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Würzburg
Hätte man den Messerangriff verhindern können? So identifiziert NRW potenzielle Gewalttäter
Die Zahl der Gewalttaten, die von  Menschen in psychischen Ausnahmesituationen begangen werden, nehmen zu. In NRW erprobt man ein Konzept zur Früherkennung.
Fünf Tage nach dem Messerangriff am Barbarossaplatz in Würzburg legen dort noch immer Menschen Blumen im Gedenken an die Opfer nieder.
Foto: Christoph Weiss | Fünf Tage nach dem Messerangriff am Barbarossaplatz in Würzburg legen dort noch immer Menschen Blumen im Gedenken an die Opfer nieder.
Michael Czygan
 |  aktualisiert: 08.02.2024 11:48 Uhr

Ob es islamistische Motive sind oder eine psychische Erkrankung ist - oder ein Zusammenspiel aus beidem -, die den 24-jährigen Somalier in Würzburg zum Gewalttäter werden ließen, müssen die Ermittler jetzt klären. Mitentscheidend ist in diesem Zusammenhang die Antwort auf die Frage, ob der Mann aufgrund seiner Vorgeschichte bereits im Vorfeld der Messerattacke als potenzieller Gefährder hätte auffallen müssen. In Nordrhein-Westfalen (NRW) hat die Politik Defizite im Umgang mit "Personen mit Risikopotenzial" erkannt - und das Projekt "PeRiskoP" im März 2021 ins Leben gerufen. Geht es nach Innenminister Herbert Reul (CDU), könnte es Modellcharakter für ganz Deutschland haben.

"Warum hatten wir Personen wie den Amokfahrer von Münster nicht auf dem Schirm?", habe er sich immer wieder gefragt, sagt Reul. Der Mann, der im April 2018 mit seinem Kleinbus in der Fußgängerzone der westfälischen Großstadt vier Menschen tötete und 20 weitere verletzte, sei psychisch auffällig gewesen. Nur hätten entsprechende Informationen die Sicherheitsbehörden nie erreicht. Es brauche einen besseren Austausch zwischen den Akteuren, die Informationen zu Risikopersonen haben, war Reuls Erkenntnis.

Personen mit Risikopotenzial früh erkennen 

Von Daniela Lesmeister, der Leiterin der Polizeiabteilung im Ministerium, ließ Reul ein "Handlungs- und Prüffallkonzept zur Früherkennung von und zum Umgang mit Personen mit Risikopotenzial (,PeRiskoP')" erarbeiten - analog zum Persikop, der Aufklärungsoptik eines U-Bootes. Ziel sei es, "dass Menschen mit unterschiedlichen Expertisen und Zuständigkeiten ein gemeinsames Instrument nutzen, um ihr Sichtfeld zu erweitern", so Lesmeister.

Daniela Lesmeister ist Abteilungsleiterin  Polizei im Innenministerium in Nordrhein-Westfalen.
Foto: Marcel Kusch, dpa | Daniela Lesmeister ist Abteilungsleiterin  Polizei im Innenministerium in Nordrhein-Westfalen.

"Entscheidend ist die Vernetzung", sagt die Polizei-Expertin, die zeitweise auch im Gesundheitsministerium arbeitete. In drei Pilotregionen - in Münster, Bielefeld und dem Kreis Kleve - treffen sich seit März regelmäßig Vertreter der Polizei, der Kommune, der zuständigen Gesundheits-,  Ausländer- und Schulbehörden, aber auch von psychiatrischen Kliniken und Beratungsstellen, um "sehr niederschwellig" Informationen auszutauschen, die auf mögliche Gefahren hindeuten. Neben Hinweisen auf schwere Krankheiten könnten das auch Kenntnisse über aggressives Verhalten auf Ämtern, in der Nachbarschaft oder in Schulen sein.

In Nordrhein-Westfalen hat man laut Innenministerium mit ähnlich organisierten "runden Tischen" bereits gute Erfahrungen unter anderem bei der Identifizierung von terroristischen Gefährdern und sogenannten Clan-Kriminellen gemacht.

