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Würzburg/München
Drängler kamen ungestraft davon: Teures Überwachungssystem der bayerischen Polizei hat lange nicht funktioniert
Viele Monate lang konnte die bayerische Polizei die meisten Drängler auf den Autobahnen nicht bestrafen. Warum versagte ein 1,8 Millionen Euro teures Kontrollsystem?
In Unterfranken war zu geringer Sicherheitsabstand 2021 die häufigste Unfallursache. Wegen eines Fehlers im Kontrollsystem konnte die bayerische Polizei monatelang keine Drängler aufspüren. (Symbolbild) 
Foto: Marcus Führer, dpa | In Unterfranken war zu geringer Sicherheitsabstand 2021 die häufigste Unfallursache. Wegen eines Fehlers im Kontrollsystem konnte die bayerische Polizei monatelang keine Drängler aufspüren. (Symbolbild) 
Benjamin Stahl
 und  Hanns Strecker
 |  aktualisiert: 15.07.2024 10:14 Uhr

Wer in den vergangenen Monaten auf bayerischen Autobahnen drängelte und Sicherheitsabstände nicht einhielt, genoss quasi Narrenfreiheit, ohne es zu wissen. Denn wie Recherchen dieser Redaktion ergaben, kam die Abstandsmessung der Polizei vor allem im ersten Halbjahr 2022 fast gänzlich zum Erliegen.

Das bayerische Innenministerium spricht von "Ausfallzeiten" und bestätigt: "Die Zahl der eingeleiteten Verfahren wegen Abstandsunterschreitungen verringerte sich erheblich." Konkret heißt das: Zählte man im Jahr 2020 noch rund 75.000 Abstandsverstöße, waren es zwischen Januar und Juni 2022 weniger als 300. Grund waren technische Probleme, nachdem entsprechende polizeiliche Fahrzeuge mit einem neuen Verkehrskontrollsystem – offizielle Bezeichnung VKS 4.5 – ausgestattet wurden.

Neues System kostete 1,8 Millionen Euro

Als etwa mit mobilen Blitzern neue Messtechniken für Geschwindigkeitskontrollen eingeführt worden waren, wollte das Innenministerium in München auch das Verfahren für die Abstandsmessung modernisieren. Alles sollte digitalisiert, schneller und beweissicherer werden. Konkret werden dabei Messstellen meist an Autobahnbrücken eingerichtet. Mobile Spezialkameras an den Mitteilleitplanken liefern Daten und Bilder in entsprechend ausgestattete zivile Einsatzfahrzeuge, in denen eigens ausgebildete Beamtinnen und Beamte den fließenden Verkehr überwachen.

Eine Software soll Daten aus dem fließenden Verkehr auswerten und so Abstandsverstöße aufdecken. Doch das 1,8-Millionen-Euro teure System lief lange nicht.
Foto: Hanns Strecker | Eine Software soll Daten aus dem fließenden Verkehr auswerten und so Abstandsverstöße aufdecken. Doch das 1,8-Millionen-Euro teure System lief lange nicht.

Den Zuschlag für das neue System erhielt die Firma Vidit, die unter anderem "Komplettlösungen für die amtliche Verkehrskontrolle" anbietet und mit denen das Bayerische Polizeiverwaltungsamt bereits seit 2013 Geschäftsbeziehungen unterhält. Im Dezember 2020 kaufte der Freistaat die VKS 4.5-Anlagen, die das Vorgängermodell VKS 3.0 ersetzen sollten. Kostenpunkt inklusive Installation: 1,8 Millionen Euro.

Softwareupdate, rechtliche Freigabe und Schulungen verzögerten den Einsatz

Im Januar 2021 begann Vidit mit der schrittweisen Umrüstung, die im September 2021 beendet wurde. "Allerdings wurden parallel hierzu Softwareprobleme bei den auf VKS 4.5 umgerüsteten Fahrzeugen festgestellt, die sich auch in Zusammenarbeit mit der Firma Vidit bis Dezember 2021 nicht lösen ließen", erklärt das Innenministerium auf Nachfrage.

Demnach hatte das Unternehmen "bei einer gemeinsamen Besprechung" zugesichert, dass die Probleme mit einer "Softwareumstellung" im März 2022 abgestellt werden würden. Danach musste die Physikalisch-Technische-Bundesanstalt (PTB) allerdings eine neue sogenannte Baumusterprüfbescheinigung erteilen – eine rechtliche Voraussetzung, dass das System eingesetzt werden darf.

Kameras an der Mitteilleitplanke erkennen Drängler.
Foto: Hanns Strecker | Kameras an der Mitteilleitplanke erkennen Drängler.

Ab April bekamen die installierten Systeme ein Softwareupdate, das die Probleme behob, jedoch auch "eine Schulung aller Messbediensteten und Auswertekräfte erforderlich" machte, heißt es aus München. Erst danach "konnten die Dienststellen mit Testmessungen beginnen und sich mit dem neuen System vertraut machen". Im Juni 2022 wurden schließlich die ersten "Echtmessungen" durchgeführt.

Erst seit Mitte 2022 läuft das neue System

Welche Folgen die Probleme bei der Umrüstung hatten, zeigt ein Blick auf die Zahlen. Laut Innenministerium wurden im Jahr 2020 – einem Jahr, in dem wegen der Corona-Pandemie deutlich weniger als sonst auf den Straßen los war – bayernweit 74.382 Abstandsverstöße festgestellt. 2021 registrierte man nur noch 27.313 Fälle, allerdings auch nur deshalb, weil bis 22. September "Messungen mit den noch nicht umgerüsteten Fahrzeugen" durchgeführt werden konnten. In der ersten Jahreshälfte 2022 sackte die Zahl der festgestellten Abstandsverstöße dann auf nur noch 287. Inzwischen scheint das neue System allerdings zu laufen: "Bis Ende August 2022 wurden etwa 10.000 Abstandsverstöße mit dem neuen VKS 4.5 festgestellt", betont das Ministerium.

Zu geringer Sicherheitsabstand ist in Unterfranken Unfallursache Nummer eins

Als Innenminister Joachim Herrmann (CSU) im Februar dieses Jahres die bayerische Verkehrsunfallstatistik für 2021 vorstellte, standen vor allem überhöhte Geschwindigkeit, Vorfahrtsverstöße oder Alkohol- und Drogenmissbrauch als Unfallursachen im Vordergrund. Dabei zählt "ungenügender Sicherheitsabstand" zu den "häufigsten Unfallursachen bei Verkehrsunfällen in Bayern", wie sein Ministerium bestätigt. So waren an den knapp 26.000 Unfällen auf bayerischen Autobahnen im Jahr 2021 knapp 5800 Personen beteiligt, die den Sicherheitsabstand nicht einhielten.

In Unterfranken war zu geringer Sicherheitsabstand 2021 die häufigste Unfallursache. 5536-mal krachte es inner- und außerorts, weil gedrängelt wurde.

 
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