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Leinach
Leinach: Wie einem Ukrainer mit gläsernen Knochen die Flucht vor dem Krieg gelang
Seine Knochen brechen bei der leichtesten Berührung: Alexej Sazonov schaffte es trotz  Glasknochenkrankheit aus Charkiw zu fliehen - vor allem dank seiner Mutter.
Alexej Sazonov, der die Glasknochenkrankheit hat, und seine Mutter Liudmyla Sazonova lsind in Leinach bei Würzburg untergekommen - in einer nicht behindertengerechten Wohnung.
Foto: Thomas Obermeier | Alexej Sazonov, der die Glasknochenkrankheit hat, und seine Mutter Liudmyla Sazonova lsind in Leinach bei Würzburg untergekommen - in einer nicht behindertengerechten Wohnung.
Lara Meißner
 |  aktualisiert: 08.02.2024 17:16 Uhr

Am 3. März, eine Woche nach Kriegsbeginn, verändert sich im ostukrainischen Charkiw das Geräusch der Raketen. Das Pfeifen, wenn sie auf ihr Ziel zurauschen, wird noch schriller, das Krachen, wenn sie es erreicht haben, noch bebender. "In den ersten Kriegstagen waren die Raketen kleiner, da war es noch okay", sagt Alexej Sazonov.  "Aber diese neuen Geräusche haben mich verrückt gemacht."

Der Ukrainer sitzt mit seiner Mutter Liudmyla Sazonova in Leinach im Landkreis Würzburg in einer kargen Saisonarbeiter-Wohnung . Und sie sprechen über den Tag, ab dem der Krieg die Frontstadt Stück für Stück verschlang und Schutt, Tote und Verletze hinterließ. Albert Kostan aus Holzkirchen, gebürtiger Ukrainer, übersetzt ihre Geschichte.

Seltene Krankheit: Die Knochen brechen bei kleinsten Stößen

Wer kann, rennt an diesem Tag in Charkiw in eine U-Bahn-Station, wenn die Sirenen heulen. Alexej Sazonov kann nicht. Der 39-Jährige sitzt im Rollstuhl, er hat die seltene Glasknochenkrankheit. Seine Knochen können bei den kleinsten Stößen brechen, sogar im Schlaf hat er sich schon Brüche zugezogen. Auch in Friedenszeiten muss Sazonov aufpassen, dass seine Knochen nicht unter der kleinsten Belastung zerbersten.

Würde er bei Luftalarm hektisch im Rollstuhl unter Beschuss zur nächsten U-Bahn hetzen - die Verletzungen könnten gravierend sein. Im schlimmsten Fall wäre an der Treppe Schluss und er käme nicht in die schützenden Tiefen der Metro.

Die erste Kriegswoche harren Alexej Sazonov und seine Mutter in ihrer Wohnung aus, zusammen mit Katze Nika. Auf gepackten Taschen schlafen sie neben der Tür, immer bereit zu fliehen. 1,4 Millionen Menschen leben eigentlich in Charkiw, zwei Drittel sind mittlerweile fort gegangen. "Wir wollten bleiben. Aber ab dem 3. März wäre das Selbstmord gewesen", sagt der 39-Jährige. "Also habe ich gesagt: Keine Panik, Mama. Ich bring uns raus."

Die Raketen kommen näher - jetzt bleibt nur noch die Flucht

"Keine Panik, Mama", das ist ihr Mantra geworden. Als der Entschluss zur Flucht gefasst ist, schreibt der Ukrainer einem Freund: Dass sie raus müssen aus der Parterrewohnung, über der jederzeit das zwölfstöckige Haus zusammengebombt werden kann. Dass er mit einem Auto abgeholt werden muss. Und dass es schnell gehen muss, weil die großen Raketen näher kommen. Keine halbe Stunde später steht ein Transporter vor der Tür. Der Freund gehört zu einer Gruppe Freiwilliger, die Transporte zum Bahnhof organisieren. "Jeder in der Ukraine hilft gerade, organisiert, stellt Kontakte her", sagt der 39-Jährige. "Das ganze Land arbeitet."

"Jeder in der Ukraine hilft gerade, organisiert, stellt Kontakte her. Das ganze Land arbeitet."
Alexej  Sazonov, Geflüchteter

Am Charkiwer Bahnhof drängen Tausende in die Züge, es bricht Panik aus. Müttern werden die Arme ausgekugelt, wenn sie versuchen, sich und ihre Kinder durch die Menge zu schleusen. Seinen sperrigen Rollstuhl muss der Mann mit den gläsernen Knochen bei Katze Nika in der Wohnung lassen. Stattdessen schiebt ihn seine Mutter in einer Art Buggy vor sich her. Für ihn ist das Gedränge eine Todesgefahr.

