Die Diözese Würzburg hat einen Ruhestandspriester bei der Staatsanwaltschaft Würzburg wegen sexuellen Missbrauchs eines Minderjährigen angezeigt. Das teilte das Ordinariat am Donnerstag mit. Die Diözese stützt sich auf Hinweise, die sie durch den Vorsitzenden einer Opferinitiative, Johannes Heibel, und dieser Redaktion erhalten hat. Ebenso auf eigene Recherchen.
Aufgrund dieser Anfragen wurde der Diözese bekannt, dass sich der mutmaßliche Missbrauch Anfang der 1990er Jahre in Österreich ereignet haben soll. Ab 2000 wurde dem Priester eine Gemeinde in der Diözese Würzburg anvertraut. Dort hat er nachweislich 2002 einen Jungen missbraucht und wurde zu einer Freiheitsstrafe von zehn Monaten auf Bewährung verurteilt.
Unbequeme Fragen
Hätte ein Missbrauch durch einen Priester im Bistum Würzburg womöglich verhindert werden können? Nicht nur diese Frage stellt sich, wenn man die Rechercheergebnisse von Johannes Heibel betrachtet.
Der Vorsitzende der bundesweit aktiven und in Siershahn (Westerwaldkreis) beheimateten „Initiative gegen Gewalt und sexuellen Missbrauch an Kindern und Jugendlichen“ stieß vor Monaten im Internet auf einen Namen, der ihm bekannt vorkam. Er gehört dem Mitarbeiter eines Netzwerks in Unterfranken, das sich um Flüchtlinge kümmerte. Johannes Heibel vermutete, dass es sich bei der genannten Person um den Priester des Bistums Würzburg handeln könnte, der vor 15 Jahren zu einer Freiheitsstrafe von zehn Monaten auf Bewährung wegen sexuellen Missbrauchs eines Jungen verurteilt worden war. Er meldete sich in der Redaktion in Würzburg.
Mann lebt nach jahrelanger Therapie im Ruhestand
Nachfragen dieser Redaktion beim Bistum bestätigen, dass die Glaubenskongregation in Rom im Jahr 2002 schriftlich mitgeteilt habe, dass dieser Priester „nach einer Therapie nicht mehr in der ordentlichen Seelsorge eingesetzt werden kann“. An diese Vorgabe halte sich die Diözese Würzburg bis heute und auch künftig, so Pressesprecher Bernhard Schweßinger. Und: Der Mann „lebt nach jahrelanger Therapie im Ruhestand und erhält von der Diözese ein Ruhestandsgehalt.“
Lässt man einen verurteilten Missbrauchstäter nach Verbüßung seiner Strafe in Ruhe? Geht trotz einer jahrelangen Therapie von ihm noch eine Gefährdung aus? Verhelfen innerkirchliche Strukturen Missbrauchstätern zu einem geruhsamen Ruhestand?
„Mir geht es um die konsequente Aufarbeitung mit dem Ziel, mögliche Fehler der Vergangenheit sichtbar zu machen und so den Kinder- und Jugendschutz weiter zu verbessern“, sagt Johannes Heibel dazu. Der 61-jährige Sozialpädagoge ist bekannt für seine Hartnäckigkeit. Das hat er bereits im Zusammenhang mit anderen Missbrauchstaten bewiesen – etwa bei einem Fall, der sich unter anderen ebenfalls in der Diözese zugetragen hat.
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Dieser Priester, der von mehreren heute erwachsenen Männern und Frauen beschuldigt wird und dem mehrfach sexueller Missbrauch konkret nachgewiesen werden konnte, wurde letztlich 2015 laisiert. Er gehört somit nicht mehr dem Klerikerstand an, lebt aber weiter in einer kircheneigenen Wohnung und erhält eine Versorgungspauschale.
Die Geschichte dieses Mannes hat Johannes Heibel in seinem Buch „Der Pfarrer und die Detektive – Einblicke in innerkirchliche Abläufe bei sexuellem Missbrauch durch Kleriker“ umfassend beschrieben (erschienen im Horlemann Verlag, 16,90 Euro). Diese Redaktion hat sich mehrfach mit dem Fall befasst.
