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WÜRZBURG
Leben mit einem unheilbar kranken Kind
Es ist ein großes Familientreffen. Mit Spielen. Essen. Reden. Lachen. Und mit Weinen.
Foto: Birgit Walther-Luers | Es ist ein großes Familientreffen. Mit Spielen. Essen. Reden. Lachen. Und mit Weinen.
Melanie Jäger
Melanie Jäger
 |  aktualisiert: 27.04.2023 05:38 Uhr

Es ist ein großes Familientreffen. Mit Spielen. Essen. Reden. Lachen. Und mit Weinen. Es sind Tränen der Verzweiflung, der Liebe und der Hoffnung. Und sie brechen sich Bahn. Immer wieder. Mal leise für sich, mal in großer Runde. Hier, in dem Hotel in Würzburg, sind an diesem sonnigen Herbstwochenende 20 Familien aus dem deutschsprachigen Raum und aus Spanien zusammengekommen,deren Kinder an den seltenen und unheilbaren Stoffwechselstörungen Tay Sachs oder Morbus Sandhoff erkrankt und dadurch unaufhaltsam auf dem Weg zurück sind. Die den Tod vor Augen haben. Tag für Tag.

Geringe Lebenserwartung

Kinder, die nicht mehr dazulernen, sondern alles verlernen. Das Sprechen, das Laufen, das Sitzen. Kinder, deren Lebenserwartung gering ist. Je nachdem, welcher Typ der Krankheit diagnostiziert wurde, schwankt sie zwischen drei und 20 Jahren. Kinder, bei denen Stillstand in der Entwicklung Glück bedeutet. Und Grund ist für eine ganz leise Hoffnung. Denn irgendwann, so sagen die Familien hier, wird es ja vielleicht ein Mittel geben, das den Verlauf der Krankheit stoppen kann.

Doch wie bei jeder seltenen Erkrankung sind die Fördermittel begrenzt, ist das Agieren in der Forschung entsprechend zurückhaltend. Die Häufigkeit der Erkrankung wird derzeit auf 1: 250 000 geschätzt. Nicht nur Kinder sind betroffen, auch junge Erwachsene leiden unter einem adulten Verlauf der Krankheit. Auch wenn bei ihnen die Lebenserwartung nicht begrenzt ist, so müssen sie doch miterleben, wie sie nach und nach alle ihre motorischen Fähigkeiten verlieren.

Bei der Zusammenkunft in Würzburg, dem offiziellen 2. Deutschen Tay-Sachs & Sandhoff-Treffen, organisiert von Birgit Hardt und Folker Quack aus Höchberg (Lkr. Würzburg), waren auch vier dieser jungen Erwachsenen dabei. Sich gegenseitig Mut machen ist das große Ziel. „Als wir für unseren Sohn Dario die sehr seltene Diagnose juveniles Sandhoff bekamen, sagte man uns, wir würden nie eine andere Familie treffen“, erzählen die beiden Gründer und Organisatoren der Selbsthilfegruppe in Deutschland.

Eltern klammern sich an jede Hoffnung

Und jetzt? Gleich fünf Kinder und Jugendliche mit genau derselben Verlaufsform wie Dario sind hier und heute in Würzburg vereint, kennen sich schon von früheren Treffen: Dario, Priska und Cornelia aus der Schweiz, Hiranur aus Wiesloch bei Heidelberg und Rodrigo aus Mallorca. Während im „Spielzimmer“ im Hotel der Bär steppt und gesunde wie kranke Kinder zusammen mit ihren Betreuern spielen, lachen und je nach körperlicher Konstitution toben, sprechen im Saal nebenan Experten über den Stand der Forschung und die Möglichkeiten der einzelnen Therapieformen, versuchen die Fragen der Eltern, offen und verständlich zu beantworten.

Das Thema ist hochkomplex, doch die meisten Betroffenen hier verfügen über ein großes Wissen. Diese Krankheit ist für sie nicht irgendein Thema. Es ist das Thema ihres Lebens. Besondere Aufmerksamkeit erfährt Professor Konrad Sandhoff, jener Biochemiker, der im Jahr 1968 die Stoffwechselstörung entdeckt hat. Sandhoff trifft in Würzburg zum ersten Mal auf so viele Kinder mit jener seltenen Krankheit, die seinen Namen trägt. Der Forscher ist ganz offensichtlich angetan von der Veranstaltung, den Familien, deren starken Willen und vor allem von dem Kampfgeist in dieser besonderen Gemeinschaft. „Das ist alles sehr beeindruckend.“

Dario mit seiner Mama Birgit Hardt beim Familientreffen in Würzburg.
Foto: Birgit Walther-Luers | Dario mit seiner Mama Birgit Hardt beim Familientreffen in Würzburg.

