
Kamera an. Die junge Frau schaut in die Linse, fängt an zu sprechen, bewegt dabei langsam ihre Hände hin und her. Traurig blickt sie zur Seite, Tränen fließen. Sie fängt sich wieder, spricht weiter. Kamera aus. Die Tränen fließen noch immer. Die Trauer und der Schmerz, den Karolina Deiß seit nunmehr 15 Monaten spürt, sitzen tief.
Damals starb ihr geliebter Sohn Leon. Er wurde nur ein Jahr alt. Die Art, mit der Karolina Deiß mit ihrer Trauer umgeht, mag für manche ungewöhnlich sein: Die 29-Jährige spricht darüber mit 80.000 Menschen, die ihr auf dem Sozialen Netzwerk Instagram folgen.
Zwei verschiedene Diagnosen werden zum fatalen Fehler
Rückblick: Es ist der 28. September 2022. Es wird der schlimmste Tag im Leben von Karolina und Alex Deiß aus dem Main-Tauber-Kreis. Fünf Tage zuvor hat das Schicksal der jungen Familie seinen Lauf genommen. Die junge Mutter ist mit ihrem Sohn Leon an einem Freitag beim Einkaufen, als der Kleine plötzlich quengelig wird und anfängt zu weinen.
Zu Hause wird deutlich, dass Leon Fieber hat, seine Mutter gibt ihm ein Zäpfchen. Doch als das Fieber weiter ansteigt, beschließt Karolina Deiß in ein Krankenhaus in der Nähe zu fahren. "Ich wusste, dass etwas komisch war. Ich habe Leon gar nicht mehr wiedererkannt", erzählt die 29-Jährige heute. Im Krankenhaus wird die Diagnose Mandelentzündung gestellt, der Einjährige wird daraufhin entlassen.

Am Tag darauf geht es Leon etwas besser, bis sich die Situation am Sonntag plötzlich verändert. "Leon wirkte teilnahmslos, er hat weder gegessen, noch wollte er spielen. Er hat fast die ganze Zeit geschlafen", blickt Karolina Deiß zurück. Als Vater Alex Deiß dann bemerkt, dass Leon seine Augen verdreht, fährt die kleine Familie erneut ins Krankenhaus. Die Diagnose dieses Mal: Kehlkopfentzündung.
Wieder wird Leon aus dem Krankenhaus entlassen. "Ich hab den Ärzten vertraut, richtig wohl hab ich mich aber nicht gefühlt. Heute weiß ich, dass ich auf meinen Mutterinstinkt hätte hören sollen", sagt Karolina Deiß. Sie braucht eine kurze Pause, muss Luft holen, kurz durchatmen. Dann erzählt sie weiter.
Die Ärzte gaben Leon noch 72 Stunden Zeit, eine Reaktion zu zeigen
Um etwa 4 Uhr morgens sei sie aufgewacht - weil ihr Sohn "ganz komische Geräusche von sich gegeben hat". Die Mutter merkt, dass Leons Körper ganz versteift ist. Dann der erste große Schock: Leon hört auf zu atmen. Sofort ruft Deiß den Notarzt, der kurze Zeit später auch schon da ist. "Er meinte, dass er eventuell eine Sepsis hat", sagt die 29-Jährige. "Leon wurde ins Krankenhaus gefahren, dort sagte man uns, dass er wahrscheinlich einen Fieberkrampf hat und bald wieder gesund wird und nach Hause kann."
Wenn man die nachfolgenden Sätze hört, gibt es wohl kaum ein grausameres Versprechen, das nicht gehalten werden kann.
Ein Arzt entdeckt, dass Leons Pupillen nicht reagieren, was oft ein Zeichen dafür ist, dass etwas im Gehirn nicht stimmt. Bei der Untersuchung im CT dann die schreckliche Gewissheit: Leon hat einen zu hohen Hirndruck. Er wird in die Würzburger Uniklinik verlegt.
"Dort hatten wir erstmals das Gefühl, dass Leons Zustand ernst genommen wird. Aber da war es leider schon zu spät", erinnert sich Deiß. "Die Ärzte gaben Leon noch 72 Stunden Zeit, eine Reaktion zu zeigen, danach wurde er für hirntot erklärt." Immer wieder greift die junge Frau beim Erzählen zu einem Taschentuch, trocknet die Tränen. Am 28. September 2022 werden bei Leon die Geräte abgestellt.
Die verwaiste Mutter erinnert sich an jede Sekunde dieses Momentes. "Wir haben jedem nochmal die Chance gegeben, sich von Leon zu verabschieden. Dann wurde mir mein Leon nochmal auf die Brust gelegt, so wie wir immer eingeschlafen sind."