Heibel lässt nicht locker
Auch jetzt ließ und lässt Johannes Heibel nicht locker. Er forschte in den vergangenen Monaten intensiv nach, wo sich der Priester, auf dessen Namen er im Internet stieß, vor seinem Dienst in der Diözese Würzburg aufgehalten hat. Heibels Recherchen, die der Redaktion vorliegen, nahmen ein ungeahntes Ausmaß an. Die Hinweise und Aussagen beziehen sich auf längere und kürzere Lebensstationen des Mannes – in Deutschland, Österreich, in der Schweiz, in Rumänien.
Der Anfang liegt im Erzbischöflichen Collegium Marianum in Neuss. Der damalige Direktor sagt, er habe über den Mann ein Gutachten für den Übergang zum Priesterseminar in Trier geschrieben. Es sei nicht gut ausgefallen. Recherchen Heibels zufolge hat dann Mitte der 1980er Jahre der Regens erklärt, dass der Mann aufgrund des Gesamteindrucks seiner Persönlichkeit für das Amt des Priesters nicht geeignet sei. Der so Abgeurteilte ging nach Österreich und wurde dort in einem großen Kloster aufgenommen. Er sei damit seiner Entlassung aus dem Priesterseminar zuvorgekommen, so der Trierer Regens, und: Das Kloster hätte sich nie bei ihm erkundigt, warum der Mann das Seminar vorzeitig verließ.
Kam es nach dem Gelübde zur "Katastrophe"?
Im Kloster gab es bereits vor seiner ewigen Profess Anfang der 1990er Bedenken über seine Eignung – und wurden vom damaligen Probst und Novizenmeister beiseitegeschoben, sagt ein Informant gegenüber Johannes Heibel. Kurz nach seinem Gelübde sei es dann zu der „Katastrophe“ gekommen: Der Ordensmann soll einen Ministranten alkoholisiert und sexuell missbraucht haben. Die Eltern hätten den Missbrauch ihres Kindes jedoch nicht angezeigt, was den Ruf des Klosters ja aufs Spiel gesetzt hätte. Der Fall wurde den Angaben zufolge intern gelöst. Kurze Zeit später soll der mutmaßliche Täter in Rom selbst um die Entbindung von seinem Gelübde beziehungsweise ewigen Profess gebeten haben.
Damit ist die geistliche Laufbahn des Mannes nicht zu Ende. Er soll das Kloster zwar verlassen, aber einige Jahre in einer klostereigenen Wohnung in Wien gelebt haben – mit Unterstützung durch den damaligen Novizenmeister, der heute Propst des Klosters ist.
Mitte der 1990er Jahre ist der Mann am Ziel. In Rumänien wurde er zum griechisch-katholischen Priester geweiht. Hohe Würdenträger wie Erzkardinal Schönborn von Wien sollen zuvor eine Weihe abgelehnt haben.
Eine Nachfrage im rumänischen Bistum ergab, dass der Mann dort gar nicht bekannt ist. Er sei nicht im Register der ordinierten Priester aufgeführt, hieß es von dort.
Aussage eines ehemaligen Mitbruders
Die nächste Station des Mannes ist das Bistum Eichstätt. Auch dieses Mal soll der Novizenmeister des Klosters, der mittlerweile zum Prälat aufgestiegen war, seine unterstützenden Hände im Spiel gehabt haben. Die Erklärung eines Pfarrers, die der Redaktion vorliegt, besagt, dass dieser ihn schriftlich gebeten habe, sich bei der Bistumsleitung für den ehemaligen Mitbruder einzusetzen. Diese Aussage würde er auch vor Gericht bezeugen. Der ehemalige österreichische Ordensmann und nun rumänische Priester wurde vom Bistum Eichstätt jedoch abgelehnt.
Danach taucht der Mann zunächst als Aushilfspfarrer, dann als Kaplan in einer zum Bistum Basel gehörenden Pfarrei in der Schweiz auf. Die Stelle hat ihm ein ehemaliger Mitstudent im Priesterseminar in Trier vermittelt.
In der Gemeinde wurde er für den knapp zweijährigen Dienst nur zugelassen, weil der damalige Personalreferent der Diözese Würzburg den Priester ab 2000 übernehmen wollte, so steht es in einem offiziellen Brief des Bistums Basel. In den Akten seien weder Probleme zum Thema „Nähe und Distanz“ noch sexuelle Belästigungen oder Übergriffe auch nur annähernd zu finden. In dem Brief wird allerdings eingeräumt, dass es von dem Mann nur ein mageres Personaldossier gebe.
