Jeder dritte Deutsche hat laut Umfragen Angst vor einer Ansteckung mit dem Coronavirus. Gleichzeitig sorgen sich viele Menschen um ihre Existenz. Während der Pandemie ist die Zahl der Krankmeldungen wegen psychischer Erkrankungen sprunghaft angestiegen. Der Psychiater Dr. Joachim Galuska ist davon überzeugt, „dass wir auf ein Corona-Burnout zusteuern“. Je länger das Virus bleibe, umso mehr Burnout-Erkrankungen werde es geben, prognostiziert der ehemalige Ärztliche Direktor der Bad Kissinger Heiligenfeld Kliniken. „Die Menschen stehen gesellschaftlich unter enormer Spannung. Das führt zur Erschöpfung." Im Interview erklärt er, wie es zum typischen Burnout-Prozess kommt.
Dr. Joachim Galuska: Ich bin davon überzeugt, dass wir auf ein Corona-Burnout zusteuern. Je länger Corona bleibt, umso mehr ist die Gefahr von Burnout-Erkrankungen in der Gesellschaft gegeben. Normalerweise dauert ein solcher Prozess ungefähr ein halbes Jahr. Corona begleitet uns inzwischen schon seit mehr als einem halben Jahr. Das bedeutet: Wir kriegen jetzt die ersten Corona-Burnouts.
Galuska: Die Menschen stehen gesellschaftlich unter Spannung. Zum einen, weil sie Angst um sich selbst oder um ihre Angehörigen haben. Zum anderen aber auch, weil Sie sich ständig orientieren müssen. Nehmen sie das Anstehen an der Supermarktkasse. Was geht uns da nicht alles durch den Kopf: Ist der nächste Kunde zu nah oder zu weit? Oder komme ich selbst jemanden zu nahe? Ich muss also dauernd aufpassen, und zwar viel mehr als sonst. Über etliche Dinge hat man früher gar nicht nachgedacht. Jetzt muss man permanent wachsam sein und überlegen.
Galuska: Ja, und eine vorhandene Spannung ist nur eine gewisse Zeit gut auszuhalten. Dann erschöpft sich der Mensch. Denn das Spannungspotential verbraucht Energie und das ist der typische Burnout-Prozess. Natürlich passiert Schicksal sowieso: Mein Partner verlässt mich, meine Mutter stirbt, mein Kind erkrankt schwer, mein Arbeitsplatz geht verloren. So ist das Leben. Wenn ich schon in einer Situation bin, die mich überfordert, droht der Zusammenbruch. Wir kennen dieses Muster von vielen Burnout-Prozessen. Unsere Gesellschaft wird ungeachtet von Corona immer komplexer. Und ein Teil der Menschen ist auf Dauer psychisch einfach überfordert.
Galuska: Genau. Wir haben es vermehrt mit Depressionen, Angststörungen und Suchterkrankungen zu tun. Das sind alles auch Folgen eines Burnout-Prozesses. Burnout ist ja eigentlich ein Prozess und keine Krankheit. Und dieser Prozess führt dann zum Zusammenbruch. Genau das werden wir jetzt vermehrt erleben.
Galuska: Die schlechte Nachricht ist: Die Corona-Burnout-Welle wird kommen. Wir haben schon die ersten Corona-Suizide. Wir haben beispielsweise für die Kliniken Heiligenfeld schon jetzt 50 Prozent mehr Anfragen für Krankenhausbehandlungen als im vergangenen Jahr. Die Erfahrung zeigt aber auch: Menschen, die einen Burnout-Prozess hinter sich haben, sind hinterher meistens reifer und führen ein besseres Leben als vorher. Sie haben ihr Leben durch die Therapie und durch Selbstreflexion verändert, weil sie erkannt haben, was sie falsch gemacht haben. Häufig haben die Erkrankten gegen ihre Werte verstoßen. Sie haben oft zu lange in einer Situation gelebt, mit der sie nicht im Einklang waren.
