Das Auto verschwindet nach der Kurve. Dieses Bild bleibt Klaus Hünlein im Gedächtnis. Am Steuer sitzt sein Vater. "Er ist aus unserem Leben hinausgefahren", sagt der Busunternehmer aus Remlingen im Landkreis Würzburg. Sein Vater, Robert Hünlein, sollte wenige Tage nach der Abfahrt bei einem Flugzeugabsturz am 3. Dezember 1972 auf Teneriffa ums Leben kommen.
50 Jahre danach sitzt Klaus Hünlein im gemütlichen Wohnzimmer. Auf dem Tisch liegen alte Fotos, leicht vergilbte Zeitungsberichte. Wenn der 64-Jährige von seinem Vater erzählt, dann sind keine 50 Jahre vergangen. Dann steht er im Schlafanzug am Fenster. Wie ein Film in Zeitlupe läuft die Szene vor seinem inneren Auge ab. Der Vater fährt weg. Dass es für immer ist, weiß er damals nicht.
Der Landesverband Bayerischer Omnibusunternehmen organisierte die Reise
Eigentlich hat der 14-Jährige an jenem Morgen früher aufstehen und sich von seinem Vater verabschieden wollen. Er verpasst ihn um wenige Minuten und schaut ihm nach, wie er sich auf den Weg macht in den Urlaub. An der luxuriösen Informationsreise, organisiert vom Landesverband Bayerischer Omnibusunternehmen (LBO), nehmen rund 250 Personen teil. Nicht nur LBO-Mitglieder, sondern auch Angehörige, gute Bekannte.
Im italienischen Genua geht es an Bord der MTS Jason. Die Kreuzfahrt führt mit Stopps im spanischen Barcelona und Malaga nach Nordafrika, vorbei an Gibraltar bis zur Kanareninsel Teneriffa. Robert Hünlein, unterfränkischer Bezirksvorsitzender im LBO, wird von seinem Freund Karl Klein begleitet. Ehefrau Erika bleibt zu Hause bei den Söhnen Klaus und Gerhard. Der gemeinsame Flug ist der 40-Jährigen nicht geheuer. "Was ist, wenn uns etwas passiert, was wird dann aus unseren Kindern?"
Das seien die Überlegungen seiner Mutter gewesen, erzählt Klaus Hünlein. Seine Mutter ist heute 90 Jahre alt. "Sie will nicht mehr darüber reden", sagt der Remlinger. Es würde sie zu sehr aufwühlen.
Die Hafenstadt Santa Cruz ist am 2. Dezember 1972 die letzte Station. Von dort aus soll es am nächsten Morgen in die Heimat zurück gehen – mit zwei Flugzeugen. Die Reisegruppe wird geteilt.
Kapitänsdinner und Abschiedsball am Abend vor dem Unglück
Am Abend steht ein Kapitänsdinner auf dem Programm. Ein Foto zeigt Robert Hünlein, wie er vom Schiffsführer begrüßt wird. Der Abschiedsball danach solle nicht so lange ausgedehnt werden, lautet der Rat im Bordmagazin, "da viele von Ihnen bereits sehr zeitig früh nach München zurückfliegen müssen".
Um 6.45 Uhr Ortszeit startet am 3. Dezember 1972 bei dichtem Nebel das erste Flugzeug vom hochgelegenen Flugplatz "Los Rodeos" im Norden Teneriffas in Richtung München: eine sehr schnelle vierstrahlige Convair 990 Coronado der spanischen Charterfluggesellschaft Spantax. An Bord 148 Passagiere und sechs Crewmitglieder, darunter eine Stewardess aus Hannover.
17 Opfer des Flugzeugabsturzes kommen aus Unterfranken
Sekunden später sind bis auf eine Person alle sofort tot. Darunter Rudolf Schönecker, der Präsident des LBO, seine Tochter und Schwiegertochter. Schöneckers Sohn fliegt mit der zweiten Maschine. Die Frau, die zunächst lebend gefunden werden kann, stirbt auf dem Weg ins Krankenhaus an ihren schweren Verbrennungen.
