Kein Datum hat die jüngere Geschichte der Stadt Würzburg so sehr geprägt wie der 16. März 1945, als bei einem britischen Luftangriff innerhalb weniger Minuten 85 Prozent der Stadt zerstört wurden und etwa 4000 Menschen den Tod fanden. Wie sollte man nach 73 Jahren mit diesem Gedenktag umgehen? Darüber sprach diese Redaktion mit Stadtheimatpfleger Hans Steidle.
Frage: Es gibt nur noch wenige Zeitzeugen, die die Zerstörung Würzburgs am 16. März 1945 bewusst erlebt haben. Der Jahrestag wird jedes Jahr in ähnlicher Form begangen. Besteht die Gefahr, dass das Gedenken irgendwann zu einem Pflichtritual wird?
Hans Steidle: Die Gefahr gibt es bei jedem Ereignis zu einem fest stehenden Termin, es sei denn, man wollte einen solchen Gedenktermin aufgeben. Der 16. März 1945 war der tiefste Einschnitt in der Stadtgeschichte, was die Zerstörungen und die Wucht des Ereignisses angeht. Das wird man auch weiterhin pflegen und pflegen müssen. Wie erinnert wird, ist eine zweite Frage.
Kernelemente des Erinnerns ind Kranzniederlegung und Glockenläuten. Sollte es dabei bleiben?
Steidle: Ich finde das Glockenläuten sehr gut, weil es ein unausgesprochenes Erinnern ist. 20 Minuten hört jeder, dass diese Stadt zerstört wurde. Jeder hat in dieser Zeit seine eigenen Gedanken und wird auch nicht belehrt. Auch die Kranzniederlegung gehört dazu, auch wenn sie nicht jedermanns Sache ist. Dazu kommt noch das Konzert. Das sind Elemente des Erinnerns, die einfach zu solchen fixierten Terminen gehören. Dennoch glaube ich, dass man auch ein faktenbezogenes Erinnern braucht.
Wie lässt sich das historische Geschehen samt seinen Ursachen in der deutschen Kriegsschuld einordnen, ohne den Eindruck zu erwecken, die Opfer des 16. März 1945 seien an ihrem Schicksal „selbst schuld“ gewesen?
Steidle: „Selbst schuld“ – solche Aussagen hat es gegeben, und sie sind natürlich falsch. Zivilisten, die im Krieg umgebracht wurden, sind Opfer, ob sie nun auch Täter waren oder nicht. Es gibt zwei bemerkenswerte Romane, die die Zerstörung Würzburgs einbeziehen: „Nicht von jetzt, nicht von hier“ von Jehuda Amichai und „Die Jünger Jesu“ von Leonhard Frank. In beiden Romanen wird die Zerstörung in unmittelbaren Zusammenhang mit der NS-Diktatur gesetzt, teilweise als Rache oder Strafe dargestellt. Wenn man das Ganze etwas erweitert, wird aus dem dichterisch verknappten Bild die historische Wahrheit. Der Krieg, vom nationalsozialistischen Deutschland und den Deutschen begonnen, wurde zum totalen und zum Vernichtungskrieg ausgeweitet, zum Beispiel gegen die UdSSR. Und als totaler Krieg ist er dann nach Deutschland zurückgekehrt. Insofern waren auch die Bombenangriffe auf Deutschland eine Form des totalen Krieges, der von der deutschen Seite provoziert wurde und eine Antwort bekommen hat, die natürlich auch für jedes Opfer etwas Schreckliches ist. Aber man muss das persönliche Erleben und Leiden von den geschichtlichen Zusammenhängen unterscheiden. Das ist in Würzburg in den letzten Jahrzehnten zunehmend gemacht worden, zum Beispiel mit dem Gedenkraum zum 16. März.
Ist diese Sichtweise auch bei der Würzburger Bevölkerung angekommen?
Steidle: Die meisten Zeitzeugen des 16. März, die ich kennengelernt habe, haben mir durchaus gesagt: Das hat mit dem Hitler zu tun. Meine Mutter hat damals ein Tagebuch geführt, in dem steht: „Der Bombenkrieg ist die Bestrafung.“ Es gab allerdings eine längere Zeit, in der man immer das eine Leid gegen das andere aufgerechnet hat, in etwa: Wir haben die Juden verfolgt, ihr habt uns die Städte zerstört. Das war der Versuch, die Einsicht in die historischen Zusammenhänge zu blockieren. Die deutsche Geschichte hat ein Problem: Wenn wir als Deutsche in die Geschichte schauen, stoßen wir auf etwas, das erschrecken muss: das „Dritte Reich“. Da muss man einem unheimlichen Zivilisationsbruch standhalten und hineinschauen. Das tut weh, und man braucht Mut dazu. Und es braucht auch Mut, sich mit den Zusammenhängen einer solchen Zerstörung, wie sie in Würzburg geschehen ist, auseinanderzusetzen und zu schauen, welche Wurzeln es dafür in Würzburg gegeben hat. Also zum Beispiel Werner Heyde mit seiner T 4-Aktion (Ermordung von etwa 70 000 behinderten und kranken Menschen zwischen 1940 und 1945 – d. Red.) und eine ganze Menge anderer Nationalsozialisten, die diesen Krieg mit vorangetrieben haben.
In Deutschland ist eine politische Rechtsverschiebung zu beobachten. Besteht die Gefahr, dass Gedenktage wie der 16. März missbraucht werden?
Steidle: Diese Gefahr gibt es, und sie wird auch nicht aufhören. Dazu bieten sich solche Termine einfach an. Was man allen Rechten sagen muss: Der Nationalsozialismus war doch gerade nicht patriotisch! Das Regime hat die eigene Bevölkerung als Geisel genommen und deren Not und Elend bewusst hervorgerufen.