Auf Nachfrage Heibels, ob in der Personalakte Dokumente vorhanden sind, die über den Lebenslauf des Mannes Auskunft geben, heißt es: „Entsprechende Unterlagen sind in den Personalakten nicht enthalten.“ Und: Damals sei es noch nicht Standard gewesen, dass Seelsorgende ein Leumundszeugnis vorlegen mussten.
Hinweise auf ein seltsames Verhalten
Dass es auch „kritische Stimmen“ in dem Ort gegeben hat, führte der Verfasser des Briefes in einem weiteren, weniger offiziellen Schreiben aus. Johannes Heibel erhielt zudem Hinweise von Gemeindemitgliedern, die dem Mann ein seltsames Verhalten bescheinigen – vor allem eine „merkwürdige Nähe zu Kindern und Jugendlichen“. Eine Mutter habe Heibel geschrieben: „Ich habe meine Kinder nicht mit ihm alleine gelassen.“
In einem Sitzungsprotokoll der Kirchgemeinde von Ende der 1990er Jahre steht, dass im Dorf „böse Gerüchte“ über den Kaplan kursieren würden. Er soll den Zölibat gebrochen haben, andererseits sich Jugendlichen gegenüber unkorrekt verhalten haben. Beides habe der Kaplan zurückgewiesen.
Aus der Schweiz wechselt der Priester – wie lange vereinbart – in eine Gemeinde im nördlichen Bereich des Bistums Würzburg. Laut Pressesprecher Bernhard Schweßinger habe der Mann einst selbst in Würzburg angefragt und 1998 die Zusage erhalten, „ab 2000 auf Probe im Bistum Würzburg als Priester tätig sein zu können“.
Positive Beurteilung des Bischofs
Für die Anstellung des griechisch-katholischen Priesters und die Ausübung des Gottesdienstes im lateinischen Ritus lagen laut Schweßinger unter anderen das Weihezeugnis des rumänischen Bischofs „mit positiver Beurteilung“ und dessen Erlaubnis, zudem ein polizeiliches Führungszeugnis ohne Eintrag sowie eine ausführliche positive Beurteilung durch die Schweizer Kirchgemeinde vor. „Die damalige Situation und die damaligen Erkenntnisse gaben keine Anhaltspunkte, an einen vorherigen eventuellen Missbrauch zu denken“, so Schweßinger.
In einem Telefonat, das Johannes Heibel im März mit dem damaligen Personalreferenten der Diözese Würzburg geführt hat, habe dieser ihm mitgeteilt, dass er vor der Einstellung des Mannes wohl auch eine Beurteilung des Klosters erhalten hat. Dies allerdings verneint der Würzburger Bistumssprecher auf Nachfrage dieser Redaktion.
Ist es also nicht üblich, Informationen bei allen Dienststätten einzuholen? Darauf antwortet Bernhard Schweßinger: „Die Diözese Würzburg sah keinen Anlass, über die bereits vorliegenden Informationen hinaus weitere Auskünfte bei allen vorherigen Stationen einzuholen.“ Der Mann hätte selbst als Grund für das Verlassen des Klosters seine „eigenen, dort nicht erfüllbaren Vorstellungen von der Liturgie“ genannt.
Zudem hätte davon ausgegangen werden können, dass die Weihe zum Priester durch den rumänischen Bischof erst nach intensiver Prüfung des Vorlebens des Weihekandidaten erfolgt sei. Weiter hätte der rumänische Bischof in einer „Bestätigung“ von 1997 sogar von einem „vorbildlichen Seelsorger“ und „unserem hochgeschätzten Priester“ gesprochen, so Schweßinger.
2002 geschah es dann: Der Mann hat in der Gemeinde, die ihm kurz zuvor als Pfarradministrator im Bistum Würzburg anvertraut worden war, einen Jungen missbraucht. Darüber hat diese Redaktion damals ausführlich berichtet. Auch überregionale Zeitungen griffen den Fall auf.
