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WÜRZBURG
„Kirche kann auch ein menschenverachtendes System sein“
Würzburger Theologe Wunibald Müller
Foto: Theresa Müller | Würzburger Theologe Wunibald Müller
Bearbeitet von Christine Jeske
 |  aktualisiert: 27.04.2023 07:39 Uhr

„Es ist wie ein Weinen in der Welt, als ob der liebe Gott gestorben wäre.“ Diese Worte von Else Lasker-Schüler fallen mir ein, wenn ich an die augenblickliche Situation der katholischen Kirche vor dem Hintergrund des Missbrauchsskandals denke. Ich glaube, viele Bischöfe haben noch nicht wirklich verstanden, dass die katholische Kirche sich in einer ihrer größten Krisen seit der Reformation befindet.

Was den direkten Umgang mit sexualisierter Gewalt betrifft, so hat die Kirche in den vergangenen Jahren dazugelernt. Aber es hat lange gedauert, bis die Bischöfe gegen den Widerstand in den eigenen Reihen und erst nach gewaltigem Druck von außen der Opferperspektive absoluten Vorrang vor jeder Rücksichtnahme auf die Institution oder die Täter einräumten. Sie hat die Leitlinien und die Präventionsordnung verabschiedet. Wie lange wird es jetzt dauern, bis die notwendigen weitergehenden Konsequenzen gezogen werden? Müssen die Bischöfe wieder erst dazu gedrängt werden, endlich zu handeln?

Die Kirche kann es sich nicht leisten, bis zum Sankt-Nimmerleinstag über Zölibat und Homosexualität zu diskutieren – und darüber, inwieweit sie etwas mit sexualisierter Gewalt in der Kirche zu tun haben. Jetzt ist es an der Zeit, endlich die Konsequenzen zu ziehen, die schon seit Jahrzehnten bekannt sind und auf die ich in den zurückliegenden Jahren gebetsmühlenartig hingewiesen habe – und die jüngst durch die Missbrauchsstudie bestätigt wurden.

Danach gibt es einen Zusammenhang zwischen sexualisierter Gewalt durch Kleriker und der Sexuallehre der Kirche, dem Pflichtzölibat und der negativen Einstellung der Kirche zur Homosexualität. Die Kirche kann zur Entschärfung der Situation beitragen: indem sie Priesteramt und Zölibat voneinander abkoppelt, die negative Einstellung zur Homosexualität aufgibt, homosexuelle Männer selbstverständlich zum Priesteramt zulässt, und die Morallehre der Kirche über das, was im Bereich sexuellen Verhaltens richtig ist, der Wirklichkeit der Menschen von heute gerecht wird.

Die Kirche muss auch nicht erst noch klären, wer über die Täter hinaus institutionell Verantwortung für das Missbrauchsgeschehen in der Kirche getragen hat. Es ist das klerikale System, das ein oben und unten kennt. Und es sind vor allem die, die oben sind, also die Bischöfe, und jene, darunter auch Laien, die das klerikale System am Leben erhalten oder einfach weggeschaut haben. Dieses System hat dazu geführt, dass die Täter einfach versetzt wurden und die vom sexuellen Missbrauch Betroffenen nicht gehört, nicht ernstgenommen, nicht beachtet wurden.

Später, als man, aufgeschreckt durch die hohe Zahl an klerikalen Tätern, etwas sensibler wurde, dauerte es bei manchen Bischöfen sehr lange, bis sie bereit waren, auf die Opfer zuzugehen und sich im Namen der Kirche für das Verhalten der Täter zu entschuldigen. Jetzt, wo es höchste Zeit ist, sich für das eigene Verhalten als Bischof zu entschuldigen und gegebenenfalls Konsequenzen daraus zu ziehen, gewinnt man den Eindruck, dass viele Bischöfe in Deckung gehen und einfach hoffen, dass der Kelch an ihnen vorüber geht.

Auf die Frage, gestellt am Schluss der Pressekonferenz Ende September in Fulda, bei der die Missbrauchsstudie vorgestellt wurde, ob unter den mehr als 60 versammelten Bischöfen einer oder zwei sagen würden, ich habe so viel persönliche Schuld auf mich geladen, ich kann mein Amt nicht mehr wahrnehmen, gab es eine sehr kurze Antwort. Die hieß: Nein! Welch ein Armutszeugnis.

Es gibt inzwischen Bischöfe, die zu ihrer Schuld stehen. Doch sind sie wirklich bereit oder auch in der Lage, die notwendigen Veränderungen durchzuführen, die jetzt anstehen? Ich zweifle daran.

Jene, die schon vor vielen Jahren auf diese dunkle Seite der Kirche aufmerksam machten, die immer wieder darauf hinwiesen, dass es sich bei der sexuellen Gewalt in der Kirche nicht nur um Einzelfälle handelt, wurden oft nicht ernstgenommen oder gar als Nestbeschmutzer betrachtet. Wo stünden wir heute, hätte man ihnen auf Dauer kein Gehör geschenkt? Soll jetzt, wo es um die Forderung nach weitergehenden Konsequenzen geht (die Punkte habe ich oben genannt), das alte Spiel wieder von vorne beginnen? Erst Widerstand, dann Vorwürfe, das gehe zu weit, was ihr da fordert – das ist Missbrauch des Missbrauchs.

Dazu kommt: Was im Kontext der Kirche in den letzten Jahrzehnten geschehen ist, hat mit Recht Entsetzen ausgelöst. Es hat offenbart, ein welch schreckliches und menschenverachtendes System die Kirche sein kann. Da gibt es nichts zu beschönigen oder zu relativieren, etwa indem man darauf verweist, dass die Kirche in den vergangenen Jahren durch die Leitlinien und die Präventionsordnung eine Kehrwendung vollzogen hat und im Vergleich mit anderen Einrichtungen gut dasteht.

Tatsache ist: Die Kirche steht nicht gut da. Die Bischöfe stehen nicht gut da. Viele Kirchenmitglieder haben das Vertrauen in die Bischöfe verloren. Sie sind nicht länger bereit, sich mit Floskeln abspeisen zu lassen, das alles brauche Zeit oder muss auch unter weltkirchlichen Gesichtspunkten betrachtet werden.

Die Kirchenmitglieder, die sich in der Kirche noch engagieren und für sie einsetzen, erwarten, dass die Bischöfe endlich wirklich von ihrem Thron herabsteigen, der Macht entsagen und die Verantwortung in der Kirche auf Augenhöhe mit allen Männern und vor allem auch Frauen teilen, um gemeinsam diese schwere Krise zu bestehen – wenn es nicht schon zu spät ist.

Wunibald Müller

Der Würzburger Theologe und Psychotherapeut leitete von 1991 bis 2016 das Recollectio-Haus der Abtei Münsterschwarzach, wo Priester und kirchliche Mitarbeiter in Krisenzeiten Unterstützung finden. Immer wieder meldet sich der 68-Jährige kirchenkritisch zu Wort, auch in seinen Büchern. Zuletzt erschien unter anderem „Warum ich dennoch in der Kirche bleibe“ (Kösel) und „Der Letzte macht das Licht aus?“ (Echter). cj
 
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