Wie kann die Stadtgesellschaft entsprechenden Tendenzen begegnen?
Steidle: Wir sollten einfach das weitermachen, was wir gemacht haben: der Wahrheit, so wie wir sie bis jetzt herausgefunden haben, Gehör verschaffen. Diese Gewalt und diese Vernichtung gingen von Deutschland und den Deutschen und damit auch von Würzburg aus und sind dann zurückgekommen. Es kommt selten vor in der Geschichte, dass der Sachverhalt so eindeutig ist. Diese Eindeutigkeit muss man betonen, aber man darf sich auch dem Schmerz und der Trauer, die Menschen empfinden, nicht verwehren.
Welche Formen der Erinnerungskultur sind denkbar, um der jetzigen jungen Generation und künftigen Generationen die von Ihnen beschrieben Zusammenhänge zu vermitteln?
Steidle: In Würzburg haben wir ein Problem: Wir haben kein Stadtmuseum mitten in der Stadt. Wir bräuchten schon in der Stadt einen Punkt, wo Stadtgeschichte einen Platz hat. Dabei denke ich nicht an ein Museum mit Objekten, sondern an einen Erinnerungs- und Lernort, wo man interaktiv mit Bildern und Tondokumenten arbeiten kann. Das könnte in Zusammenarbeit zwischen Stadtarchiv, Fachbereich Kultur und Museum für Franken geschehen. Damit könnten auch Projekte an Schulen gefördert werden, und diese Stelle sollte auch für die Bürger offen stehen.
Wie ließen sich da die Bürger Würzburgs einbeziehen?
Steidle: Zunächst: Ohne bürgerschaftliche Initiativen hätten wir in Würzburg zum Beispiel keine Stolpersteine. Wenn man weiter denkt, sollten wir übergehen von der Form der Belehrung und des Führens zur Form des Anregens und Beratens. Ich denke, da könnte auch viel in offenen Foren in den Stadtteilen gemacht werden. Wichtig ist auch eine Unterstützung der Schulen, zum Beispiel durch Historiker oder auch den Stadtheimatpfleger. Dafür bräuchte es eben eine „Geschichts-Dienststelle“ in der Stadt. Man könnte ja zum Beispiel im Mozartareal vier Klassenräume dafür reservieren. Da müsste man eben mal eine fünfstellige Summe investieren. Ganz grundsätzlich: Bis jetzt ist mir das Gedenken zu sehr auf die Kirche und auf die Musik ausgerichtet und zu wenig auf die Menschen hier in Würzburg.
Reicht der Blick zurück?
Steidle: Beim Thema Krieg geht es vor allem um Aufmerksamkeit. Ich fände es an einem solchen Gedenktag gut, auch an die Kriege zu erinnern, die heute stattfinden. Es sind ja Menschen hier, die aus Regionen kommen, in denen Krieg ist. Warum lassen wir statt eines historischen Vortrags nicht lieber Flüchtlinge berichten, die in Homs oder anderen Städten erlebt haben, wie der Krieg sie zermürbt oder vielleicht auch zu Widerstand gebracht hat? Man sollte den 16. März zu einem Tag machen, an dem die Bürger sich aussprechen können. Stilles Gedenken allein reicht nicht.
Sollte der 16. März – von den offensichtlichen Wunden abgesehen – stärker im Stadtbild verankert werden?
Steidle: Es gibt zwei oder drei Ruinenplätze, da würde ich sagen: nicht mehr bebauen, zum Beispiel bei der Ruinenwand im alten Mainviertel, an der man einfach einen leeren Platz lassen sollte. Darüber hinaus wäre es denkbar, am 16. März abends an bestimmten Stellen in der Stadt Bilder zu projizieren, so dass man sieht, wie der Bombengriff auf das Stadtbild eingewirkt hat. Spontan fällt mir da die Peterskirche ein, deren Fassade nach dem 16. März zur Hälfte weggerissen war.
Der 16. März als Gedenktag war über viele Jahrzehnte hinweg auch stark emotional aufgeladen, was wohl damit zusammenhing, dass viele Würzburger noch eine persönliche Erinnerung an die Bombennacht hatten. Glauben Sie, dass der emotionale Aspekt künftig in den Hintergrund treten wird?
Steidle: Da spricht einiges dafür. Andererseits merkt man der Stadt die Zerstörung heute noch an. Jeder, der durch Würzburg geht, spürt, dass es da eine ganz alte Stadt gab – die aber nicht mehr da ist. Von daher wird man auch künftig immer wieder die Frage nach der Zerstörung stellen.
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Ich denke, dass dies noch Generationen dauern wird. Jeder, der die Schilderungen von Müttern und Großmüttern gehört hat, der den Schmerz in den Gesichtern gesehen hat, ist noch immer zutiefst berührt. - Es liegt an uns, unseren Kindern und Enkeln dieses "Kollektive Gedächtnis" zu erhalten - den damaligen Betroffenen zum Gedenken und den heute Lebenden zur Warnung.
Aus diesem Grund werde auch ich heute abend mit meinem Kind und meinen Enkeln vor dem Dom stehen...
Das war fesselnd,bedrückend,bewegend und spannend,sowie nahezu unglaublich,was die Menschen damals mitmachen mussten,die den Bombenangriff auf Würzburg überlebten.
Die Zerstörung,die mangelden Schlafmöglichkeiten,Lebensmittel, die tagelangen Schwelbrände danach,wie Dunstglocken hingen die wohl über der Stadt.
Das werde ich nie vergessen.
Ein bedrückendes Zeugnis mainfränkischer Zeitgeschichte.