Der Medizinprofessor Andrew Ullmann ist beides: Arzt am Würzburger Uniklinikum und Politiker. Seit 2017 sitzt der Infektiologe für die FDP im Bundestag und ist Obmann der Liberalen im Gesundheitsausschuss. Die Corona-Epidemie bewegt den 57-Jährigen in beiden Berufen. „Wir müssen jetzt schnell wissen, zu welchen Kollateralschäden die Pandemie im Gesundheitswesen geführt hat“, sagt der Politiker und Mediziner. Sorgen macht Ullmann, dass durch den Lockdown sowohl die Zahl der Vorsorgeuntersuchungen als auch die bestimmter wichtiger Krebsoperationen zurückgegangen ist.
Patienten hatten Angst vor einer Corona-Ansteckung
Zu diesem Ergebnis kommen unter anderem die AOK anhand der bundesweiten Abrechnungsdaten sowie und eine „Corona Task Force“ der Deutschen Krebshilfe und des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ). „Abklärungs- und Früherkennungsuntersuchungen finden nicht wie gewohnt statt und die Angst der Patienten vor einer Ansteckung beim Arztbesuch verschärft das Problem zusätzlich“, warnte die Task Force bereits im Mai.
Wurden wegen Corona Krebserkrankungen verspätet diagnostiziert und behandelt? Ja, sagt Krebsforscher Hermann Einsele von der Uniklinik Würzburg. Wegen der Pandemie habe man auch hier manche Krebstherapien vorübergehend stoppen müssen. Außerdem hätten Betroffene vermehrt erst im fortgeschrittenen Stadium die Klinik aufgesucht – aus Angst vor einer Corona-Infektion, so Einseles Beobachtung. Neuerkrankungen hätten dadurch erst verspätet behandelt werden können.
"Es sterben viel mehr Menschen an Krebs als an Covid-19", gibt Einsele, Direktor der Medizinischen Klinik und Poliklinik II, zu bedenken. Für das Jahr 2018 verzeichnet das Statistische Bundesamt in Deutschland 230 000 Krebstote. Die Würzburger Krebsexperten bitten Patienten, möglichst frühzeitig die Klinik aufzusuchen. Die Gefahr einer Ansteckung mit dem Sars-CoV-2-Virus sei minimiert.
Einschränkungen auch für wichtige Krebsstudien
Auch bei den wichtigen Krebsstudien habe es Rückschläge durch Corona gegeben, sagen die Würzburger Krebsforscher. Laut Professor Ralf Bargou ist die "Studien-Aktivität" bei allen großen deutschen Krebs-Zentren zurückgegangen. Die Gründe: ausbleibende Patienten, Umschichtung von Personal, fehlende Intensiv-Betten, die für Corona-Patienten freigehalten werden mussten. In Würzburg stellten die Onkologen auch Ressourcen für Studien zu Covid-Medikamenten zur Verfügung, so Bargou. Mittlerweile laufe der Studienbetrieb der Krebsforschung wieder normal.
FDP-Politiker Ullmann indes wollte mit einem detaillierten Fragenkatalog von der Bundesregierung wissen, wie groß das Problem tatsächlich ist. Die Antwort auf seine "Kleine Anfrage" enttäuscht ihn nicht nur, sie ärgert ihn: „Der Bundesregierung liegen keine konkreten Ergebnisse dazu vor, ob und inwieweit Krebstherapien in der stationären Krankenhausversorgung während der Covid-19-Pandemie verschoben, verkürzt oder abgebrochen wurden“, heißt es darin. Daten lägen nur bis „einschließlich denen des Jahres 2017 vor“. Das Robert Koch-Institut (RKI) prüfe immerhin mit den Bundesländern „die Machbarkeit einer detaillierten Analyse der Folgen der Covid-Pandemie auf das Krebsgeschehen in Deutschland“. Ausgang offen. Dabei, so Ullmann, hätten Kassen wie die AOK längst Daten vorgelegt.
Würzburger FDP-Politiker fordert Zahlen bis Ende September
„Laut der Bundesregierung werden wir erst ab Januar 2023 wissen, wie viele Krebserkrankungen während der Corona-Pandemie nicht entdeckt worden sind“, kritisiert Ullmann. Dabei müsse man "dringend die vorliegenden Daten im Abrechnungssystem auswerten, um die Erfahrungen aus dem Lockdown rechtzeitig vor einer möglichen zweiten Welle nutzen zu können“. Ullmann sagt: „Wir dürfen nicht noch mal unvorbereitet vor einem Lockdown stehen, sondern müssen die Versorgung bestmöglich aufrechterhalten.“ Dafür brauche man die Zahlen spätestens Ende September.
Angst vor einer Ansteckung, Verdrängung der Krebsvorsorge – doch auch die Isolation und Besuchsverbote im Lockdown haben nach Einschätzung Ullmanns eine negative Rolle gespielt. „Die Angst der Patienten vor Vereinsamung durch strikte Besuchsverbote darf sich nicht wiederholen, hier müssen wir uns in den Klinken besser vorbereiten“ Insbesondere wenn es um ältere Patienten gehe. „Wir müssen die Hygienemaßnahmen immer so anpassen, dass es für die Patienten menschenwürdig bleibt.“ Doch er betont: Die Ängste seien unbegründet. Durch die regelmäßigen Tests der Klinikmitarbeiter und der Patienten bei der Aufnahme sei ein Krankenhausaufenthalt kein Corona-Risiko.