Der Fall des Rentners aus Gemünden (Lkr. Main-Spessart) hat viele Menschen bewegt: Der 92-Jährige hatte seine schwer demente Frau erstickt, weil er mit ihrer Pflege überfordert war. Ein Gericht verurteilte den Mann wegen Totschlags zu einer Bewährungsstrafe. Nach Ansicht vieler Beobachter warf der Prozess ein Schlaglicht auf die Nöte vieler pflegender Angehöriger.
Einer, der die Situation in der Pflege gut kennt, ist Günter Schuhmann. Der 60-Jährige ist gelernter Krankenpfleger. Als Leiter der Palliativakademie der Stiftung Juliusspital in Würzburg kümmert er sich seit 2001 um die Weiterbildung von Menschen, die im Palliativ- und Hospizbereich tätig sind. Im Interview spricht er über Hilfsmöglichkeiten für Angehörige und fordert mehr Geld für die Pflege.
Günter Schuhmann: Ich kenne den Fall auch nur aus den Medien. Die Frau zu töten, zeigt, wie verzweifelt der Mann gewesen sein muss. Und diese Verzweiflung ist kein Einzelfall. Die Zahl der Angehörigen, die rund um die Uhr – und über Jahre hinweg - den Vater, die Mutter oder den Partner pflegen und keine oder kaum eine Entlastung haben, ist ziemlich groß. Sie geben alles, irgendwann ist der Akku dieser Menschen aber leer.
Schuhmann: Sowohl das Ausmaß als auch die Dauer der Pflege sind in aller Regel nicht vorhersehbar. Wichtig wäre es, dass sich pflegende Angehörige frühzeitig über mögliche Hilfen und Entlastungen informieren, beispielsweise bei einer Pflegeberatung. Die Mitarbeiter der ambulanten Pflegedienste können die Angehörigen unter anderem bei der Körperpflege unterstützen. Leider aber ist ihr Arbeitstag so eng getaktet, dass kaum Zeit bleibt, auch mal mit den Angehörigen zu reden, ihnen zuzuhören. Das ist kein Vorwurf, das stelle ich fest. Diese Empathie sieht das System nicht vor. Für berufstätige Menschen endet der Arbeitstag in der Regel nach acht Stunden. Für die Tochter, die ihren dementen Vater betreut, dauert er 24 Stunden. Da wird oft Unmenschliches erwartet.
Schuhmann: Die Gründe sind sehr individuell. Vielen Angehörigen fällt es schwer, sich einzugestehen, dass sie die Betreuung nicht mehr alleine schaffen. Von älteren Paaren hört man häufiger, dass sie sich versprochen hätten, sich gegenseitig bis zum Tod daheim zu pflegen. Wenn dies zu einer Überforderung führt, empfinden sie dies als Scheitern – und schämen sich. Manchmal lehnt auch der Pflegebedürftige selbst Hilfe von außen ab. Sich dieser Situation bewusst zu werden und professionelle Hilfe zu holen, stellt bisweilen eine große Hürde dar. Ich höre von Familien, die bitten Pflegekräfte der Sozialstation, ihr Auto nicht vor dem Haus abzustellen, sondern abseits zu parken. Damit es die Nachbarn nicht mitbekommen.
Schuhmann: Der finanzielle Faktor spielt für viele Menschen eine große Rolle. Was kostet die Pflege? Was davon übernimmt die Pflegekasse? Vielfach ist es auch einfach Unkenntnis über die Hilfsmöglichkeiten.
Schuhmann: So banal es klingt: Pflege muss uns mehr wert sein – ideell und finanziell. Das Pflegepersonal in den stationären und ambulanten Pflegeeinrichtungen müsste deutlich erhöht werden, damit die Mitarbeiter nicht ausbrennen, damit sie sich Zeit für die ihnen anvertrauten Menschen nehmen können. Ich weiß, das ist ein frommer Wunsch.
Schuhmann: Es liegt auch am Image, das die Pflege mittlerweile hat. Selbst wenn der Beruf besser bezahlt wäre, momentan fehlen die Menschen, die ihn gerne machen möchten. Aber letztlich spielt das Geld doch eine große Rolle. Um das Auto zu reparieren, sind wir schnell bereit, 100 Euro für die Werkstattstunde zu bezahlen. Bei Pflege- und Gesundheitskosten sind wir hingegen knausrig. Da hoffen alle auf die Vollkasko-Abdeckung durch Kranken- und Pflegekassen, aber das wird niemals reichen.
Schuhmann: Es wäre zu hoffen, dass wir offener für Hilfe sind. Auch, dass wir uns besser auf das Alter vorbereiten. Eine Patientenverfügung oder eine Vorsorgevollmacht zu erteilen, das wäre schon mal ein erster Schritt. Haben Sie denn schon eine unterschrieben?
Schuhmann: Ich würde es ihnen dringend empfehlen. Wir alle hoffen, möglichst gesund möglichst alt zu werden. Aber so funktioniert das Leben nicht. Man sollte sich frühzeitig überlegen, wo und wie man das Alter verbringen möchte. Es gibt Paare, die ziehen als Rentner an Orte, wo sie schöne Urlaube verbracht haben, aber weit weg sind vom gewohnten sozialen Umfeld. Das mag funktionieren, solange beide Partner gesund sind. Wird jedoch einer zum Pflegefall, droht auch dem anderen die Vereinsamung. Freunde, Bekannte, Nachbarn, die sich gegenseitig helfen, das wäre schon mal eine gute Basis. Aber die kommen nicht von allein, um die müssen wir uns frühzeitig kümmern.
Schuhmann: Es braucht eine deutlich bessere finanzielle Ausstattung, damit die Rahmenbedingungen in der Pflege besser werden. Dann würden sich sicher wieder mehr Menschen für diesen Beruf entscheiden. Ich sehe aber auch positive Entwicklungen für Pflegebedürftige und Angehörige. Dass stationäre Pflegeeinrichtungen nicht nur in den Städten, sondern auch im ländlichen Bereich gebaut werden, ist gut. Da fällt dem einen oder anderen ein Umzug oder die Trennung vom Partner leichter, weil man eben nicht komplett aus dem gewohnten Umfeld gerissen wird und Besuche jederzeit möglich sind. Wichtig für pflegende Angehörige wäre, auch in der Fläche das Angebot an Plätzen für Tagespflege, Kurzzeitpflege und Verhinderungspflege auszubauen. Damit auch mal kurzfristig eine Entlastung möglich ist.
Schuhmann: Auch diese niederschwelligen Angebote sind wichtig, sie helfen, ältere Menschen zu entlasten.