Galuska: Resilienz kann uns vor dem Schlimmsten bewahren. Der Kernfaktor von seelischer Gesundheit ist Selbstwirksamkeit. Damit gemeint ist die Fähigkeit, auf das eigene Leben Einfluss zu nehmen. Ich muss also aus der Opfer-Position und der Ohnmacht heraustreten und ins Handeln kommen. Ich muss aktiv werden mir selber gegenüber. Und alles, was ich Gutes tue für mich, fördert die Resilienz. Aber wir wissen auch aus der ganzen Burnout-Geschichte, die ja schon alt ist, dass man bereits vor dem Zusammenbruch den Prozess beobachten kann.
Galuska: Im Vorfeld machen sich erste Erschöpfungssymptome und eine gewisse Entfremdung den anderen gegenüber bemerkbar. Auch eine Hyperaktivität ist häufig zu beobachten. Erschöpfungssymptome, Niedergeschlagenheit oder Selbstzweifel sind ernstzunehmende Warnsignale. Wer sie an sich wahrnimmt, sollte sich Hilfe holen. Zunächst einmal mit Freunden und Familie darüber reden. Wenn das nicht hilft, sollte man sich natürlich um professionellen Rat kümmern.
Galuska: Der Verlust sozialer Bindungen hat zugenommen. Dadurch, dass die Menschen immer mehr zu Einzelkämpfern werden, ist die soziale Unterstützung geringer geworden. Die Familie hat nicht mehr die Bedeutung wie früher. Unter Corona rücken jetzt zwar einige wieder etwas enger zusammen. Dennoch ist aus meiner Sicht Freundschaft eine der wichtigsten sozialen Ressourcen. Man muss sie allerdings aktiv pflegen. Deshalb kann ich nur dringend empfehlen: Leute, besinnt euch auf eure guten Freunde, mit denen ihr auch über das Leben reden könnt, über eure Ängste, eure Sorgen, eure Hoffnungen und all das, was euch sonst noch am Herzen liegt. Versucht, das Leben zu spüren, zu reflektieren und gut miteinander zu sein. Das ist gelebte Prävention.
Galuska: Angst ist die leitende Emotion. Psychologisch gesehen ist der klassische Mechanismus eine Abwehrhaltung. Instinktiv haben wir als Reaktionsmuster die Flucht, den Kampf oder das Starrwerden. Die gute Nachricht ist: Es gibt noch eine Alternative, nämlich sich der Angst zu stellen. Ich muss die Angst jetzt unter Corona auf einen realistischen Level bringen. Keine Angst zu haben, ist unrealistisch, das wäre Verleugnung. Da die gesellschaftliche Reaktion zurzeit massiv durch Abwehrmaßnahmen gegenüber der Infektion gekennzeichnet ist, wird die dahinterliegende Angst leider noch geschürt. Das ist im Augenblick ein großes Problem, weil Angst das Denken zersetzt. Die Menschen verhalten sich unter Angst weniger vernünftig, reagieren emotionaler. Deswegen erleben wir im Moment diese überschießenden aggressiven Reaktionen. Das wird sich weiter zuspitzen, wenn im Frühjahr die prognostizierte Insolvenz-Welle auf uns zurollen wird. Diese führt zu seelischen Problemen ohne Ende, weil Menschen dann in ihrer Existenz erschüttert sind. Viele werden psychosozial daran scheitern. Gesellschaftlich gesehen wird das eine riesige Herausforderung.
Galuska: Die seelische Gesundheit ist in der Tat sehr bedeutend. Corona gibt uns jetzt die Möglichkeit, ein bisschen innezuhalten und uns zu fragen, was uns wirklich wichtig ist im Leben. Gleichzeitig sollten wir lernen, uns emotional zu steuern. Wir müssen im Umgang mit Corona versuchen, die Krankheit zu trennen von der Reaktion darauf.
Galuska: Man sollte zunächst einmal wissen, wie eine Erkrankung mit Covid-19 abläuft und was ich tun kann, wenn ich daran erkranke. Natürlich muss ich auch wissen, welche Möglichkeiten ich habe, mich vor einer solchen Erkrankung zu schützen. Jeder sollte also lernen, die Informationen über Corona nüchtern zu sehen. Dabei hilft uns Achtsamkeit und geistige innere Freiheit.
