Sie sind kraftlos und müde. Selbst Schlafen bringt Betroffenen oft keine Erholung. Kochen, Putzen, Treppensteigen oder Einkaufen werden zur Qual. Es ist, sagt die 69-jährige Gerda Will aus Albertshofen (Lkr. Kitzingen), "als ob dir jemand den Stecker zieht."
Was die Rentnerin plagt, ist die sogenannte Tumor-assoziierte Fatigue. Eine unendliche Müdigkeit, die Krebskranke aus heiterem Himmel übermannt – selbst wenn sie sich davor überhaupt nicht angestrengt haben. Der Wille ist da, aber die Energiereserven sind leer. Der Körper streikt.
Die meisten Krebspatientinnen und -patienten leiden unter Fatigue
Bis zu 90 Prozent aller Krebspatientinnen und -patienten leiden während oder kurz nach einer Therapie unter dieser Art von Fatigue, bis zu 50 Prozent behalten sie chronisch. Das belastende Syndrom tritt meistens während, vielfach aber auch erst lange nach der Krebsbehandlung auf.
Nicht zu verwechseln ist eine Tumor-Fatigue mit dem Chronischen Fatigue-Syndrom (CFS). Dies ist eine schwere neuroimmunologische Erkrankung, die zu lang anhaltender Erschöpfung führt. Sie wird anders, mitunter sogar gegensätzlich behandelt. Während man beim CFS mit körperlicher Aktivität zurückhaltend ist, gilt Bewegung bei Tumor-Fatigue als der wichtigste Therapie-Baustein.
Tumor-Fatigue-Sprechstunden bei der Krebsberatungsstelle in Würzburg
Dazu kommen eine gesunde Ernährung mit möglichst mediterraner Kost, guter Schlaf und das eigene Energiemanagement. "Man muss lernen, nie die letzten Reserven aufzubrauchen", sagt Dr. Anne Quenzer, Ärztin für Gynäkologie und Geburtshilfe an der Würzburger Uniklinik.
Sie hält seit Februar 2022 regelmäßig Tumor-Fatigue-Sprechstunden bei der Psychosozialen Krebsberatungsstelle der Bayerischen Krebsgesellschaft in Würzburg. Wer eine Krebsdiagnose hat, kann sich für einen Termin anmelden.
Gerda Will hat sich vor Jahren schon einmal selbst aus dem Sumpf gezogen. 2009 bekommt sie Brustkrebs, bringt die komplette Therapie mit Chemo, Operation und Bestrahlung hinter sich. Eine mehrjährige Hormontherapie folgt. Damals leitet sie noch die eigene Gärtnerei, ist täglich gefordert. "Nachmittags wurde dann mir todschlecht. Ich dachte, ich falle vom Stuhl." Urplötzlich fehlt jede Energie. Bei Erledigungen in Würzburg weiß sie manchmal nicht, wie sie noch zurück zum Auto kommen soll.
Dann hört sie von der Tumor-Fatigue, informiert sich auf eigene Faust – und kommt mit Bewegung, Ernährung und Auszeiten wieder in die Spur, fühlt sich fit. Doch die Freude währt nicht lange. 2019 erhält sie erneut die Diagnose Brustkrebs, diesmal die andere Seite. Wieder das volle Programm: Chemo, OP, Bestrahlung, Antikörpertherapie.
Fatigue zwingt viele Menschen dazu, ihre Lebensführung nach dem Krebs zu ändern
"Am Anfang ging gar nichts mehr", erinnert sich die 69-Jährige. "Ich wurde schnell müde, auch aggressiv, musste mich zur Bewegung zwingen." Diesmal holte sie sich Unterstützung bei der Krebsberatungsstelle. Die Fatigue-Sprechstunde, erinnert sie sich, "war ein Aha-Erlebnis, wie eine Sternstunde". Sie lässt sich auch von einer Psychotherapeutin begleiten.
Und dann sagt sie einen bemerkenswerten Satz: "Ich habe mir die Fatigue zum Freund gemacht, es geht nicht anders." Heißt: Sie hat die Erkrankung akzeptiert, hadert nicht. Gerda Will schaut weniger wehmütig in die gesunde Vergangenheit, vertröstet sich nicht in die Zukunft, sondern: "Ich versuche, im Hier und Jetzt zu leben. Jeden Tag aufs Neue." Das ist ihre Strategie. Ärztin Quenzer kann sie auf diesem Weg nur bestätigen.
Wenn Fatigue einsetzt, ist ein Tag oft gelaufen
Krebsberaterin Monika Müller weiß, wie schwer es vielen Betroffenen fällt, sich von einer gewohnten Lebensführung zu verabschieden. Und auch Gerda Will räumt ein: "Ja, das ist ein Verlust von Lebensqualität." Manchmal geht es ihr zwei Wochen lang gut, dann wieder kommen mehrere Müdigkeitsattacken innerhalb weniger Tage.
Sie fühlt sich dann nicht nur erschöpft. "Der ganze Körper setzt aus, es wird einem schlecht. Jeder Schritt ist schwierig." Es bleibt dann nur Hinlegen, "der Tag ist gelaufen." Es ist auch diese Unberechenbarkeit, die zehrt. "Vor lauter Euphorie habe ich Karten fürs Mozartfest gekauft", lacht Rentnerin Will über sich selbst. Ob sie an dem betreffenden Abend wirklich zum Konzert kann? Wer weiß.
Keine leichte Situation auch für die Angehörigen. Seit der zweiten Krebserkrankung sei ihr Mann sehr besorgt, auch die Tochter rufe regelmäßig an. Aber wieviel Besorgnis tut noch gut auf der Suche nach Normalität?
"Ein großes Problem ist die Unwissenheit", hat Expertin Quenzer gemerkt. Und denkt dabei nicht nur an die Angehörigen. Selbst viele Haus- und Fachärzte wüssten zu wenig über die Tumor-Fatigue. Als Folge werde das Syndrom nicht selten mit einer Depression verwechselt. "Das ist aber was anderes", erklärt die Medizinerin. "Bei der Depression fehlt der Antrieb. Bei einer Tumor-Fatigue spüren Sie Willen und Antrieb – aber es geht körperlich einfach nicht."
Eine Studie hat ergeben, dass 41 Prozent der befragten Krebspatientinnen und -patienten während ihrer Therapie von ihren Ärztinnen und Ärzten nicht auf Tumor-Fatigue angesprochen wurden. Anne Quenzer findet das bedenklich. Zwar sei noch nicht geklärt, wie und warum Fatigue als Begleiterscheinung von Krebs entsteht. Man könne die Folgen heute aber deutlich abmildern. Und im besten Fall verhindern, dass sie chronisch werden.
Gerda Will hat auch ihre zweite Krebserkrankung überstanden. Eigentlich, sagt sie, gehe es ihr wieder gut – auch wenn die Fatigue sie weiter begleiten und beeinträchtigen wird. Sie hat ihren Frieden damit geschlossen und einen selbstbestimmten Umgang mit der Krankheit gefunden. Deshalb kann sie auch einen solchen Satz sagen: "Trotz allem bin ich ein zufriedener Mensch."