17 Opfer sind aus Unterfranken: aus Schweinfurt, Poppenlauer, Volkach, Remlingen, Giebelstadt und Uffenheim sowie dem Raum Main-Spessart und Miltenberg. Von dem Unglück sind bayernweit rund 60 Busunternehmen betroffen. Über 100 Kinder werden laut damaligen Zeitungsberichten zu Waisen. Eine bundesweite Spendenaktion der Verkehrsverbände soll in der Not helfen.
Schnell machen Spekulationen über die Absturzursache des Spantax-Flugs 275 die Runde: Sabotage. Triebwerksschaden. Letztlich ist es laut dem Untersuchungsbericht ein Pilotenfehler, der den Flieger bei ungünstigen Wetterverhältnissen in Rückenlage auf dem Boden aufschlagen und explodieren lässt. Der Kapitän soll bei Sicht nahezu Null in 90 Metern Höhe bei zu geringer Geschwindigkeit eine Kurve eingeleitet haben, deshalb sei die Maschine abgekippt, heißt es im Untersuchungsbericht der von Spanien beauftragten Fluggesellschaft Swissair. Augenzeugen zufolge hätten die Flammen den Nebel orangerot gefärbt und dichter dunkler Rauch das unvorstellbare Chaos eingehüllt.
Hildegard Artmeier entscheidet sich am Vorabend der Abreise, dass sie und ihr Mann Josef mit der zweiten Maschine fliegen. Deshalb streicht ein LBO-Organisator die Namen des Busunternehmer-Ehepaars aus dem niederbayerischen Deggendorf "mit roter Farbe" durch und schreibt sie in die zweite Passagierliste, erzählt die Tochter des Ehepaars 50 Jahre später am Telefon. Gleichzeitig seien dafür zwei andere Namen auf die erste Liste eingefügt worden.
Die heute 72-Jährige Tochter, die wie ihre Mutter Hildegard heißt, war nicht dabei. Aber an die Schilderungen ihrer mittlerweile verstorbenen Eltern erinnert sie sich, als wäre alles erst gestern passiert. Ihre Stimme wird brüchig, als sie sagt: "Dieser Tausch rettet meinen Eltern das Leben." Berichte, die heute noch kursieren, nach denen ihre Mutter wegen der Enge im vollen Flieger in Panik geraten und wieder ausgestiegen sei, "die stimmen nicht".
Warum wollte ihre Mutter mit der zweiten Reisegruppe fliegen? "Sie hat schon immer Dinge gespürt und sich auf ihr Bauchgefühl verlassen", sagt Hildegard Artmeier-Schwarzmüller. "Sie hatte diese Gabe."
"Ein letzter Gruß": Ansichtskarte des Vaters kommt Tage nach dem Absturz in Remlingen an
Kurz vor dem Abflug hat Robert Hünlein seinem Sohn Klaus eine Ansichtskarte geschrieben. Sie kommt Tage nach dem Absturz an. Ein letzter Gruß von ihm. Der 64-Jährige hütet sie, holt sie jedoch selten hervor. Zu sehr berühren ihn die Zeilen.
Nicht nur die Abfahrt des Vaters, auch der geplante Ankunftstag ist dem Remlinger noch sehr präsent. Er sitzt an diesem Unglückssonntag in der Kirche. "Es war ein sonniger Morgen, ich sehe noch das Licht, wie es durchs Fenster den Raum erhellt." Zu Hause bereitet die Mutter das Mittagessen vor. "Hühnchen, das weiß ich noch ganz genau."
Bevor es serviert wird, klingelt das Telefon. Eine Verwandte von Karl Klein, Hildegard Wehr, fragt: "Habt ihr es schon gehört … ?"
Von da an hofft die Familie, dass Robert Hünlein mit der zweiten Maschine unterwegs ist. Erika Hünlein versucht den ganzen Sonntag, telefonisch Auskunft zu erhalten. Letztlich gelingt ihr am Abend mit einem Redakteur der "Bild"-Zeitung in München zu sprechen. Ihm liegt die gegen 17 Uhr veröffentlichte Passagierliste vor.
In seinem Bericht danach wird der Reporter das Telefonat schildern: "Bitte, bitte, Sie müssen mir die Wahrheit sagen. Steht ein Robert Hünlein auf der Liste?" Er findet unter der Nummer 113 den ähnlich klingenden Namen Hunlin und antwortet der verzweifelten Frau, er könne nichts Endgültiges sagen.