Galuska: Die Achtsamkeit ist eine beobachtende Funktion, die sagt: Schau dir die Dinge an, so wie sie sind. Sie hilft mir auch, mich geistig zu steuern und auf die Fragen hinzulenken, die für mich wichtig sind: Benötige ich noch mehr Informationen oder fehlt mir irgendwas anderes? Brauche ich eventuell ein gutes Gespräch oder eine innere Besinnung, ein Innehalten. Was lerne ich jetzt aus dieser Phase für mich selbst und wie will ich weiter verfahren? Will ich mein Leben verändern? Es gibt Menschen, die treffen jetzt Lebensentscheidungen. Beispielsweise bestimmte Dinge beruflich nicht mehr zu machen oder ihren Lebensmittelpunkt zu verändern. Man kann diese schwierige Coronazeit durchaus also auch produktiv für sich nutzen.
Galuska: Resilienz heißt für mich Gesundheitskompetenz, also kompetent zu sein, sein Leben gut führen zu können. Wir wissen, dass erfüllende soziale Beziehungen Resilienz fördern. Wenn ich also fähig bin, mit anderen Menschen eine tiefere und langdauernde Beziehung einzugehen, dann habe ich eine größere Wahrscheinlichkeit gesund zu bleiben und eine bessere Prognose im Umgang mit Krankheiten. Was wir also brauchen, ist soziale Unterstützung. Deshalb bin ich auch ziemlich erschüttert über den Begriff Social Distancing. Abstand ist eine physikalische Angelegenheit. Wenn ich von Social Distancing spreche, dann meine ich aber sozialen Abstand. Das ist emotional betrachtet eine Katastrophe. Dadurch wird nämlich der andere für mich zu einem Bedrohenden. Er ist der, der mich umbringen könnte. Das ist ein Drama.
Galuska: Genau. Statt Social Distancing brauchen wir jetzt Social Support. Das heißt, wir müssen lernen, uns zu unterstützen und Beistand zu geben, gerade wenn jemand krank ist oder im Sterben liegt. Natürlich gilt das auch in der Beziehung und in Freundschaften. Es ist wichtig, dass wir füreinander da sind. Wohlgemerkt: Die Abstandsregeln sind okay, aber nicht in sozialer Hinsicht. Da ist es gesellschaftlich gesehen ein riesiges Problem, wenn der andere Mensch zum Bedrohungsfaktor wird. Wir brauchen Vertrauen miteinander in der Welt, wir brauchen positive Beziehungen zueinander – gerade jetzt.
Galuska: Das Schlechte ist, dass wir so viel Angst vor dem Tod haben, dass wir uns in eine Abwehrhaltung begeben. Die positive Seite ist, dass wir uns dem Tod stellen und ihm sozusagen ins Auge blicken können. Das ist die bessere Alternative zu Kampf, Flucht und Erstarren. Wenn wir den Tod mehr in unser Leben integrieren würden, läge darin eine riesige Chance. Wir könnten dann darüber diskutieren, was eigentlich würdiges Altwerden und würdiges Sterben heißt. Beides gehört zur Normalität des Lebens. Wir sollten lernen, mit der Sterblichkeit umzugehen und zwar unser ganzes Leben lang. So paradox es klingt: Corona bringt uns die Chance, das Leben lieben zu lernen. Weil wir unter dieser Todesbedrohung sozusagen das, was wir haben, schätzen und wertschätzen können. Vielleicht werden wir dann auch irgendwann damit einverstanden sein, dass es sich erfüllt hat. Aber das setzt voraus, dass wir uns genau das fragen: Wie sieht ein Leben aus, das sich erfüllt? Was ist eigentlich der Wert des Lebens?
Galuska: So ist es. Da kommen wir zu einem entscheidenden Resilienzfaktor: mit den eigenen Werten im Einklang leben. Das ist dann der Fall, wenn wir für uns selbst sagen können, unser Leben hat Sinn, weil wir etwas tun, was sinnvoll ist. Gerade jetzt wäre eine gute Gelegenheit zum Innehalten und sich zu fragen, wofür ich leben will und wie sich dieses gute Leben erfüllen kann. Viele Menschen tun sich damit allerdings schwer, weil die Rahmenbedingungen derzeit nicht leicht sind. Aber beides ist wichtig: mein individueller Weg und meine Arbeit an den Rahmenbedingungen, damit sie mir und anderen auch ermöglichen, ein würdiges Leben zu führen.