
Sie ist gelernte Krankenschwester und kam nach Neurochirurgie und Dialyse in den interdisziplinären Bereich der Notaufnahme. "Nirgendwo sonst verdichtet sich 'Mensch-sein' so gut", sagt die Würzburgerin Ingeborg Wollschläger. "Und nirgendwo lernt man so viel über das Leben und sich selbst." Sie selbst habe zwischen Kindern und Klinik vor allem Gelassenheit gelernt. Über ihre Erfahrungen und Erlebnisse aus zwei Jahrzehnten erzählt die dreifache Mutter jetzt in einem Buch.
Ingeborg Wollschläger: Es geht mir sehr gut. Ich bin froh, dass ich den Beruf für das was ich heute mache aufgegeben habe. Wenn ich jetzt zurück blicke, war meine Entscheidung richtig.
Wollschläger: Nein, das ist bisher nicht passiert. Auch nach Veröffentlichung des Buches nicht. 20 Jahre sind ja auch eine lange Zeit. Bei vielen Geschichten wüsste nicht einmal mehr ich selbst, wann genau das passiert ist.
Wollschläger: Das war im Zusammenhang mit dem Nocebo-Effekt – dem Gegenteil des Placebos. Beim Placebo kann ein Mittel ohne Wirkstoff Schmerzen lindern, beim Nocebo ist es genau andersherum. Eine medizinische Behandlung löst durch Angst oder schlechte Erfahrungen eine negative Reaktion aus. Und da geht es dann vor allem um die richtigen Worte. Wenn ich zu einem Patienten sage, dass wird jetzt etwas wehtun, tut es auch schon weh, es fehlt eigentlich nur noch der Trommelwirbel.
Wollschläger: An beidem. Wenn du keine Zeit hast, kannst du dir nicht jedes Wort überlegen. Ich will mich da gar nicht freisprechen, ich bin auch der Typ, der manchmal schneller spricht als es gut tut. Aber das wichtigste ist, dass man sich reflektiert. Ich habe viel über den Nocebo-Effekt gelesen und damit erlebt und mir bewusst gemacht, dass vieles was wir sagen beim Patienten ganz anders wirken muss. Ich bin bei Kollegen und Schülern dann oft dazwischen gegrätscht, denn man kann nur darauf achten, wenn man sich der Wirkung seiner Worte bewusst ist.
Wollschläger: Ich kann da kein einzelnes Erlebnis rausgreifen. Aber besonders beschäftigt hat mich das Sterben. Das hat ja auch immer was mit einem selbst zu tun. Wie will ich selbst einmal sterben, wie bereite ich mich darauf vor, wie stelle ich sicher, dass das dann auch meine Entscheidung bleibt. Das berührt einen jedes Mal wieder. Überrascht hat mich immer wieder die Hilflosigkeit und Naivität vieler Menschen in der Notaufnahme. Einfachste Zusammenhänge werden nicht mehr verstanden.
Wollschläger: Ich glaube es hat mehr mit der Mentalität zu tun und der Gewohnheit, dass immer alles sofort passieren muss. Bestelle ich was im Internet, wird es geliefert. Habe ich ein Unwohlsein, zeige ich ein Kärtchen vor und es wird gleich behoben. Letzteres klappt halt nicht immer so einfach.
Wollschläger: Es gab diese Momente, wo wir bei den Menschen sitzen, ihre Hand halten konnten. Weil genug Personal da war und sonst nichts los. Es gab – so merkwürdig es sich auch anhören mag – Augenblicke größter Intimität und Würde. Aber sie sind selten, die Notaufnahme ist ja der Ort, Leben zu retten. Die Zahl der Alten mit vielen schweren Erkrankungen nimmt beständig zu. Moderne Medizin bedeutet auch, dass das natürliche Sterben herausgeschoben wird. Nicht immer zum Nutzen des Patienten. Darum sollte sich jeder rechtzeitig Gedanken darüber machen und mit seiner Familie und seinem Arzt darüber sprechen.
Wollschläger: Man kann unmöglich mit jedem Patienten mitleiden. Das wäre ja auch kontraproduktiv, weil ich ihn dann nicht mehr professionell versorgen kann. Und natürlich ist das 97. umgeknickte Sprunggelenk auch für uns Alltagsroutine.
Wollschläger: Nein! Die Professionalität besteht hier darin, das den Patienten nicht spüren zu lassen. Bei schwierigeren oder komplizierteren Behandlungen aber stumpft man nie ab. Jede Reanimation ist neu und herausfordernd. Da geht jeder anders mit um, ich habe es nie geschafft, solche Fälle nicht auch an mich heranzulassen und Anteil zu nehmen. Das geht leichter mit einer gesunden Portion Humor. Im Übrigen hilft Lachen auch enorm gut gegen Stress.

