Seit dem Frühjahr 2020 haben sich die Lebensbedingungen zahlreicher Familien in Deutschland zum teil drastisch verschlechtert, weil sich Krisenphänomene häuften und verschärften. Besonders Kinder sind die Leidtragenden. Unter dem Titel "Gleiche Chancen für Alle?" stehen am Mittwoch, 5. Juli, in den Mainfrankensälen in Veitshöchheim unter anderem Vorträge zu Kinderarmut und armutssensibler Zusammenarbeit mit Familien auf dem Programm. Die Veranstaltung richtet sich besonders an pädagogisches Schul- und Kita-Personal, aber auch an Tagesmütter und alle weiteren am Thema Interessierten.
Unter anderem wird der Kölner Professor Christoph Butterwegge über die Auswirkungen von Corona, Krieg und Inflation auf die Kinderarmut sprechen. "Wer über den Reichtum nicht sprechen will, sollte auch über die Armut schweigen, und wer die Armut wirksam bekämpfen will, muss den Reichtum antasten", sagte er vorab im Gespräch mit dieser Redaktion. Im Interview schildert er, warum Corona und Ukraine-Krieg die Situation für Familien verschärft haben, wann man als "arm" gilt und wie man die soziale Ungleichheit bekämpfen kann.
Prof. Dr. Christoph Butterwegge: Das hat einerseits mit der Covid-19 Pandemie zu tun, andererseits mit der Energiepreisexplosion nach Beginn des Ukraine-Krieges. Und natürlich spielt die Inflation eine Rolle, die viele Familien zwingt, jeden Cent nicht nur zweimal, sondern drei- oder viermal umzudrehen. Das ist eine Entwicklung, welche die Armut in die Mitte der Gesellschaft vordringen lässt. Gerade Familien, Kinder und Jugendliche sind davon häufig betroffen. Von den knapp 14 Millionen Minderjährigen in Deutschland gelten fast drei Millionen als arm oder armutsgefährdet.
Butterwegge: Als von relativer (Einkommens-)Armut betroffen oder bedroht gilt laut einer EU-Konvention, wer in einem Mitgliedsstaat weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung hat. Diese so genannte Armutsrisikoschwelle lag 2021 hierzulande beispielsweise bei monatlich 1489 Euro für Alleinerziehende mit einem Kind unter 14 Jahren oder bei 2405 Euro für ein Elternpaar mit zwei Kindern. Im zweiten Pandemiejahr wurde mit 16,9 Prozent der Bevölkerung oder 14,1 Millionen Betroffenen ein neuer Höchststand erreicht. Ein weit höheres Armutsrisiko wiesen Alleinerziehende mit 42,3 Prozent und Mehrkinderfamilien mit 32,2 Prozent auf.
Butterwegge: Die Pandemie hat für viele Menschen erkennbarer gemacht, dass Einkommen und Vermögen verschiedene Parameter sind. Familien, die keine Rücklagen hatten, waren der Corona-Krise zum Teil wehrlos ausgeliefert. Einfach ausgedrückt: Wer über Vermögen verfügte, wohnte nicht im Hochhaus am Stadtrand, sondern in einem Haus mit Garten. Die Kinder hatten während Corona ihr eigenes Zimmer oder konnten raus in den Garten, der Nachwuchs einkommensschwächerer Familien nicht. Und natürlich hatten wohlhabende Kinder die technischen Möglichkeiten, am Distanzlernen teilzunehmen.
Butterwegge: Daran schuld ist die Energiepreisexplosion aufgrund des Ukraine-Krieges sowie die sich bereits während der Pandemie bei Lebensmitteln ankündigende Inflation, von denen Geringverdiener/innen und Transferleistungsbezieher/innen besonders hart getroffen wurden. Im unteren Teil der Mittelschicht breitete sich die Angst vor einem sozialen Abstieg oder Absturz aus, während unter den Reichen und Hyperreichen auch Krisengewinner sind.
Butterwegge: Aufgrund ihrer Einkommensverluste durch Kurzarbeit, Geschäftsaufgaben und Arbeitslosigkeit kauften mehr Familien bei Lebensmittel-Discountern ein, wodurch die vermögendsten Familien des Landes, denen solche Ladenketten wie Aldi Nord und Aldi Süd gehören, noch reicher wurden. Dieter Schwarz, Eigentümer von Lidl und Kaufland, hat sein Privatvermögen in den Pandemiejahren laut dem US-amerikanischen Wirtschaftsmagazin Forbes um 14,2 Milliarden Dollar gesteigert.