Treffen helfen, den Blickwinkel der Experten zu weiten

"Diese ,PeRiskoP'-Gesprächsrunden sind ganz bewusst analog", betont Lesmeister. Wichtig sei es, eine Vertrauensbasis zwischen den Akteuren zu schaffen, damit diese sich in informeller Runde offen und zunächst auch vertraulich austauschen können. Schließlich sei ihr bewusst, so die Abteilungsleiterin, dass Mediziner einen auffälligen Menschen "anders betrachten" als beispielsweise die Polizei. Die Treffen trügen dazu bei, Verständnis für die unterschiedlichen Arbeitsweisen zu wecken und den Blickwinkel zu weiten. "Da können alle Seiten nur profitieren", sagt Lesmeister.

Ziel der runden Tische ist es, Risiken, die von psychisch auffälligen Menschen ausgehen, zunächst zu bewerten – und im Notfall schließlich Maßnahmen zu treffen, um "Gefahren für Leib und Leben anderer abzuwenden, aber auch, um die Gesundheit der Betroffenen selbst zu schützen". Diese Gefahren müssten "mehr als nur abstrakt sein", ein rein präventives Wegsperren verbiete das Polizeigesetz.

Tatsächlich zeitigt "PeRiskoP" bereits erste konkrete Erfolge. Aufgrund der Erkenntnisse und des Austauschs in den Gesprächsrunden seien seit März 2021 bereits mehrere Menschen mit hohem Gefährdungspotenzial identifiziert worden. Eine Person sei in der Folge in Untersuchungshaft genommen worden, zwei weitere seien in eine psychiatrische Klinik eingewiesen worden. "Gut möglich, dass so schwere Straftaten verhindert wurden", sagt Daniela Lesmeister. Gleichzeitig dürfe man sich von den Gesprächsrunden auch keine Wunder erwarten. Sorgfältige Arbeit der Sicherheitsbehörden könnten sie nicht ersetzen, "aber wertvoll ergänzen". Richtig bleibe aber auch: "Eine hundertprozentige Sicherheit wird es niemals geben."

Kein Generalverdacht gegenüber psychisch kranken Menschen

Wichtig ist den Verantwortlichen, keinen Generalverdacht gegenüber psychisch labilen oder kranken Menschen aufkommen zu lassen. Ziel des Konzepts sei es, "sorgsam mit Personen mit Risikopotenzial umzugehen und gleichzeitig Gefahren ernst zu nehmen". Durch die vertrauensvolle Zusammenarbeit, aber auch durch die Begleitung des Projekts durch Wissenschaftler, werde einer möglichen Stigmatisierung entgegengewirkt.

Herbert Reul hat "PeRiskoP" erst wenige Tagen vor dem Messerangriff in Würzburg bei einer Konferenz der Innenminister von Bund und Ländern vorgestellt und ist dabei nach eigener Einschätzung auf großes Interesse gestoßen. Im Herbst will man in Nordrhein-Westfalen eine erste Zwischenbilanz ziehen.

Von dieser Redaktion angesprochen auf "PeRiskoP", betont der bayerische Innenminister Joachim Herrmann (CSU): "Selbstverständlich haben wir in Bayern bereits ein umfassendes Gefährdungsmanagement." Dieses beinhalte "neben entsprechenden Risikoanalysen auch eine enge Zusammenarbeit mit den weiteren beteiligten Stellen wie beispielsweise den Staatsanwaltschaften und Gesundheitsbehörden".

Gleichzeitig, so Herrmann, arbeite man "ständig" daran, die Schutzmaßnahmen fortzuentwickeln. Deshalb sei er seinem Kollegen Reul für das Pilotprojekt "sehr dankbar". "Wir werden den Verlauf sehr aufmerksam verfolgen und prüfen, inwieweit wir unsere Maßnahmen nachschärfen können, um potenziell gefährliche Gewalttäter noch schneller erkennen zu können."

 
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    Ja! Wenn der Täter nicht vor Ort gewesen wäre, dann wäre es nicht passiert. Es hätte mindestens zwei Möglichkeiten gegeben. Kein berechtigter Grund auf Asyl - Abschiebung. Psychisch krank - keine Freilassung aus der Psychatrie.
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