Das Interesse am Thema ist groß: "Meinungsbild und Streitkultur: Wie wir miteinander diskutieren (sollten)" – 250 Zuhörerinnen und Zuhörer verfolgten die Podiumsdiskussion, zu der sechs Würzburger Bildungshäuser den Göttinger Hirnforscher Gerald Hüther sowie IT-Anwalt Chan-jo Jun und die Bildungswissenschaftlerin Jennifer Danquah aus Würzburg geladen hatten.
Die Bestandsaufnahme im Matthias-Ehrenfried-Haus, moderiert von Main-Post Redakteur Andreas Jungbauer, fiel erwartungsgemäß wenig positiv aus: "Wir informieren uns zu Tode" lautet die These von Gerald Hüther, der krankheitsbedingt digital zugeschaltet war. Die Flut an Nachrichten, die man glaube, in den sozialen Medien konsumieren zu müssen, erschlage einen förmlich, so der Neurobiologe: "Wir können wichtig und unwichtig nicht mehr unterscheiden." Er nennt das zwanghafte Posten im Internet eine "Ersatzstrategie zur Bedürfnisbefriedigung" von Menschen, die dauerhaft auf der Suche nach Liebe und gesellschaftlicher Anerkennung sind.
Weniger pessimistisch sehen Danquah und Jun die Rolle sozialer Medien. Aber auch sie berichteten von Auswüchsen in der Debatte, von aufgeheizten Shitstorms, wenn sie Rassismus oder Corona-Verschwörungserzählungen als solche benennen – bis hin zur Bedrohung von Familienmitgliedern. Deutlich wurde: Die Übergänge zwischen digitaler und analoger Welt sind fließend. Aber soziale Medien können die Kommunikation und gesellschaftliche Debatten positiv befördern, wenn sich die Akteure auf Spielregeln einigen.
Hier sieben Tipps der Experten aus der Diskussion:
1. Weniger missionarisch unterwegs sein
Chan-jo Jun hatte sich in diesem Sommer vorübergehend aus Twitter verabschiedet. Der Zynismus und die Feindseligkeit in vielen Reaktionen auf den Suizid der österreichischen Impfärztin Lisa-Maria Kellermayr, sagt er, hätten ihn so sehr angewidert. Inzwischen twittert der Rechtsanwalt wieder: Er wolle die Debatte nicht denjenigen überlassen, die lediglich polarisieren, sagt Jun. Gleichzeitig habe für sich beschlossen, in seinen Reaktionen künftig "weniger missionarisch" und freundlicher im Ton unterwegs zu sein. Er hoffe, so eher Gehör zu finden.
2. Vor einer Reaktion auch mal eine Nacht schlafen
Da waren sich alle am Podium einig: Statt auf jede Empörung im Netz unmittelbar und emotional mit einer Gegen-Attacke zu reagieren, lohnt es sich, mal eine Nacht drüber zu schlafen. Dies sorgt in aller Regel für deutlich reflektiertere und entspanntere Kommentare. Dazu gehört auch, in der Auseinandersetzung mit anderen zwischen Sachebene und persönlicher Ebene zu unterscheiden.
3. Digitale Zivilcourage üben
Wenn Debatten verbal ausarten, wenn Menschen beispielsweise fremdenfeindlich beleidigt werden, dann ist auch im Netz Zivilcourage gefragt. Opfern digitalen Mobbings sollte man ein "Like" geben, ihnen Mut zusprechen, auf dass sie in die "Kraft des Konterns" kommen – und Angriffe zurückweisen. Rassismus-Forscherin Danquah sagt: "Niemand ist im Netz machtlos, wir können alle etwas tun."
4. Meinungsvielfalt in den sozialen Medien nutzen
Wer bereit ist, auch mal die eigene Filterblase zu verlassen, der findet in den sozialen Medien eine Meinungsvielfalt, wie man sie früher nicht kannte, als einige wenige Leitmedien wie die öffentlich-rechtlichen TV-Sender und überregionale Zeitungen die Debatte bestimmten. Wer sich darauf einlässt und nicht nur Schlagzeilen konsumiert, sondern nach den Inhalten schaut, wird von der Vielfalt profitieren, sind sich die drei Experten einig. Es koste aber etwas Mühe.
5. Straftaten im Netz konsequent verfolgen
Bei der Verfolgung von Straftaten darf es keinen Unterschied zwischen digitaler und analoger Welt geben, ist das Credo von Anwalt Jun. Er empfiehlt, Beleidigungen, Bedrohungen oder Volksverhetzung immer bei der Polizei anzuzeigen. Anschließend sei die Justiz gefordert, diese Taten auch konsequent zu verfolgen. Neben den Urhebern der Posts müsse man dabei Plattformen wie Facebook und Twitter in die Verantwortung nehmen, damit sie strafrechtlich relevante Beiträge konsequent löschen. Helfen würde, den Opfern bei Nichthandeln Schmerzensgeld zuzugestehen, sagt Jun. Die Politik sei gefordert, gesetzliche Regelungen nachzubessern.
6. Kindern Medienkompetenz vermitteln - auch in der Schule
Soziale Medien und Internet gehören zum Alltag – schon von Kindern. Die technischen Möglichen zu ignorieren, hilft nicht weiter, sagen die Referenten. Aber der richtige Umgang damit will gelernt sein: Eine Medienkunde, die Chancen und Risiken thematisiert, sollte ein Schulfach sein, fordern die Experten.
7. Auch mal das Handy liegenlassen
Er wundere sich, wie Menschen in Panik geraten, wenn das Smartphone mal ins Wasser fällt, sagt Neurobiologe Gerald Hüther. Er plädiert für mehr Entschleunigung. Man könne das Handy ruhig mal ausschalten. Niemand müsse Angst haben, etwas zu verpassen, nur weil er gerade nicht in den sozialen Medien unterwegs ist. Und niemand solle Angst haben, unwichtig zu sein – nur weil er oder sie mal länger nichts mitteilt.