Butterwegge: Öffentliche Armut bedeutet, dass Städte und Landkreise aufgrund von finanziellen Problemen nicht in der Lage sind, Notlagen sozial abzufedern. Zum Beispiel können immer weniger Kinder in der Grundschule schwimmen, weil immer mehr Schwimmbäder geschlossen werden. Oder Bibliotheken werden mit weniger Personal ausgestattet, Jugendzentren seltener geöffnet. Mir persönlich wird besonders bei einem Zoobesuch bewusst, wie weit die Gesellschaft auseinanderdriftet. Eine geringverdienende Familie mit mehreren Kindern wird sich diesen nicht leisten können.
Butterwegge: Über diese Glückspilze wird in der Öffentlichkeit nie gesprochen. Auch weniger reiche Kinder haben kein Problem, denn wo eine Villa ist, ist auch ein Weg - zum Abitur, zum Studium und zum beruflichen Erfolg. Die 45 reichsten deutschen Familien besitzen so viel wie die ärmere Hälfte der Bevölkerung. Gleichzeitig nimmt eine verborgene Armut zu, bei der Familien, die eigentlich über den statistischen Armutsgrenzen liegen, durch die Preisentwicklung abgehängt werden. Vermehrt wird die Krise auch Menschen in die so genannte absolute Armut führen, wie die steigende Zahl der Obdachlosen zeigt.
Butterwegge: Zwar können Liquiditätshilfen und Entlastungspakete zur Bewältigung akuter Notlagen beitragen, aber nicht für immer verhindern, dass finanzschwache Familien in Schwierigkeiten geraten. Nötig ist ein inklusiver Sozialstaat, der arme Familien wirksamer unterstützt und Kinder stärker fördert, etwa mit einer Kindergrundsicherung. Um ein höheres Maß an Chancengleichheit zu verwirklichen, ist für mich der freie Zugang zu Bildungseinrichtungen unabdingbar, was wiederum die Bereitstellung materieller Ressourcen für Familien voraussetzt, die darüber nicht selbst verfügen.
Prof. Dr. Christoph Butterwegge - geboren 26. Januar 1951 in Albersloh (Münster/Westfalen) - hat von 1998 bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität Köln gelehrt. Mit seiner Frau Carolin hat er „Kinder der Ungleichheit. Wie sich die Gesellschaft ihrer Zukunft beraubt“ (Campus Verlag, 2021) geschrieben. Anmeldung für die Fachtagung an zielewegestolpersteine@lra-wue.bayern.de. Die Teilnahmegebühr in Höhe von 40 Euro ist vor Ort in bar zu entrichten.
zu wirtschaften.
Reichlich zynisch Ihre Anmerkung zu diesem Text!
Am Nachmittag oder Samstags hätte ich diese Fortbildung sehr sehr gerne besucht.(und viele meiner Kolleginnen auch)
Sehr viele haben einen Vater namens Staat. WIR kommen für diese Kinder auf und die Produktion läuft auf Hochtouren.
So ein Unfug, den Sie da von sich geben!
Wenn Sie Recht hätten, dann wären wir nicht ein alterndes Volk.
Ja, sichtbar.
Jeder, der für mehr Gerechtigkeit und Chancengleichheit plädiert, wird hier im Forum ja gleich mit einem Kommunisten gleich gesetzt.
Hier wird ja sogar gegen Bafög Empfänger gehetzt, obwohl jeder weiß, dass das nur eine kleine Krücke zu mehr Chancengleichheit im Leben ist. Bafög Empfänger werden, ohne überhaupt einen zu kennen, als Typen bezeichnet, die nur in der sozialen Hängematte einen faulen Lenz machen.
Auch unser Söder will ja in keinem Fall eine gerechte Erbschaftsteuer, auch keine, in der 90% der Erben überhaupt nicht betroffen sind, weil die Freibeträge entsprechend großzügig sind. Nur weil Söder vermutlich persönlich betroffen sein kann, hetzt er gegen ein Gesetz.
Wirkliche Gerechtigkeit kann es realistisch nicht geben, aber etwas mehr stünde einem reichen Land gut an.
Aber unsere beliebtesten Politiker hetzen arme Hunde gegen noch ärmere.
Und die armen Hunde merken nicht einmal, wie sie instrumentalisiert werden.
dass ich die Ansichten von Herrn Butterwegge teile, kann man gefühlt in jedem zweiten Kommentar von mir nachlesen. Dieses Hofieren der Superreichen durch die Regierung/en finde ich absurd - wenn ich 1 mio € einem Superreichen schenke, kauft der dafür Finanzprodukte, die auf schlechter laufende Wirtschaft setzen (und "verdient" damit Buchgeld, auf das er kaum Steuern zahlen muss), denn die Million ist ja der Wirtschaft entzogen, aber wenn ich an 10.000 Leute je 100 € verteile, gehen die damit erstmal einkaufen - Umsatz für die Geschäfte, Gehälter für Angestellte, Steuern für den Staat usw. Mir glaubt es ja (offenbar) keiner, und ich befürchte sehr, dem Herrn Butterwegge wird es kaum anders gehen (denn das will anscheinend niemand hören). So what?