Kurz darauf liegt die Korrektur vor. Erika Hünlein hört beim zweiten Telefonat den Namen ihres Mannes.
50 Jahre später liest ihr Sohn diesen Artikel zum ersten Mal. Der Landesverband Bayerischer Omnibusunternehmen hat ihm erst kürzlich die alten Presseberichte zugesendet. Klaus Hünlein kann sich aber gut daran erinnern, was nach diesem Anruf vor 50 Jahren passiert. Nun ist es traurige Gewissheit. Robert Hünlein kehrt nicht mehr zu seiner Familie zurück. Das Leben teilt sich – in ein Davor und ein Danach.
Auch bei den Artmeiers ist ab dem 3. Dezember 1972 nichts mehr wie zuvor. Obwohl Radio und Fernsehen schnell von dem tragischen Unglück berichten, sind ihre Kinder in Deggendorf ahnungslos. Erst ein Fahrer ihres Busunternehmens informiert sie. "Schneeweiß im Gesicht" habe er an der Türe gestanden, erzählt Hildegard Artmeier-Schwarzmüller.
Irgendwann danach ruft der Vater an: "Wir leben, wir leben!" Er will nach der Tragödie eigentlich mit dem Schiff nach Deutschland zurück. Steigt dann aber doch ins nächste Flugzeug in Richtung München.
Die Artmeiers wissen, dass ihr Glück, ihr Überleben, den Tod zweier Menschen bedeutete. "Wer durch den Tausch für meine Eltern gestorben ist, haben wir nie erfahren", sagt Hildegard Artmeier-Schwarzmüller. Wieder wird ihre Stimme leise. Sie seufzt, erwähnt die großen Schuldgefühle.
Eine Woche nach der Katastrophe gibt es in einer Wartungshalle am Flughafen München-Riem eine Trauerfeier. 149 Eichensärge stehen am Boden. Erika Hünlein ist da. Ebenso Bundespräsident Gustav Heinemann, Bayerns Ministerpräsident Alfons Goppel, Kardinal Julius Döpfner, der Erzbischof von München-Freising mit unterfränkischen Wurzeln, sowie der evangelische Landesbischof Hermann Dietzfelbinger.
Flugzeugabsturz gilt als Geburtsstunde der Identifizierungskommission
Das Bundeskriminalamt (BKA) hat nach dem Absturz Spezialisten des Erkennungsdienstes auf die Kanareninsel geschickt. Das Ereignis gilt beim BKA als Geburtsstunde der Identifizierungskommission (IDKO). Das Bayerische Landeskriminalamt stellt laut eigenen Angaben dafür mit 36 Mitarbeitern das größte Kontingent.
Zum Zeitpunkt der Trauerfeier sind jedoch nur wenige Opfer identifiziert. Auf den Särgen stehen Nummern. Die Angehörigen werden anschließend gebeten, anhand von Schmuck oder anderen persönlichen Gegenständen bei der Zuordnung der Leichen zu helfen.
Erika Hünlein erkennt die verschmorte Armbanduhr. Nun kann sie sich sicher sein, dass ihr geliebter Mann im Sarg liegt. Kurz vor Weihnachten 1972 wird er in Remlingen beerdigt.
Gerhard Hünlein bringt 50 Jahre später Rosen für den Vater an die Startbahn
Der 64-Jährige Klaus Hünlein hütet die Uhr wie die Ansichtskarten. Zehn Jahre nach dem Schicksalsschlag tritt er in die Fußstapfen seines Vaters und wird später das 1928 von seinen Großeltern gegründete Busunternehmen der Familie übernehmen.
Auch sein Bruder ist in dem Unternehmen tätig. "Gerhard ist vor einigen Tagen überraschend in Urlaub geflogen und war am 3. Dezember auf Teneriffa", erzählt Klaus Hünlein. Eine nette Mitarbeiterin habe ihn am Flughafen in den normalerweise gesperrten Bereich gelassen.
Drei rote und eine gelbe Rose liegen nahe der Startbahn auf der dunklen Erde. Ein letzter Gruß für den Vater.