Keine verstohlenen Tränen

Dario krabbelt indes begeistert über eine riesige Matratze und kichert vor Vergnügen beim Ballspielen. Dass der Achtjährige es mit links schafft, sofort und überall im Mittelpunkt zu stehen, liegt weniger an seiner Erkrankung – und einem ihr möglicherweise geschuldeten Mitleid – als vielmehr an seinem sonnigen Gemüt, seinem strahlenden Lächeln und seiner außergewöhnlichen Anziehungskraft. Seine Eltern wissen das und sie sind stolz darauf. Genau wie die anderen Eltern stolz darauf sind, wie ihre Kinder ihrem schweren und schmerzhaften Schicksal begegnen.

Ja, ihr Kind ist etwas ganz Besonderes. Als vorhin der Film von Birgit Hardt über Darios Leben lief, unterlegt mit den Liedern „Endless Love“ und „Don't give up“, liefen fast allen Menschen im Raum die Tränen über die Wangen. Tränen, die hier in diesem Kreis nicht verstohlen weggewischt werden, weil jeder weiß, warum sie laufen. Laufen dürfen und müssen, um nicht innerlich ganz starr vor Kummer, Angst und Verzweiflung zu werden.

Im Film wird das alles deutlich: Die ersten Zweifel, als Dario erst sehr spät zu laufen und zu sprechen beginnt. Diese Fähigkeiten nach und nach wieder verliert. Plötzlich doch wieder zu laufen beginnt. Der verwirrende Wechsel zwischen „Nie wieder“ und „Doch wieder“. Die Epilepsieanfälle. Die Ratlosigkeit der Ärzte. Die Diagnose. Der prognostizierte nahe Tod. Das schwarze Loch, in das die Eltern fallen. „Nur einer verlernte sein Lachen nicht“, heißt es im Film. Und dann sieht man Strahlemann Dario in Großaufnahme.

Tragisch: Beide Töchter betroffen

Im Moment sitzt der Achtjährige, der nicht mehr sprechen, aber eben wieder mit Unterstützung laufen kann, neben seiner Oma und futtert Kuchen. Auch Cornelia (19) und ihre Schwester Priska (22), die beide im Rollstuhl sitzen, machen mit ihren Eltern Kaffeepause. Die jungen Frauen aus der Schweiz sind – sieht man von den betroffenen Erwachsenen ab – die Ältesten hier – und damit die große Hoffnung der Gemeinschaft. Sie haben noch teil am Leben, sie können ihren Willen äußern, auch wenn das immer schwieriger wird, denn die Erkrankung führt sie Stück für Stück zurück.

Auch sie haben das Laufen verlernt, sie sprechen nur noch wenige Worte, doch ihre Gefühle sind stark und mitreißend. Wenn sie lachen, geht einem das Herz auf. Und sie werden geliebt, das kann man sehen, hören und vor allem fühlen. Ihre Eltern, Karin und Rico Cia, sind für sie da. Tag und Nacht. Bedingungslos. Und als wenn diese sehr seltene Erkrankung nicht schon tragisch genug wäre, in diese Familie ist sie gleich zweimal eingezogen. „Die Wahrscheinlichkeit war so gering, dass wir uns keine Gedanken gemacht hatten. Und auch der Professor, bei dem wir mit unserer Großen in Behandlung waren, hat erst einmal abgewunken. Die Symptome seien sicherlich nur zufällig ähnlich. Aber dann wurde wahr, was eigentlich nicht wahr sein konnte“, erzählt die Mutter und wendet geschickt Cornelias Rollstuhl, um mit der anderen Hand ihrer jammernden Tochter Prisca tröstend über den gerade eingeklemmten Finger zu streicheln.

Quälende Frage nach dem Warum

Der oft so quälenden Frage nach dem Warum kann man in so einem Fall nicht mehr ausweichen. Was denkt sich der liebe Gott dabei, wenn er ein so schweres Schicksal gleich zweimal verteilt? Kann das Zufall sein? „Nein, das glaub ich nicht“, sagt die Schweizerin. „Nichts im Leben ist nur Zufall.“ Ihr Mann Rico bindet Hund Iron, den Star der Kinder hier, vom Rollstuhl ab und legt den Arm um seine Frau.

„Man wächst damit. Und man durchlebt Phasen, aus denen man gestärkt herausgeht“, sagen sie. Als die Mädchen beide noch gut sprechen konnten, haben sie ihren Eltern mit ihrer Vorstellung von Leben und Tod schon viele Ängste genommen. „Und als meine Mutter vergangenes Jahr starb, hat mich Cornelia getröstet. „Es ist doch gut, dass sie schon da ist, wenn ich demnächst gehen muss, hat sie gesagt. Zuerst war ich geschockt, aber dann hatte der Gedanke etwas so Tröstliches für mich, dass ich ihn in mir aufgenommen habe.“

Es ist ein großes Familientreffen. Mit Spielen. Essen. Reden. Lachen. Und mit Weinen.
Foto: Folker Quack | Es ist ein großes Familientreffen. Mit Spielen. Essen. Reden. Lachen. Und mit Weinen.

