Die Wand ist grau und glatt. Ohne Tritte, ohne Struktur. Egal. Tim Würthner setzt die Fußspitze an, umklammert zwei schwarze Klettergriffe und läuft. Entgegen der Schwerkraft, senkrecht nach oben. Er hangelt sich an einen balkenartigen Vorsprung, schwingt plötzlich mit den Beinen frei in der Luft. Wie auf einer Kinderschaukel schubst sich der 16-Jährige selbst an, mit reiner Muskelkraft. Einmal. Zweimal. Dann katapultiert er seinen Körper nach vorne. Fliegt. Erreicht den nächsten Griff. Und rutscht ab.
Am Ende gewinnt Würthner trotzdem. Der Sieg beim Deutschen Jugendcup Bouldern in Braunschweig ist der zweite Erfolg des Würzburger Kletterers auf Bundesebene in diesem Jahr. Und für den 16-Jährigen der Sprung in die Nationalmannschaft. Meist fünf Mal pro Woche trainiert er. Drei bis vier Stunden jeweils. "Weil es einfach Spaß macht", sagt Würthner. Die komplexen Bewegungen, die Abwechslung, und ja, auch das Messen mit anderen.
Klettern als Wettkampfdisziplin? Das ist nicht neu. Bereits Ende der 1980er Jahre fanden erste Kletterwettkämpfe statt. In den Fokus der Öffentlichkeit rücken sie aber erst heute: Der Sport, der ursprünglich eher verwegene Einzelgänger in die Berge lockte, wird olympisch. Bei den Sommerspielen in Tokio 2020 treten erstmals 20 Männer und 20 Frauen im eigens geschaffenen Format Olympic-Combined an. Geht es nach dem Deutschen Alpenverein (DAV), sollen auch deutsche Athleten um die Medaillen klettern.Einfach wird das nicht. Und es bedeutet Veränderungen für den Verein.
Zum Beispiel die Weiterentwicklung des Leistungssports. Dafür braucht es neue Strukturen, Hallen, die geeignete Wettkampfrouten bieten, professionelle Trainingspläne. Das kostet. "Es hilft, dass Olympia Aufmerksamkeit erregt", sagt Martin Veith, Sportdirektor für Leistungssport beim DAV in München. Mit Geldern des Bundesinnenministeriums und durch den Zugang zur nationalen Sportförderung, die die Teilnahme in Tokio mit sich bringt, wurden mehrere hauptamtliche Trainer engagiert. Zudem entstanden verschiedene Schwerpunktregionen, in Bayern beispielsweise in Augsburg und München. Dort finden die Athleten gute Infrastrukturen. Dort passen die Bedingungen, um sich leistungssportlich auf Wettkämpfe vorzubereiten.
Und dort müsse man eben hinfahren, wenn man vorne mitklettern will, sagt der Würzburger Tim Würthner. Denn Wettkampfklettern auf nationaler oder internationaler Ebene unterscheide sich deutlich vom Freizeitsport. "Die Routen sind anders geschraubt. Meist gibt es schon in Bodennähe schwierige Stellen, die man ausbalancieren muss", so Würthner. Die technische Herausforderung ist deutlich höher, das Risiko zu stürzen auch. Wer nicht gezielt trainiert, hat kaum eine Chance.
Was aber bedeutet Olympia für kleine Sektionen? Auch in der Breite könnten und sollten sich lokal Wettkampfgruppen bilden, sagt Veith. Quasi als erste Stufe. Oft sei das längst passiert. In Würzburg beispielsweise gibt es seit einigen Jahren eine Wettkampfklettergruppe mit mehreren Trainern.
Sportklettern sorgt bei Alpenvereins-Sektionen seit Jahren für steigende Mitgliederzahlen
"Aber man kann nicht sagen, wir trainieren für Olympia", sagt Roland Zschorn, Ausbildungsreferent der DAV Sektion Würzburg. Der Leistungssport sei eine eigene Sparte im Verein. Das Sportklettern allgemein boome seit Jahren. So haben sich seit der Eröffnung des Kletterzentrums im Stadtteil Zellerau im Jahr 2009 die Mitgliederzahlen der Sektion verdoppelt, auf rund 9400 aktuell. Durch Olympia sieht Zschorn eine Chance, diesen Trend weiter zu befeuern, das Klettern noch bekannter zu machen, vor allem bei der Jugend. Denn die "kommt in die Alpenvereinssektionen, weil sie klettern und bouldern will – und nicht, weil sie mit uns in den Bergen am Lagerfeuer sitzen und singen möchte".
Genau da gehen die Meinungen im Alpenverein auseinander.Ob Olympia, die größte Sportbühne der Welt, wirklich zum Natursport Klettern passt, wurde und wird seit der Bekanntgabe 2016 erhitzt diskutiert.