"Keine Panik, Mama", sagt Alexej Sazonov am Bahnhof wieder. Und die 63-jährige kleine Frau beginnt eisern, den beiden den Weg durch die Menge zu bahnen. Sein Leben ist auch ihres. Das letzte Stück zum Zug mit dem Ziel Lwiw wird der 39-Jährige von ukrainischen Soldaten getragen. Sie heben ihn aus seinem Gefährt und tragen ihn über die Köpfe der Menge, Liudmyla Sazonov kämpft sich samt Schiebewagen hinterher.

In einem Abteil für vier Personen sitzen Mutter und Sohn dann mit 25 anderen Flüchtenden: Frauen und Kindern sitzen übereinander - auf dem Boden, den Sitzen und ganz oben auf den Gepäckablagen. Liudmyla Sazonova weiß, was die Enge für die Knochen ihres Sohnes bedeuten kann. Die 63-Jährige baut sich vor ihm auf, so gut es geht, schirmt ihn ab mit ihrem eigenen Körper und dem zusammengeklapptem Schiebewagen.

Dessen metallenes Gestänge bohrt sich die nächsten 35 Stunden in ihre Beine. Aber die Ukrainerin hält still. Sie hält still, als der Zug stundenlang vor Kiew steht, das Licht gelöscht wird, niemand spricht und nur die nahen Artilleriegeschosse zu hören sind. In völliger Dunkelheit fährt der Zug weiter, um nicht beschossen zu werden. In Lwiw kann der Zug nicht wie geplant halten, zu überfüllt ist die Stadt. Ludmyla Sazonova hält still, als der Zug einfach weiter fährt. Über die Grenze, nach Polen. Sie verlassen ihr Land, ohne das selbst entschieden zu haben.

Geschafft - ohne Knochenbrüche!

Zwei Wochen später verheilen ihre Hämatome und die Wunden der Fahrt langsam. Die Ukrainerin hat es geschafft. Ihr Körper wurde in Mitleidenschaft gezogen - aber ihr Sohn hat die Flucht ohne Knochenbruch überlebt.

"Das erste Mal ausgeatmet haben wir, als wir kurz vor Warschau aus dem Zug steigen konnten", sagt Liudmyla Sazonova. "Wir haben gefühlt tagelang die Luft angehalten." Als Mutter und Sohn in einem Flüchtlingscenter nahe der polnischen Hauptstadt ankommen, haben sie über drei Tage nicht geschlafen. Auf den Feldbetten fallen sie in sich zusammen.

"Wir haben gefühlt tagelang die Luft angehalten."
Liudmyla Sazonova

Am nächsten Tag wird Infomaterial ausgeteilt: Wohin eine Weiterreise möglich ist, welche Registrierungen es braucht, mit welchem Vehikel man von da nach dort kommt. Es ist Tag elf des Krieges - und ganz Europa über Freiwilligen-Netzwerke organisiert.

Alexej Sazonov und seine Mutter entscheiden sich für Berlin. Vor Jahren hatte der Ukrainer eine Pfälzer Journalistin kennengelernt. Sie hatte ihm damals geholfen, den Spezial-Rollstuhl zu bekommen, der jetzt in der Wohnung in Charkiw blieb. "Wir sind raus", schreibt er ihr aus Polen. "Ich helfe euch", antwortet sie.

Ganz Europa ist vernetzt und hilft

In Warschau bugsieren Helfer den Mann mit den gläsernen Knochen in einen Bus nach Berlin. Wie viele Hände ihn in den Tagen der Flucht behutsam getragen haben, kann er nicht sagen. Es müssen zig gewesen sein. Als sie in Berlin nicht gleich unterkommen, schreibt Sazonov einem Freund in Slowenien. "Gib mir eine halbe Stunde", antwortet er und organisiert über eine internationale Whats-App-Gruppe binnen Minuten einen Schlafplatz. "Wo auch immer Hilfe gebraucht wird, wir Menschen auf der Flucht bekommen sie", sagt der Ukrainer. Europa, so scheint es, ist eine einzige Whats-App-Gruppe, in der unbürokratisch organisiert wird, was von Nöten ist.