Wollschläger: Ich bin jetzt zwei Jahre nicht mehr in der Notaufnahme, aber es prägt mich nimmer noch. Ich habe keine Schwierigkeiten, wenn mal was nicht funktioniert - dann probiert man halt was anderes. Auf der anderen Seite macht es mich wahnsinnig, wenn Menschen etwas nicht ernst oder wichtig nehmen. Ich merke es sogar an meiner Sprache. Wenn man 20 Jahre unter ständiger Zeitknappheit mit Menschen kommunizieren muss, färbt das ab. Aber es ist nicht gut, so im Alltagsleben zu kommunizieren.
Wollschläger: Man sollte sich immer bewusst machen, dass das Leben, wie es gerade ist, nicht für immer ist. Das ist auch gar nichts Schlimmes. Alles Glück dieser Welt endet, aber alles Unglück irgendwann eben auch. Es ist ein Auf und Ab. Bei all dem Leid in einer Notaufnahme kann man immer auch Gutes sehen. Für mich gehört es zum Pflegeberuf dazu, Mut zu machen. Wer in die Notaufnahme kommt, dem geht es oft sehr schlecht. Aber er ist geborgen, es gibt Menschen, die sich um ihn kümmern. Man darf den Blick auf das Gute auch in der schwierigsten Situation nie verlieren.
Wollschläger: Klar, ich kann einem Patienten, der gerade eine Krebsdiagnose bekommen hat, nicht sagen, aber Du liegst hier immerhin schön warm. Da muss man einfach auch mal schweigen können und sich vor allem ein „Das-wird-schon-wieder“ sparen. In diesem Moment ändert sich das Leben eines Menschen ganz gravierend. Alle möglichen Ängste werden vielleicht gerade wahr. Das ist eine schwere Situation, die man auch so benennen sollte, statt versuchen, sie zu relativieren.
Wollschläger: Ich schreibe Briefe an meine mir anvertrauten Senioren. Per Post und handschriftlich. Ich bin ja bei meiner Kirchengemeinde St. Johannis als Seniorenreferentin angestellt, betreue mehrere Seniorenkreise, gestalte Gottesdienste in Altenheimen, organisiere Geburtstage und vieles mehr. Ich habe über die sozialen Netzwerke aufgerufen, an Senioren, die jetzt oft isoliert und alleine sind, Briefe zu schreiben. Über 300 habe ich bekommen und weiter geleitet.
Wollschläger: Das ist in der Tat angedacht, denn die Geschichten der alten Menschen sind so spannend und interessant, dass ich schon jetzt einen kleinen Instagram-Account damit bespiele. Er heißt: Die Alten von St.Johannis und ist unter @diealtentage zu finden.
Wollschläger: Nein. Ich hoffe, dass ich mich irre, aber man hört doch jetzt schon nichts mehr über den Pflegeberuf. Es hat sich nichts verändert und es ist noch ein weiter Weg, bis sich da was verändert. Ich habe noch keine Talkshow zu Corona gesehen, in der ein Vertreter der Pflege eingeladen war und gesprochen hat - keine Krankenschwester, kein Altenpfleger.
Wollschläger: Viele Länder haben in der Corona-Zeit die Arbeitszeiten der Pflegekräfte reduziert, um die besondere körperliche Herausforderung des Arbeitens in Schutzkleidung auszugleichen. Deutschland hat das Personaluntergrenzengesetz aufgehoben. Das regelt zum Schutz der Patienten, die Oberzahl derer, die eine Pflegekraft versorgen darf. Gleichzeitig wurde die Arbeitszeit der Pflegenden auf zwölf Stunden verlängert. Das würde ich rückgängig machen und die Grundvergütung anheben. Wertschätzung hat auch immer etwas mit der Bezahlung zu tun. Care-Arbeit muss sich “lohnen“ in unserem Land. Es kann nicht sein, dass Menschen, die mit Menschen arbeiten, weniger verdienen, als diejenigen, die Maschinen bedienen. Zudem würde ich einen akademischen Beruf aus dem Pflegeberuf machen. Denn Pflege muss weiter professionalisiert werden - alleine schon um im internationalen Vergleich bestehen zu können.
Buchtipp: "Die Notaufnahmeschwester - Ein Alltag zwischen Leben, Tod und Wahnsinn", von Ingeborg Wollschläger, Penguin-Verlag München 2020, 250 Seiten, 10 Euro. Die Autorin aus Würzburg gibt darin einen Blick hinter die Kulissen einer Notaufnahme. Mit viel Humor erzählt sie skurrile wie berührende Geschichten. Das Buch ist an keiner Stelle voyeuristisch, sondern zeigt vor allem die menschlichen Seiten - sowohl der Patienten als auch derer, die sie behandeln.
Weiterhin viel Freude mit Ihren Senioren. Und Hut ab vor Ihrem (Ehren)Amt!