Nach und nach werden dann die Geräte abgeschaltet. Ihre Hand führt Karolina Deiß dabei zu Leons Herzen: "Ich wollte unbedingt wissen, wann es vorbei ist." Sie singt ihm ein letztes Mal sein Einschlaflied vor: "Dir gehört mein Herz - das habe ich ihm jeden Abend vorgesungen." Um 15.50 Uhr hört Leons Herz für immer auf zu schlagen.
Mittlerweile teilt die Mutter ihre Inhalte, um auch anderen Betroffenen zu helfen
Erst später ergibt die Obduktion, dass der Einjährige an Meningitis, verursacht durch Pneumokokken, gestorben ist. Inzwischen geht das Ehepaar Deiß rechtlich gegen das Krankenhaus und die Ärzte vor. Genauere Details, sagt die 29-Jährige, kann sie deshalb nicht nennen. Knapp 15 Monate ist der Tod ihres Sohnes her. 15 Monate voller Trauer, voller Hilflosigkeit, voller Schmerz und Wut.

Jeder Mensch geht anders mit einem solchen Schicksal um. Karolina Deiß hat eine recht ungewöhnliche Art dafür gefunden: Sie teilt ihre Gefühle auf Sozialen Netzwerken – in Videos, Beiträgen und Fotos. Angefangen habe sie, um mit ihrer eigenen Trauer umzugehen, sagt die junge Frau: "Ich wollte einfach, dass die ganze Welt weiß, wie ich mich fühle und wollte, dass die Ärzte meinen Leon nie wieder vergessen."
Andere verwaiste Eltern meldeten sich
Doch schnell bekommt sie Nachrichten von anderen verwaisten Eltern und merkt: Sie ist nicht allein. Mittlerweile teilt Karolina Deiß ihre Inhalte, um auch anderen Betroffenen zu helfen, um aufzuklären. Und um deutlich zu machen: Es ist vollkommen okay, seine Trauer zu zeigen.
"Die Trauer ist meine beste Freundin geworden, sie begleitet mich jetzt mein ganzes Leben und ich muss lernen, damit klarzukommen", sagt Karolina Deiß. Trotzdem bestehen ihre Beiträge auf den Social-Media-Kanälen nicht nur aus traurigen Inhalten. Die 29-Jährige möchte auch verdeutlichen: "Ich bin nicht nur Trauer, ich bin auch eine Frau, die sich gerne hübsch anzieht und schminkt und vor allem gerne lacht und etwas unternimmt." Das zeigt sie auch.
Innerhalb eines Jahres wächst ihr Instagram-Kanal stark an
Neben dem Umgang mit Trauer spielt das Thema Aufklärung eine große Rolle auf Deiß' Profilen. Sie selbst habe anfangs nicht gewusst, dass eine Hirnhautentzündung nicht nur durch Meningokokken ausgelöst wird. Sondern dass viel mehr dahinter stecken kann. "So viele Fragen und keine Antworten", habe sie gehabt. Bis ihr diese Fragen selbst gestellt wurden. "Und dann dachte ich mir, dass das vielleicht mein Weg ist: aufzuklären."
So veröffentlichte sie auch ein YouTube-Video mit einer Kinderärztin zu den Themen Meningitis, bakterielle Infektion, Impfungen und Symptome.
Und innerhalb eines Jahres wächst ihr Instagram-Kanal von wenigen hundert Followern auf über 80.000. Auch auf TikTok folgen Deiß fast 90.000 Menschen. Und mit den gestiegenen Zahlen trudelten auch immer mehr Kooperations-Anfragen von Firmen ein. Mittlerweile könne sie davon sogar leben, sagt die 29-Jährige. Vor Kurzem hat sie sich selbstständig gemacht, von einem Management unterstützt.
Buch geplant: "Das erste Jahr ohne dich"
Für sie sei damit noch lange nicht Schluss, sagt Deiß. "Natürlich kann ich die Welt nicht retten, aber ich möchte ein Teil davon sein, der Leid minimiert. Verwaiste Eltern bekommen viel zu wenig Hilfe, Aufmerksamkeit und Informationen." So möchte sie - sobald der Rechtsstreit vorbei ist - ein Buch veröffentlichen. "Das erste Jahr ohne dich" soll es heißen - und die tragische Geschichte vom kleinen Leon und seinen Eltern erzählen.
Ihr Buch soll auch ihr Lebensmotto widerspiegeln, sagt Leons Mutter: "Man sollte das Leben in vollen Zügen und für jede Sekunde genießen, denn es kann so schnell vorbei sein."
https://www.rki.de/SharedDocs/FAQ/Impfen/Pneumokokken/FAQ-Liste_Pneumokokken_Impfen.html