Die Unbefangenheit und Ehrlichkeit, mit der ihre Töchter über den Tod sprechen, mache sie selbst auch stark für das, was sicher in naher Zukunft kommen werde. Cornelia hat auch entschieden, dass sie an keiner Studie mehr teilnehmen möchte. Im Moment sitzt die junge Frau, die so gerne lacht und kichert, am Computer. Eifrig und konzentriert schiebt sie die Maus hin und her. Wer es nicht weiß, denkt, dass sie hier ganz normal arbeitet oder spielt. Aber das kann sie schon lange nicht mehr.

Dennoch schöpfen alle anderen Eltern bei diesem Anblick Hoffnung. Und fragen sich gleichzeitig, was aus medizinischer Sicht geschehen muss, damit ihre Kinder überhaupt das Alter von Cornelia und Prisca erreichen können. Auf lebenswerte Art erreichen dürfen. Die Ängste von Cornelias Mutter haben sich mittlerweile verschoben. „Meine größte Sorge ist nicht mehr der Tod meiner Kinder, sondern dass ich mal krank werde, sie beide nicht bis zum Schluss pflegen kann, nicht bei ihnen sein kann. Das wäre das Schlimmste für mich.“

Ja, die Eltern hier sind stark. Mit ihren Kindern und für ihre Kinder. Doch wo Stärke ist ist auch Schwäche. Und wem würde man sie eher zugestehen als jenen, die bei einer Erkältung ihres Kindes schon mit dem Schlimmsten rechnen müssen. Die Eltern sind erschöpft, das kann man sehen. Doch an diesem Wochenende wollen sie sich tragen lassen für ein paar Stunden von einem einzigartigen Gemeinschaftsgefühl, diesem stillen Übereinkommen in dem, was sie aushalten und ertragen müssen. Der 16 Monate alte Junge, der apathisch im Arm seiner Pflegemutter liegt, hat seine Diagnose erst vor einigen Wochen erhalten. Er hat die infantile Form der Krankheit, es ist unwahrscheinlich, dass er jemals sprechen, krabbeln oder gar laufen kann.

Wertvolle Erinnerungsfotos

„Ich möchte eine würdevolle, schöne Abschiedsfeier“, erzählt der Pflegevater. „Mehr können wir nicht mehr tun.“ Und dann stellen sie sich zu den anderen dazu, denn es ist Zeit, für das Gruppenfoto. Es wird ein schönes Bild. Und eine wichtige Erinnerung. Denn jeder hier weiß, dass irgendwann wieder eines der Kinder fehlen wird. So wie Sophie. Das zehnjährige Mädchen litt an infantilem Tay-Sachs und ist in diesem Jahr gestorben. Ihre Eltern sind dennoch nach Würzburg gereist. Und halten nun tapfer lächelnd ein gerahmtes Foto in die Kamera.

Hand in Hand gegen Tay-Sachs und Sandhoff in Deutschland e.V.

Die Selbsthilfegruppe wurde vor fast drei Jahren von Birgit Hardt und Folker Quack aus Höchberg gegründet. Ihr Sohn Dario leidet an juvenilem Sandhoff. Sie wollten sich nicht mit dem Schicksal abgeben, allein mit der furchtbaren Krankheit zu bleiben, wie es ihnen Ärzte prognostizierten. Heute vertritt die Gruppe 24 Familien und Patienten in Deutschland und dem deutschsprachigen Ausland. Die weiter wachsende Zahl überrascht selbst Experten. Die Gruppe hilft frisch diagnostizierten Familien, trotz des schweren Schicksals zurück ins Leben zu finden. Ein zweiter Schwerpunkt der Arbeit ist die Unterstützung von Forschungsprojekten. Es sind Wirkstoffe und Therapien in Arbeit, die den Krankheitsverlauf verlangsamen oder gar stoppen könnten.
 
Doch den Projekten geht immer wieder das Geld aus. Mit Spendengeldern unterstützt die Selbsthilfegruppe Projekte und initiiert neue Versuche mit bekannten Wirkstoffen. Spendenkonto: „Hand in Hand Deutschland“ IBAN: DE59 7905 0000 0047 7995 15 Weitere Infos: www.tay-sachs-sandhoff.de
 
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  • R.Silber
    Das macht verdammt traurig und betroffen und fast schäme ich mich, dass ich gesunde Kinder habe, weil dies eben nicht selbstverständlich ist. Da bekommt "Leben" wieder eine ganz neue Bedeutung, mein Respekt vor den Eltern dieser Kinder ist unendlich groß.
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