Der Schlafplatz ist im zweiten Stock eines Studentenwohnheims - ohne Aufzug. Weder die Mutter noch die Studentin haben die Kraft, Alexej Sazonov die Treppe hochzutragen. Mit ihrer Hilfe robbt er zwei Stockwerke nach oben. Für eine Nacht können sie dort bleiben, dann müssen sie weiter. Doch wohin?

Die Treppe zur Übergangs-Wohnung in Leinach ist für Alexej Sazonov ein nicht zu überwindendes Hindernis. Landsmann Albert Kostan hilft so gut er kann.
Foto: Thomas Obermeier | Die Treppe zur Übergangs-Wohnung in Leinach ist für Alexej Sazonov ein nicht zu überwindendes Hindernis. Landsmann Albert Kostan hilft so gut er kann.

Über die Helfer-Gruppe erfährt im Landkreis Würzburg Albert Kostans Frau Lena von dem Geflüchteten mit der Glasknochenkrankheit und seiner Mutter. Sie bietet den beiden an, dass sie nach Leinach kommen können. Ein Bekannter hat dort eine Saisonarbeiter-Wohnung. Sie ist nicht ideal für Rollstuhlfahrer, aber wenigstens für den Moment ein Dach über dem Kopf.

Während er erzählt, tippt Alexej Sazonov auf seinem Smartphone. Es gibt viel zu tun, etwa Medikamente zu besorgen. Die, die er in der Ukraine gegen das Fortschreiten seiner Krankheit genommen hat, gibt es hier nicht. Einen kleinen Vorrat hat er noch, dann muss er sich um Nachschub kümmern. "Auch das wird klappen", sagt er gelassen. In Charkiw arbeitet der 39-Jährige bei einer Logistik-Firma, Organisation ist sein tägliches Geschäft. Jetzt organsiert er sich und seiner Mutter ein neues Leben. Ist sie während der Flucht vorangegangen, manövriert ihr Sohn sie jetzt durch die Ungewissheit im neuen Land.

Noch kann Alexej Sazonov sagen: "Es geht allen gut"

Die Journalistin aus der Pfalz hat über die "Deutsche Gesellschaft für Osteogenesis imperfecta (Glasknochen) Betroffene" einen Rollstuhl besorgt. Mit dem kann der Ukrainer sich wieder selbst fortbewegen. Als nächstes braucht es eine günstige, rollstuhlgerechte Wohnung.

Denn auch wenn Mutter und Sohn so schnell wie möglich zurück nach Hause wollen, wird das wohl noch dauern. Wenn Freunde aus Charkiw anrufen, sind die Fragen immer die gleichen: "Leben noch alle? Steht das Haus noch? Hat jemand Nika, die Katze, gefüttert?" Liudmyla Sazonova schaut dann mit ängstlichen Augen zu ihrem Sohn. Bis jetzt konnte er noch jedes Mal sagen: "Es geht allen gut. Keine Panik, Mama."

Die Glasknochenkrankheit

Etwa vier bis sieben von 100.000 Menschen leiden an dem Gendefekt, bei dem der Kollagenstoffwechsel im Körper gestört ist. Dadurch verlieren die Knochen ihre Festigkeit und brechen extrem leicht - eben wie Glas. Die Betroffenen leiden unter anderem an Kleinwuchs, Atemproblemen, starken Verformungen von Armen, Beinen, dem Brustkorb und Kopf sowie einer Verkrümmung der Wirbelsäule. Neben der hohen Anfälligkeit für Brüche hat die Krankheit auch daher ihren Namen, dass die Knochen der Betroffenen auf Röntgenbildern aufgrund ihrer geringen Dichte fast durchsichtig erscheinen.
Quelle: lar
 
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    Das ist schon eine Sensation von den Flüchtlingen das gemeistert zuhaben.
    Es wird Zeit, dass auch unsere Behörden aufwachen und ihr Angebot z. Bsp. "Sprachkurse" erweitern, denn auch die "Beiden" wo wir aufgenommen haben, wurde mitgeteilt, dass alle Sprachkurse belegt sind.
    Jetzt entlasten, wir wo Flüchtlinge privat aufnehmen, schon den Staatshaushalt, dann dürfte man wenigsten den ukrainischen Gästen da besser entgegenkommen!
    Auch unsere Nachbarn wären bereit, Leute aufzunehmen, haben aber vor der Verständigung "angst"! In unserem Fall funktioniert es, die Tochter der Ukrainer spricht perfekt englisch!
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