
Ende November hat das Landgericht Schweinfurt eine Mutter und einen Vater der fahrlässigen Tötung schuldig gesprochen. Ihre 16-jährige Tochter war magersüchtig, sie starb nach multiplem Organversagen aufgrund der Unterernährung. Bei der rechtsmedizinischen Untersuchung wog der Körper des Mädchens nur noch 19 Kilogramm. Ein Extremfall, der zeigte, wie rasant der Verlauf einer Magersucht sein kann.
Wie zeigt sich die Essstörung bei Kindern und Jugendlichen? Auf welche Alarmsignale sollten Eltern achten und wo finden Betroffene Unterstützung? Antworten darauf hat Dr. Arne Bürger, Leitender Psychologe der Ambulanz der Kinder und Jugendpsychiatrie an der Uniklinik Würzburg und Geschäftsführer des Deutschen Zentrums für Präventionsforschung und Psychische Gesundheit.
Dr. Arne Bürger: Magersucht bedeutet die Verweigerung, Nahrung aufzunehmen oder wirklich nur zu einem absoluten Mindestmaß. Beispielsweise ein halbes trockenes Brötchen, drei bis vier Nudeln, vier bis fünf Blätter Salat, drei bis vier Gläser Wasser. Wenn dann noch exzessives Sporttreiben dazu kommt, nimmt man schnell ab.

Bürger: Ein Grund ist die sogenannte Gewichtsphobie, also die Angst vor der Zunahme an Körpergewicht, die sehr stark ist. In unseren Therapien, in denen wir zum Beispiel mit den jungen Menschen gemeinsam essen, sehen wir, wie groß diese Angst vor dem Essen ist. Das kann man sich als Außenstehender häufig nicht vorstellen. Die Angst kann eine richtige Panik sein, dick zu werden. Durch die sogenannte Körperschemastörung werden die eigentlichen Körperformen völlig überschätzt.
Bürger: Magersucht ist multifaktoriell bedingt. Das ist auf keinen Fall ein Lifestyle oder eine spontane Entscheidung. Dazu gehören biologisch-genetische, familiäre und soziokulturelle Faktoren. Und letztlich auch individuelle Faktoren wie beispielsweise ein zwanghafter Perfektionismus. Natürlich spielen auch die Medien eine Rolle, sie sind aber nur ein Puzzleteil bei der Entstehung der Erkrankung. Auch sich von der Familie und Freunden nicht angenommen, wahrgenommen oder sogar abgelehnt zu fühlen, sind weitere Puzzleteilchen. Viele magersüchtige Kinder und Jugendliche haben auch Schwierigkeiten, eigene Bedürfnisse und Gefühle zu äußern.
Bürger: Genau. Die Person kann schwer Bedürfnisse äußern, ist vielleicht sehr harmoniebedürftig und kann schwer Konflikte aushalten. Ein starker Leistungsdruck ist bei manchen ebenfalls ein Grund. Dieser Perfektionismus und der Wunsch, alles im Leben kontrollieren zu können, kann auch den Körper erfassen.
Bürger: Das gilt leider für alle Altersgruppen. Den Vorteil, den wir im Kinder- und Jugendalter haben, ist, dass die Eltern das sehen und dann zu uns kommen können. Magersucht ist eine Erkrankung, bei der bei den Patientinnen und Patienten ein Unverständnis besteht, dass ein Problem existiert. Ein großer Prozentsatz der jugendlichen Mädchen antwortet innerhalb der ersten Termine auf meine Frage, ob sie freiwillig in Therapie sind, mit "Nö, ich weiß auch gar nicht, was ich bei Ihnen soll." Hier muss erst eine Bereitschaft erarbeitet werden, die Erkrankung loszulassen, anzunehmen und dass es ein Problem gibt.
Bürger: Das ist eine gute Frage. Da kann man wieder auf den Risikofaktor soziale Medien eingehen, obwohl dieser nicht der einzige ist. Es spielt bei Mädchen und Frauen dennoch eine Rolle, schlank und schön zu sein. Das verlangt die westliche Gesellschaft deutlich stärker vom weiblichen Geschlecht. Ein Mann mit Bierbauch wird am Strand nicht so begutachtet und bewertet wie eine Frau, die nicht so schlank ist.

Bürger: Das ist schwierig zu sagen. Es gibt auffälliges Essverhalten und es gibt Essstörungen. Bei Mädchen zwischen 14 und 18 Jahren zeigen 20 bis 25 Prozent auffälliges Essverhalten. Sie erbrechen beispielsweise einmal in der Woche oder einmal im Monat oder sie hungern mal für 24 Stunden. Aber letztlich bekommen nur um 1 bis 1,5 Prozent eine Magersucht.
Bürger: Wenn der Fokus auf das Gewicht plötzlich ins Zentrum des Alltags rückt. Und damit meine ich nicht, dass sich jemand nur einmal in der Woche wiegt, sondern täglich. Oder wenn man als Familie immer zusammen Mahlzeiten zu sich nimmt und dann hören die Eltern Sätze wie "Da bin ich bei einer Freundin" und das von jemandem, der sonst konstant zusammen mit den Familienmitgliedern gegessen hat. Das ist dann eine Auffälligkeit. Und generell, wenn Figur, Essen und Gewicht 80 Prozent des Alltags einnehmen, was für das Alter untypisch ist.
Bürger: Bei Suchterkrankungen gibt es immer die Frage der Co-Abhängigkeit. Also, dass der Partner oder die Partnerin, wenn jemand beispielsweise Alkoholikerin oder Alkoholiker ist, das irgendwann ab einem bestimmten Punkt nicht mehr wahrnimmt. Ich glaube auch, dass sich Eltern magersüchtiger Kinder oder Jugendlicher hilflos und machtlos fühlen. Wichtig ist dann, Unterstützungsangebote anzunehmen und sich professionelle Hilfe zu suchen.
Bürger: Eltern empfinden häufig Schuldgefühle und Angst um ihr Kind, wenn sie solche Gespräche führen. Dennoch sollten sie das Gespräch einfühlsam und ohne Vorwürfe gestalten. Es ist wichtig, das Thema offen anzusprechen, indem sie ihre Sorgen klar benennen und Ich-Botschaften verwenden, wie: "Ich mache mir Sorgen, weil ich beobachte, dass du kaum isst." Eltern sollten darauf verzichten, das Kind zu drängen, über die Essstörung zu sprechen und nicht die Kontrolle über das Essverhalten übernehmen. Moralische Appelle oder eine Bagatellisierung der Situation können ebenfalls schädlich sein. Stattdessen sollten Eltern Verständnis zeigen und, wenn sie nicht weiterkommen, professionelle Hilfe hinzuziehen.
Was können Eltern tun? Das rät der Psychologe
- Eltern können erst einmal ihre Sorge teilen, mit befreundeten Eltern reden und fragen: "Wie ist das bei euch?"
- Eltern können den Kinder- oder Hausarzt kontaktieren und dann die Überweisung zum Facharzt einholen oder an der Würzburger Uniklinik, in der Ambulanz der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (KJPPP) anrufen, Tel. (0931) 201 78600.
- Eltern können mit einem niedergelassenen Psychotherapeuten sprechen und fragen, was dieser meint und empfiehlt.
- Eltern können sich auch an die Lehrkraft des Kindes, einen Schulpsychologen oder Suchtbeauftragten der Schule wenden.
- Eltern können sich an eine der Psychosozialen Beratungsstelle der Caritas in der Region wenden, Adressen und Infos unter www.caritas-wuerzburg.de/hilfe-beratung