Der Mann zeigte sich damals selbst an
Der Bischof von Würzburg entpflichtete ihn unverzüglich von seinen Aufgaben, so Bistumssprecher Schweßinger. „Der Missbrauch wurde so rasch wie möglich zur Anzeige gebracht und unter der Devise Transparenz und Opferschutz aufgearbeitet.“
Es bleiben Fragen. Etwa die: Warum lebt der Mann nach seiner Therapie nicht in seinem Heimatbistum in Rumänien? Die Antwort aus Würzburg: „Die Wahl des Wohnorts liegt ausschließlich in seiner Entscheidung. Von dem rumänischen Bistum erhielt er laut ,Bestätigung‘ des dortigen Bischofs aus dem Jahr 1997 nach der Weihe keine Aufenthaltsgenehmigung wegen der unsicheren Unterhaltsfrage und Befürchtungen bezüglich der Sicherheit eines ausländischen Priesters.“
Zudem hat die rumänische Diözese laut Schweßinger in der Weiheurkunde bereits deutlich gemacht, dass der Priester für seinen Lebensunterhalt selbst aufkommen müsse, da ihre finanziellen Möglichkeiten äußerst beschränkt seien. „Da er zuletzt in der Diözese Würzburg tätig war, kommt die Diözese Würzburg für den Lebensunterhalt des Priesters auf“, so Schweßinger – obwohl er dort nicht inkardiniert, also kirchenrechtlich aufgenommen ist.
Vor allem aber diese Fragestellungen stehen im Raum: Was macht die Kirche generell mit ihren wegen sexuellen Missbrauchs verurteilten, suspendierten oder sogar laisierten Seelsorgern? Lässt sie – wie in den genannten Fällen – „nur“ Fürsorge walten, etwa mit Ruhestandsgehalt für einen Mann, der eigentlich nur Gastpriester im Bistum Würzburg war? Oder mit einer mietfreien Kirchenwohnung und Versorgungspauschale wie beim oben erwähnten Ex-Priester? Hat sie auch ein Auge auf den Lebenswandel verurteilter Kirchenmänner? Schaut sie weg? Oder in manchen Bereichen erst gar nicht hin?
Kirche will zukünftige Gefährdung ausschließen
Bistumssprecher Bernhard Schweßinger sagt dazu: „Die Kirche prüft in jedem Einzelfall, was erforderlich ist, um eine zukünftige Gefährdung für Kinder und Jugendliche weitgehend auszuschließen. Soweit es in ihren tatsächlichen und rechtlichen Möglichkeiten liegt, setzt sie die erforderlichen Maßnahmen um und hat deren Auswirkungen im Blick – auch bezüglich eventuell notwendig werdender Verschärfungen.“
Johannes Heibel hat den Fall bereits der Glaubenskongregation in Rom über den dort tätigen Offizial Manfred Bauer aus Würzburg angezeigt. Er fordert sie sowie die Diözese Würzburg auf, „die nötigen Schritte zur gründlichen Untersuchung des Falles einzuleiten und gegen die im Fall verantwortlichen Kleriker mit aller Konsequenz vorzugehen“.
Die Diözese Würzburg hat reagiert. Wie die Pressestelle des Ordinariats am Donnerstag mitteilte, hat die Diözese den Ruhestandspriester bei der Staatsanwaltschaft Würzburg wegen sexuellen Missbrauchs eines Minderjährigen Anfang der 1990er Jahre in Österreich angezeigt – und zuvor nach den Hinweisen von Johannes Heibel und Anfragen dieser Redaktion eigene Recherchen angestellt. Nach der Konfrontation des Priesters mit dem Vorwurf sei durch Generalvikar Thomas Keßler die Anzeige erfolgt und auch die römische Glaubenskongregation von dem Vorfall informiert worden.
Auch diese Redaktion meldete sich bei dem Mann, um ihm Gelegenheit zu geben, sich zu der Missbrauchs-Anschuldigung in den 1990er Jahren in Österreich zu äußern. Er wolle dazu nichts sagen, meinte er, und legte auf.
Angelika Oetken, Berlin-Köpenick, eine von 9 Millionen Erwachsenen in Deutschland, die in ihrer Kindheit und/oder Jugend Opfer von schwerem sexuellen Missbrauch wurden