
Es sollte ein ganz besonderes Projekt des Jungen Theaters der Frankenfestspiele Röttingen werden: das Musical "Heidi". "'Heidi' ist unser erstes eigenes Musicalprojekt mit Jugendlichen", erklärt Frederike Faust, Leiterin des Jungen Theaters. "Wir haben beim Jungen Theater so viele Talente, die nach der Grundschulzeit einfach verschwinden – die wollten wir gerne wieder einfangen."
Mit 30 Schülerinnen und Schülern aus der Region zwischen elf und 17 Jahren war das Projekt im Oktober 2019 gestartet; die Aufführung war im Advent 2020 auf Burg Brattenstein in Röttingen geplant. Doch dann kam Corona – und die Proben gingen in eine lange Zwangspause. "Bis zum Lockdown im März hatten wir ungefähr zehn Mal geprobt", erzählt Faust. Bis dies wieder erlaubt war, vergingen Frühling und Sommer, und einige Kinder sprangen ab. Im September hätte das Projekt wieder Fahrt aufnehmen können. "Wir haben uns aber entschieden, erst im Oktober wieder anzufangen", so Faust. "Wir wollten warten, bis sich die Situation in den Schulen eingependelt hatte, außerdem war uns aufgrund der vielen Urlaubsrückkehrer das Infektionsrisiko zu hoch."

Mit der Entscheidung, die Proben wiederaufzugreifen, kam die Erkenntnis, das gesamte Stück umstellen zu müssen. "Wir haben alles vereinfacht und zum Beispiel aus dem dreistimmigen Chorsatz einen zweistimmigen gemacht", sagt Faust, "sonst würden wir es bis zur Aufführung nicht schaffen." Da ursprünglich viel Interaktion zwischen den Schauspielern vorgesehen war, musste Corona-bedingt auch das Setting des Stücks völlig neu geplant werden. Auf der Bühne stehen nun 21 Stühle, für jedes Kind einer. "Die Kinder dürfen sich nicht ansingen", erklärt Faust, "daher sind die Stühle in V-Form angeordnet." Auf der einen Seite der Bühne soll die Kulisse der Alm zu sehen sein, auf der anderen die Szenen, die in Frankfurt spielen.
Wenn die Kinder gerade keinen Sprech- oder Gesangspart haben, sitzen sie auf ihren Stühlen; die Kinder in Aktion kommen zum Spielen nach vorne. Bei Liedern, bei denen auch getanzt wird, wurde die bisherige Choreografie in eine "Stuhlchoreografie" umgewandelt. "Mit den Stühlen kann man viel machen, das sieht gut aus", so Faust. Das Team sei mittlerweile pragmatisch, wenn es darum gehe, neue Lösungen zu finden, "wir haben keine Zeit, uns an etwas festzubeißen".
Und dann sind da noch ganz praktische Probleme: Da die Schüler auf der Bühne Mikroports tragen - kleine schnurlose Mikrofone, die am Kopf befestigt werden -, sind Masken keine Option. Auch das Abstand Halten beim Spielen sei schwierig. "Unter den jetzigen Umständen hätten wir das Stück gut absagen können", sagt Faust. "Aber so bin ich nicht." Es sei nicht wichtig, ein qualitativ möglichst hochwertiges Stück auf die Bühne zu bringen. "Wichtig für die Kinder ist, dass es überhaupt passiert." Fausts Anliegen ist es, den Kindern, deren Alltag sich durch Corona komplett verändert hat, Abwechslung, eine gemeinsame Tätigkeit und ein Ziel zu bieten. "Die Jugendlichen nach Corona wieder vor die Türe zu kriegen, wird eine große Aufgabe", ist Faust überzeugt. Viele hätten sich daran gewöhnt, viel Zeit mit dem Smartphone daheim zu verbringen.
Nach dem Entschluss, trotz völlig veränderter Rahmenbedingungen weiterzumachen, wurden die Proben auf Corona-Bedingungen umgestellt: Aus den gemeinsamen Proben wurden musikalische und choreografische Einzelproben, zu denen die Kinder unterschriebene Zettel mitbringen müssen, die sie als gesund ausweisen. "Die Probenplanung ist furchtbar mühsam", sagt Faust. Es gelte dabei immer, so wenig Menschen wie möglich zusammenzubringen; außerdem falle öfters jemand aus, da bereits bei einer Erkältung Unsicherheiten bestünden, ob man kommen solle. Seit Dezember liegen die Einzelproben auf Eis; voraussichtlich sollen sie Mitte Januar wieder aufgegriffen werden.

