Heute Nacht feiern wir die Geburt Jesu, seine Menschwerdung – ein Anlass zur Freude, zum Feiern, zur Dankbarkeit. Wenn ich Berichte von der polnisch-belarussischen Grenze oder die prekäre Lebenssituation in so vielen europäischen Flüchtlingscamps sehe, von Bootsunglücken und Toten im Mittelmeer höre oder in meiner Arbeit Geflüchteten zuhöre, dann will es in mir so gar nicht weihnachtlich froh werden.
Dann trage ich unendlich viele Fragen in mir. Oft spüre ich Trauer, Wut oder auch Verzweiflung über zerstörerische Systeme und schier unüberwindbare Grenzen, seien es nun die realen Grenzzäune oder innere Zäune der Ablehnung.
Seit 2008 begleite ich in einem Team aus Pflegekräften, Ärzten und Studierenden – unter der Leitung von Professor Dr. August Stich, Chefarzt der Tropenambulanz des Klinikum Würzburg Mitte, Standort Missioklinik – geflüchtete Menschen in drei Würzburger Gemeinschaftsunterkünften für Asylbewerber. Angefangen hat das Projekt mit Gesundheitskursen, daraus wurde ein kontinuierliches, niederschwelliges Angebot der hausärztlichen Versorgung. Wir sind präsent vor Ort und als Ansprechpersonen da.
Geflüchtete kommen ins Sprechzimmer, weil sie einfach reden wollen
Die Menschen können einfach zu uns kommen, ohne vorher einen Behandlungsschein beantragen oder andere Hürden überwinden zu müssen. Geflüchtete kommen ins Sprechzimmer, weil sie einfach reden wollen und sich Begegnung wünschen. Sie suchen einen Menschen auf, zu dem sie Vertrauen fassen können, der das oft Unaushaltbare mit aushält, sie nicht bewertet nach ihrem rechtlichen Status, sondern ihnen als Du begegnet.
Das Wichtigste, das wir in unserer Arbeit schenken dürfen, ist die Zusage: "Ich bin da, ich gehe ein Stück mit dir, ich halte mit dir aus." Weltweit waren 2020 insgesamt 82,4 Millionen Menschen – dies entspricht etwa der Bevölkerung Deutschlands – von Flucht und Vertreibung betroffen. 48 Millionen davon sind sogenannte Binnenvertriebene, also Menschen, die innerhalb ihres eigenen Landes auf der Flucht sind.
Auch Maria und Josef aus der Weihnachtserzählung kennen das Unterwegssein. Schon vor der Geburt Jesu mussten sie sich – gemäß der biblischen und legendären Überlieferung – auf den Weg nach Betlehem machen, um sich in Steuerlisten eintragen zu lassen. Es gab keinen Platz in der Herberge, niemand wollte die Gebärende aufnehmen.
Auch die heilige Familie war auf der Flucht
Kurze Zeit nach der Geburt Jesu war die heilige Familie auf der Flucht. Maria und Josef konnten ihr Leben und das Leben des neugeborenen Kindes Jesu nur durch ihre Migration retten. Um der Verfolgung durch Herodes zu entkommen, verließen sie ihre jüdische Heimat, ihre Kultur und Familie. In Ägypten fingen sie in der Fremde neu an und lebten in Unsicherheit und Angst.
Diese Gefühle kennt auch Makeba, deren Leben anders verlaufen ist, als sie es erhofft und erträumt hatte. Sie war frisch verheiratet, glücklich und schwanger. Ihr Ehemann wurde aufgrund seiner politischen Aktivität verhaftet. Mit der Hilfe von Freunden konnte er aus dem Gefängnis fliehen und sah seinen einzigen Ausweg darin, seine Heimat zu verlassen. Seine Verfolger würden ihn innerhalb des Landes überall finden. Er wollte alleine fliehen und seine Frau später nachholen, weil die Flucht so gefährlich war. Makeba wollte aber nicht ohne ihren Mann zurückbleiben. Dazu kam die Angst vor den Verfolgern ihres Mannes. Und sie wollte ihr erstes gemeinsames Kind nicht alleine zur Welt bringen.
Doch im Sudan wurde das Ehepaar getrennt. Plötzlich war Makeba alleine. Bei einem kurzen Stopp mitten in der Wüste flehte sie ein Mann an, ihm etwas Wasser zu geben, da er seinen Vorrat schon verbraucht hatte. Makeba erzählte mir: "Ich wusste, dass er sterben wird, wenn ich ihm nichts gebe, aber ich hatte selbst kaum noch genug zum Überleben. Ich gab ihm nichts, ich wollte leben, mein Kind sollte leben, aber noch heute denke ich an ihn."
In Libyen kam Makeba ins Gefängnis, wo sie Blutungen bekam und ihr erstes Kind verlor. "Zum Trauern blieb keine Zeit. Die Blutung schützte mich sogar", sagte sie. "Immer wieder wurde Eine von uns geholt, alle wussten, was dann passierte." Dem Gefängnis entkommen, erlebte sie erneut Gewalt und sexuelle Übergriffe als Hausmädchen, bis sie endlich genug Geld für die Schlepper zusammen hatte.
In einem klapprigen Boot erreichte Makeba Italien
In einem alten, klapprigen Boot erreichte sie Italien und erfuhr dort, dass ihr Mann in Deutschland ist. "Es war der schönste Moment in meinem Leben, endlich wieder bei meinem Mann zu sein – zu dem Zeitpunkt wusste ich noch nichts von Dublin und dass Deutschland mich wieder nach Italien schicken wird", so Makeba.
Anfang Dezember hat Papst Franziskus Geflüchtete auf der Insel Lesbos besucht. Ich bin dankbar für seine deutlichen Worte über Verwundungen in unserer Zeit. Er bezeichnete das Mittelmeer als "kalten Friedhof ohne Grabsteine" und rief dazu auf: "Lasst uns diesen Schiffbruch der Zivilisation stoppen!"
Und so feiere ich Weihnachten mit all meinen Fragen, Sorgen, Wünschen und Hoffnungen. Ich will mich auch in diesem Jahr vom Geschenk der Menschwerdung Gottes berühren lassen. Ich will mich von seiner mitfühlenden Nähe ermutigen lassen, für Menschen da zu sein, ihren Schmerz zu teilen, die Hoffnung nicht aufzugeben, dass Systeme sich ändern, Mauern fallen und wir den Schiffbruch der Zivilisation stoppen.
Diese Ermutigung und ein frohes Weihnachtsfest wünsche ich auch Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, mitten hinein in Ihren Alltag, in Ihre geplanten oder erzwungen Aufbrüche, in Ihre Sorgen, Fragen und Hoffnungen.