoren suchte für die Therapie, die mit der Beschallung mit Originallauten von frei lebenden Pilotwalen arbeitet. Darüber gab es viele Erfahrungsberichte, die ihre Hoffnung nährten, das könnte auch Marco helfen. Das zahlt aber keine Krankenkasse. Und aus eigener Tasche konnte sie das nicht finanzieren.
Zimmermann, der in Würzburg eine Stiftung für Behinderte ins Leben gerufen hat, spendierte das Geld. "Meine Stiftung will ja genau da fördern, wo man helfen kann und soll", erklärt er. Freunde aus dem Umfeld von Marcos Mutter trugen dann noch so viel zusammen, dass Doris Koller ihren Sohn nach Vorarlberg begleiten konnte. "Das war wie eine vorgezogene Bescherung", schwärmte die Mutter, als sie das hörte.
Kern der Therapie: Sprache der Tiere erfühlen
Die Heilpraktikerin Sandra Hierath und ihr Mann Frank, der früher Rettungssanitäter war und heute Ergotherapeut ist, arbeiten mit ihren auf vielfache Art behinderten Patienten behutsam in warmem Wasser eines Schwimmbades. Im Kern heißt das: Sie sollen die Schallwellen der für unser Ohr teilweise nicht wahrnehmbaren Gesänge der Pilotwale (aus der Familie der Delfine) erfühlen und erfahren.
Das Wasser in Körpertemperatur fördert die Bewegungsfreude, körperliche Einschränkungen werden weniger wahrgenommen. Schwerbehinderte Kinder führen instinktiv Schwimmbewegungen aus. Menschen, die sonst den ganzen Tag im Rollstuhl sitzen oder im Bett liegen, spüren Leichtigkeit und Beweglichkeit, "die sich hoch motivierend auswirkt", weiß das Therapeutenpaar aus der Nähe von Rastatt.
Autistische Kinder nehmen die Frequenzen in sich auf, gehen intensiv damit in Kontakt. Ein Wachkoma-Patient beginnt mit dem rechten Arm zu zucken und versucht, Sprechlaute zu formulieren. Ein dreijähriger, tauber Junge versucht plötzlich die Sonarfrequenzen nachzuahmen.
"Ein unglaublicher Türöffner, um aus der Starre zu kommen"
Und Marco? Ein verängstigtes Kind, das nicht mag, wenn man es überrumpelt", erinnert sich Sandra Hierath. "Marco war zunächst sehr vorsichtig, aber auch neugierig und offen. Er kann ja nicht schreien, um seinen Schmerz auszudrücken", wissen Sandra und Frank Hierrath. Zur Behinderung kommt das Trauma des Erlebten dazu, was es schwer macht, Nähe zuzulassen.
Die Delfinlaute, eingespielt über Unter- und Überwasser-Lautsprecher, "waren für ihn ein unglaublicher Türöffner, um aus der Starre zu kommen", beschreibt die Therapeutin. "Er hat sehr stark auf die Frequenzen reagiert und versucht, das Schnalzen nachzumachen." Schließlich zog er sich eigenständig in eine Ecke des Beckens zurück, um die Laute der Tiere aufzunehmen, die Sandra Hierath liebevoll "Engel der Meere" nennt.
Den Dreck abwaschen
Und am Ende der vier Tage verließ er – obwohl er von einem Mann misshandelt worden war – an der Hand von Frank Hierrath das Becken und stellte sich allein lange unter die Dusche. "Es wirkte, als wolle er den ganzen Dreck abwaschen", sagt Marcos Mutter gerührt.
Sie hatte ihren Sohn bereits Monate vor der Verhaftung des Logopäden aus der Kita genommen. Denn sie konnte sich auffallende Veränderungen im Verhalten ihres Sohnes nicht erklären. Ihr Sohn saß weinend im Bett, schlug, biss – mehr als andere Kinder, bei denen solches Verhalten so schnell wieder verschwand, wie es aufgetaucht war – stets dann, wenn er aus der Kita kam. „Ich brachte ein fröhliches Kind hin und holte mittags eines ab, das völlig verstört war", erklärte sie später.
Sie habe das Gespräch gesucht, sei aber abgebügelt worden. In der Kita widerspricht man dieser Darstellung.
Wochenlange quälende Ungewissheit
Die Wochen nach der Razzia waren die Hölle für sie und Hunderte von Eltern, die seit der Festnahme des Logopäden in großer Ungewissheit lebten: War ihr Sohn unter den Opfern? Immer mehr Details kamen ans Licht. Polizisten baten in abgeschirmten Veranstaltungen die Eltern, Auffälligkeiten zu melden. Gleichzeitig werteten sie die sichergestellten Bilder aus, damit Verwandte die Opfer an körperlichen Merkmalen oder Kleidungsstücken identifizieren konnten. "Mir wurde schlecht", erinnert sich Marcos Mutter. "Ich erkannte ein Kleidungsstück, das ich ihm zum Geburtstag gekauft hatte."
Die Polizei identifizierte schließlich sieben Opfer aus den Jahren von 2012 bis 2019 – ohne den Anspruch auf Vollständigkeit, wie Kripo-Chef Kühnert in einem Interview klarmachte. Ein Rest Ungewissheit blieb. Kurz vor Weihnachten wurde dem Logopäden die Anklage zugestellt. Er wird beschuldigt, sich in 66 Fällen an sieben Kindern vergangen zu haben. Der Prozess soll Anfang 2020 in Würzburg beginnen.
Der Versuch, Scherben zu kitten
Während sich Marcos Mutter bemüht, ihrem Sohn eine weitere Delfinsound-Therapie im Frühjahr zu ermöglichen, müssen auch anderweitig Scherben gekittet werden. "Schlimme Verbrechen mit sexueller Gewalt sind in unserer Kita geschehen", gesteht der Pfarrer der evangelischen Gethsemane-Gemeinde im Pfarrbrief. "Dort, wo größtes Vertrauen wie eine weite Brücke die Menschen verbunden hat, ist kaum ein Stein mehr auf dem anderen geblieben. Der Täter hat das Miteinander in niemals denkbarem Umfang zerstört."
Das Evangelische Beratungszentrum bot gemeinsam mit der Beratungsstelle der Stadt Würzburg eine begleitete Selbsthilfegruppe für betroffene Eltern an. "Es tut uns unendlich leid, dass diese Verbrechen in den Räumen und während der Öffnungszeiten unserer Kita geschehen sind", heißt es, und: "Uns ist ganz wichtig, dass die Taten aufgeklärt werden und das Gericht eine gerechte Strafe aussprechen kann, damit Kinder in Zukunft geschützt sind."
Mindestens drei der Eltern wollen als Nebenkläger die Interessen ihrer Buben vertreten. Marcos Mutter ist eine davon. Sie hat nur noch vor einem Angst: "Die Beherrschung zu verlieren in dem Moment, in dem ich diesen Mann wiedersehe, der meinen Sohn gequält hat."