Nach 18 Uhr, wenn die Geschäftsleute ihre Läden abgeschlossen haben, liegt die Ochsenfurter Altstadt da wie eine gotische Puppenstube. Einheimische und Touristen sind am Flanieren nicht zu unterscheiden, alle scheinen Zeit zu haben. So ruhig ist es hier, dass man die Fahrräder rauschen hört.
Refugium für Großstädter
Ochsenfurt ist ein Refugium für Großstädter am Rande des Nervenzusammenbruchs. Es könnte aber auch ein Albtraum des kommunistischen Liedermachers Franz-Josef Degenhardt sein: „Sonntags in der kleinen Stadt/Wenn die Spinne Langeweile/Fäden spinnt und ohne Eile/Giftig-grau die Wand hochkriecht …“.
Als Degenhardts Verlegerin Simone Barrientos vor drei Jahren, nach 30 Jahren in Berlin, nach Ochsenfurt zog, sorgte sie sich: Was soll sie machen, wenn das eine kleine Stadt ist, in der man, wie Degenhardt singt, friert vor Gemütlichkeit? Aber Ochsenfurt wirkt anders auf sie, „mehr wie eine Hafenstadt, mit offenen Menschen, die Fremdes nicht beäugen“. Verlasse sie ihr Haus, erzählt sie, habe sie ein Gefühl von Urlaub. „Man rennt nicht, man wird entschleunigt.“
Listenplatz 5 in Bayern
Barrientos rennt. Sie kandiert auf Platz 5 der bayerischen Linkspartei für den Bundestag. Sie ist Direktkandidatin für den Wahlkreis Würzburg. Sie sagt, im Landkreis sei sie unterwegs „wie irre“. Aber in Würzburg ist kaum ein Plakat von ihrer Partei zu sehen und keines von ihr. Barrientos sagt, sie habe mit ihren Genossen geschimpft, versichert: „Wir sind dran“ und erklärt, sie seien wenige und der Wahlkreis riesig.
So hatte sie nicht geplant, als sie nach Ochsenfurt kam. Sie hatte ein Refugium, einen ruhigen Unterschlupf gesucht, nach einem „sehr intensiven“ Leben in Berlin. Ausgelaugt und kaputt sei sie am Ende gewesen, habe nur noch die Nachteile der Großstadt zu spüren bekommen und die Vorteile nicht mehr genutzt.
Kandidatin ist Feministin
Barrientos ist eine Feministin, ostsozialisiert. Sie erzählt, sie sei mit dem Bewusstsein aufgewachsen, dass Frauen und Männer völlig gleichwertig sind. Keine Frage sei das gewesen. „Und hier, in diesem Deutschland, stellt sich die Frage doch.“ Sie stehe „immer noch ratlos vor chauvinistischen Attacken“, weil sie ihr so fremd seien.
Mit 20 zieht sie um nach Ost-Berlin, bringt sich, fasziniert von den Liedern Victor Jaras und den Gedichten Pablo Nerudas, Spanisch bei, sucht Kontakt zu Chilenen, Kubanern und Nicaraguanern. Sie erzählt, da sei ihr Temperament nichts Besonderes gewesen. Sie beschreibt sich als neugierig auf Leute und andere Kulturen. Als Theaterkind habe sie „ein großes Verständnis dafür, dass die Welt bunt ist“.
Engagiert für Flüchtlinge
Jahrzehnte später, in Ochsenfurt, engagiert sie sich für Flüchtlinge. Sie nimmt eine sechsköpfige Familie aus Syrien auf. Den afghanischen Jungen, der im Juli 2016 Reisende in einem Regionalzug bei Würzburg mit der Axt angreifen wird, kennt sie vom Sehen.
Nach dem Attentatsversuch stellt sie sich vor die Geflüchteten. Sie wird - „unfreiwillig“, sagt sie - Ansprechpartnerin für Journalisten aus dem In- und Ausland. Rechtsradikale drohen ihr, wie anderen Flüchtlingshelfern auch, mit Mord.
In ihrem Haus, einem 460 Jahren alten verwinkelten Gemäuer in der Altstadt, gehen Flüchtlinge ein und aus. „Die sitzen dann hier“, berichtet sie, „grau im Gesicht, nur noch Angst und Verzweiflung“. Furchtbar sei das und belastend. „Es gibt Tage, wo es richtig schwer ist. Aber es ist auch sehr schön, dieses Kontakt zu haben und zusammenzusitzen und zu lachen“.
In Berlin arbeitslos
In Berlin, nach dem Fall der Mauer, wird sie arbeitslos. Wenn arme Leute erzählen, wie schlecht es ihnen geht, weiß Barrientos, wovon sie reden. Im wiedervereinten Deutschland hört sie viel von Freiheit reden. „Aber wie frei ist man, wenn man nicht am Leben teilhaben kann oder nächste Woche nicht weiß, was man essen kann? Wenn sich die Frage nach Urlaub nicht stellt?“ Freiheit gibt es für sie nur mit wirtschaftlicher Unabhängigkeit, „sonst ist sie nichts wert“.
Sie arbeitete als Spanisch-Dolmetscherin, Bauzeichnerin und Aufnahmeleiterin beim Fernsehen, gestaltete Schaufenster, betrieb ein Besetzungsbüro, moderierte, stand als Rezitatorin auf der Bühne. Vor zehn Jahren gründete sie ihren Verlag „Kulturmaschinen“. Ihr prominentester Autor - neben Degenhardt - ist Hermann Kant, einer der wichtigsten Schriftsteller der DDR.
Ausgeprägtes Gerechtigkeitsgefühl
Ihre politischen Absichten sind geprägt von ihrem Erleben: Engagement für Kunst und Kultur, Migranten, Gleichberechtigung und arme Leute. Links zu sein bedeutet für sie, „ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsgefühl zu haben, das für alle Menschen“ gelte. Von nationalen Tendenzen in der Linkspartei hält sie nichts. Links könne „nur internationalistisch sein, nie national“.
Als „bunt“ beschreibt sie sich, „ein guter Mensch“ wolle sie sein. Barrientos sagt, wenn sie nichts täte, würde sie verzweifeln an den Verhältnissen.