Als Gruppe sehen sich die Kinder nur noch online – mithilfe einer Software für Videokonferenzen auf dem PC, Laptop oder Smartphone. "Bei den Online-Proben geht es darum, ein Gefühl für das Stück zu bekommen", erklärt Faust. "Wann bin ich dran, wie lange habe ich Pause?" Ein Einblick in eine Online-Probe zeigt, dass auch diese ungewöhnliche Art des Probens funktioniert. 20 Kinder haben sich per Videokonferenz zugeschaltet und sind gleichzeitig auf dem Laptop zu sehen; sie alle sitzen in ihrem Zimmer auf dem Bett oder am Schreibtisch und haben ihr Skript vor sich.
Nachdem die ersten zehn Minuten mit technischen Fragen vergehen: "Amy kriegt ihre Kamera nicht an", "Hallo Emilia, sag‘ mal was", gehen die Kinder zum Stück über. Von Minute zu Minute läuft der Text flüssiger; das Ganze erinnert an ein Hörspiel, das trotz mancher Zeitverzögerung bei der Übertragung durch die unterschiedliche Qualität der Internet-Verbindungen seine ganz eigene Dynamik und Atmosphäre entwickelt.

Fragt man die Jugendlichen nach ihren Erfahrungen mit den Online-Proben, so sind sich die meisten einig: "Umso mehr wir’s machen, umso leichter wird’s", sagt Franka. "Man gewöhnt sich dran", stimmt Natalie zu. Dass man "erst mal kucken muss, mit wem man spricht", findet Heidi etwas schwierig; "es ist schon nochmal etwas anderes, wenn man sich in echt sieht", sagt Nora. Das kann Faust bestätigen: "Normalerweise wächst so eine Gruppe total zusammen – von Probe zu Probe wird mehr eine Gemeinschaft daraus. Das ist unter diesen Umständen kaum möglich."
So viele Hindernisse, Unsicherheiten, Kompromisse – würde die Regisseurin das Ganze nochmal initiieren, wenn sie im Vorfeld von Corona gewusst hätte? "Es ist alles ein bisschen verrückt", sagt Faust und lacht etwas müde. "Bei diesem Projekt gab und gibt es 1000 Unwägbarkeiten." So zum Beispiel die Frage, ob bei der Aufführung im Februar überhaupt alle Kinder dabei sein können – oder sich nicht eines oder mehrere gerade in Quarantäne befinden. Doch auch hier gibt es Plan B: Die größeren Rollen sind doppelt besetzt. Und so lautet das Fazit Fausts: "Der Kinder wegen würde ich es nochmal machen."
Einige schlaflose Nächte habe sie in den vergangenen Monaten gehabt, räumt Faust ein. Umso dankbarer sei sie für ihr Team: Nachdem die bisherige Regisseurin Anna Harandt das Projekt im Sommer verlassen hatte, übernahm Faust, bis dahin musikalische Leiterin, die Rolle der Regisseurin. Edith Wolff vom Gymnasium Weikersheim sprang spontan als neue musikalische Leitung ein und ergänzt damit das bisherige Team, das aus Angelina Lochner (Choreografie), Jutta Rietschel (Bühnenbild) und Matthias Engel (Kostüme) besteht.
Jenseits des Musical-Projekts stellt sich für Frederike Faust die Frage, ob Jugendliche nach Corona noch Interesse an Theater hätten. "Der Job von Theaterpädagogen wird nach Corona sehr wichtig sein", ist sie überzeugt. Corona sei eine "Mega-Katastrophe für die Kultur." Man könne nichts planen, dies gelte auch für die Frankenfestspiele. Viele kleinere Theater, die die Kulturszene geprägt hätten, würden zudem durch die Krise verschwinden. Faust ist enttäuscht, dass die Kultur in der Politik von Anfang der Pandemie an "ganz hinten in der Reihe" gestanden habe. Dabei ginge es nicht ausschließlich um Künstler – auch andere Berufe wie Techniker, Maskenbildner und Caterer seien von einem funktionierenden Kulturbetrieb abhängig. "Kultur ist systemrelevant", so Faust.
Das Musical "Heidi" (Text: Hannes Hirth, Musik: Martin Hanns, nach dem Roman von Johanna Spyri) sollte Mitte Dezember in der Tauberphilharmonie Weikersheim aufgeführt werden. Aufgrund der Corona-Beschränkungen wurde es auf Sonntag, 21. Februar, und Montag, 22. Februar, verschoben. Bereits gekaufte Karten behalten ihre Gültigkeit; für Montag gibt es Restkarten, die über das Röttinger Rathaus erworben werden können.