Insgesamt gehören zum DAV bundesweit 356 Sektionen, der Verein zählt 1,3 Millionen Mitglieder. Unterschiedliche Ansichten sind da Programm. "Der eine will mehr Hütten, der andere einen Mitgliederstopp und manche eben Olympia", sagt Sportdirektor Martin Veith. Auch mancher Spitzenkletterer wie der Erlanger Alexander Megos, der für spektakuläre Erstbegehungen am Fels bekannt ist, war am Anfang zurückhaltend. Jetzt trainiert er für das Spektakel und gehört zum Fokusteam des DAV für Tokio. Generell sei der Alpenverein eben "Naturschutzverband, aber auch Sportverband", sagt Veith. Das schließe sich gegenseitig nicht aus. "Naturschutz bleibt nicht außen vor, nur weil ein Teil nach Olympia strebt. Zudem kann man natürlich auch die Chance wahrnehmen und die Plattform Olympia nutzen, um Naturschutzthemen in den entsprechenden Strukturen zu platzieren."
Kritiker fürchten jedoch, dass Olympia die locker-lässige Kletterszene zerstört, warnen vor Kommerzialisierung. Veith sieht diese Gefahr nicht. Im Fußball gelinge der Spagat auch: Einerseits sei der Sport im Profibereich längst eng strukturiert und bestens vermarktet, andererseits "treffen sich Leute trotzdem noch spontan am Nachmittag auf dem Bolzplatz".
So hat auch Tim Würthner angefangen, am Nachmittag, im Kleinen. Der 16-Jährige kletterte in der Würzburger Wettkampfgruppe, trat jedes Jahr bei den Stadtmeisterschaften an. Erst sei er "eher unsportlich" gewesen, sagt der drahtige Gymnasiast. Dabei muss er selbst schmunzeln. Heute zeichnen sich die Muskeln deutlich an Armen und Beinen ab, Klettern trainiert den ganzen Körper. Was er von Olympia merkt? "Das Training im Bayernkader hat sich definitiv verändert", sagt Würthner. Und dann ist da noch das Speedklettern. "Das hat durch Olympia viel mehr Aufmerksamkeit bekommen."
Die Disziplin Speed – also Klettern auf Zeit – ist traditionell bei den deutschen Sportlern eher unbeliebt. Statt Technik und Kreativität zählt allein Schnelligkeit. Komplett anders als am Fels. In Tokio ist es Teil des Wettkampfformates Olympic-Combined.Die Sportler sammeln dabei Punkte im Lead (dem klassischen Klettern am Seil), im Bouldern (seilfreies Klettern in Absprunghöhe) und eben im Speed. Für die drei Kletterdisziplinen gibt es zusammen nur einen Medaillensatz. Bisher liegt der deutsche Rekord im Speedklettern laut DAV bei den Herren bei 6,76 Sekunden für die 15 Meter Wand. Bei den Frauen markieren 9,95 Sekunden die Bestzeit. Für den Laien unglaublich schnell. Der Weltrekord aber steht bei nur 5,48 Sekunden (Frauen 7,32 Sekunden). Aus deutscher Sicht gibt es also noch Luft nach oben.
Bleibt Klettern über Tokio hinaus olympisch?
Das gilt auch für die Förderung junger Talente. "Ein paar Zentren existieren, aber flächendeckend könnte da noch viel mehr passieren", sagt Semir Kamhawi, Schulsportbeauftragter im Bergsportfachverband. Der Würzburger ist seit sechs Jahren Landesschulobmann für Bayern, hat zahlreiche Wettbewerbe organisiert. Für ihn passt Olympia zum Klettersport: "Klettern gehört zu den Grundbewegungen des Menschen und es ist nur natürlich, dass man sich dabei auch vergleicht."
Beim Speedklettern geht das natürlich am einfachsten. Der Schnellste gewinnt. "Das ist schon zuschauerfreundlich", sagt Tim Würthner. Die Route ist genormt, rote bobbelartige Griffe und kleine Tritte geben den Weg an der 15 Meter Wand vor. Ein lautes Piepen erklingt. Die Athleten hechten an den Bobbeln nach oben, die Digitaluhr läuft mit. Wer Inne hält, verliert. Wer einen Fehler macht, sowieso. Ein Buzzer am Ende der Wand ist das Ziel, ein Schlag darauf stoppt die Uhr. In Russland oder Osteuropa hat Speedklettern lange Tradition, in Deutschland "wird man jetzt so ein bisschen dazu gezwungen", sagt Würthner.
Ob der Dreiklang Olympic-Combined allerdings Zukunft hat, ist offen. Im Juni soll die vorläufige, im Dezember die finale Entscheidung fallen, ob Klettern über Tokio hinaus olympisch bleibt. "Man darf optimistisch sein", sagt DAV-Experte Veith. Allerdings: In Paris 2024 soll es dann wohl bereits zwei Medaillenwertungen für die Kletterer geben – eine im Lead/Bouldern und eine eigene im Speed.
Tim Würthner käme das entgegen. Lead und Bouldern liegen ihm besser. Die Routen im Würzburger Kletterzentrum klettert er locker durch. Selbst in hohen Schwierigkeitsgraden trifft die Schuhspitze jeden winzigen Tritt, die Finger scheinen an nur zentimeterbreiten Leisten zu kleben. Träumt er da nicht ein bisschen von Olympia? Der 16-Jährige schüttelt den Kopf. Profikletterer will er nach dem Abitur eigentlich nicht werden. Aufhören aber auch nicht. "Mal sehen, was daraus wird."