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Reichenberg
Eine ganze Gemeinde packt mit an: Wie Reichenberg sich für Geflüchtete einsetzt
Fast 50 Vertriebene aus der Ukraine hat die Gemeinde Reichenberg auf privatem Weg schon aufgenommen, in den nächsten Tagen werden es noch mehr. Wie das vonstatten geht.
In Reichenberg sind alle Geflüchteten in privaten Unterkünften untergebracht und viele Hände helfen mit. Rechts im Bild: Bürgermeister Stefan Hemmerich, ganz links seine Frau Manuela. Neben ihr Kateryna Daschkovska mit Geflüchteten und deren Kindern.
Foto: Thomas Obermeier | In Reichenberg sind alle Geflüchteten in privaten Unterkünften untergebracht und viele Hände helfen mit. Rechts im Bild: Bürgermeister Stefan Hemmerich, ganz links seine Frau Manuela.
Katja Glatzer
 |  aktualisiert: 08.02.2024 18:23 Uhr

Während ihre Tochter mit weiteren Kindern eine Friedenskerze bastelt, erzählt Anna Dowha wie sie "von vielen Menschen mit offenen Herzen" in Reichenberg aufgenommen wurde. Sie sei dankbar dafür, sagt die junge Frau, die mit ihren beiden Kindern geflüchtet ist und Tränen steigen ihr in die Augen. Man merkt deutlich, wie schwer es ihr fällt über den Krieg in ihrem Heimatland und ihre Flucht von Odessa nach Deutschland zu reden. Jeden Morgen und jeden Abend spreche sie über Telefon oder die sozialen Medien mit ihrem Mann und der zurück gebliebenen Familie, "nur um zu hören, dass noch alles okay ist".

Hier, in der Räumlichkeit der Gemeinde Reichenberg, können die ukrainischen Kinder lachen, basteln und einfach Kind sein.
Foto: Thomas Obermeier | Hier, in der Räumlichkeit der Gemeinde Reichenberg, können die ukrainischen Kinder lachen, basteln und einfach Kind sein.

Als sie vom Geburtstag ihres Sohnes erzählt, der am kommenden Sonntag 17 Jahre alt wird, kommen ihr wieder die Tränen. "Er sagt, er möchte kein Geburtstagsgeschenk, er möchte alles Geld, was wir haben, an die Ukraine spenden." Bürgermeister Stefan Hemmerich und seine Frau Manuela haben in den vergangenen Tagen und Wochen viele solcher emotionalen Momente erlebt. "Wir weinen immer wieder mal. Das geht nicht spurlos an einem vorbei", sagt Manuela Hemmerich.

"Wir weinen immer wieder mal. Das geht nicht spurlos an einem vorbei."
Manuela Hemmerich, Reichenberg.

Insgesamt 47 geflüchtete Menschen sind bisher in der 4200 Einwohner umfassenden Gemeinde Reichenberg angekommen und wohnen hier entweder bei Gastfamilien oder in leerstehenden Häusern oder Wohnungen, die von Privatleuten angeboten wurden. Mithilfe einer Steuerungsgruppe, die sich, wie Stefan Hemmerich erklärt, schon in der Flüchtlingskrise von 2015 bewährt hat, habe man mit vielen ehrenamtlichen Helfern sofort ein Netzwerk aufbauen können und mehrere Arbeitskreise initiiert.

Die Situation der ukrainischen Flüchtlinge, die auf privatem Weg in der Gemeinde ankommen, sei eine andere als die der Menschen, die in einer zentralen Notunterkunft unterkommen, erklärt der Bürgermeister. "Bei uns heißt es, die Menschen kommen hier an, werden privat untergebracht und bei der Gemeinde gemeldet. Dann aber beginnt der zähe Prozess, bis sie ihre Anerkennung haben", schildert er das Prozedere. Das könne unter Umständen einige Wochen dauern. In diesem Überbrückungs-Zeitraum hätten viele weder Geld noch Essen und Trinken.

"Mir kommt es vor", sagt Hemmerich und will für das Thema sensibilisieren, "als ob es noch nicht im Bewusstsein der Politik angekommen ist, dass es da eine Riesenlücke im System gibt". Eigentlich, sagt er, müsste da eine Art unbürokratische Sofort-Hilfe her. In Gesprächen mit dem Landratsamt sei er bereits, auch darüber, ob man die hier ankommenden Menschen nicht in einem "zentralen Termin" vor Ort registrieren könne.

Willkommencafé und Supermarkt in Gemeinderäumen eingerichtet

Bewundernswert ist es, was Reichenberg und seine Gemeindeteile bisher auf die Beine gestellt haben. Nicht nur, dass viele Familien bereit waren, Menschen aufzunehmen, auch ein Willkommenscafé sowie eine Art "Supermarkt" sind im Gemeindezentrum entstanden. Hier können die geflüchteten Menschen kostenfrei gespendete Nahrungsmittel abholen und auch andere Dinge des alltäglichen Bedarfs. "Auch erste Sprachkurse sind bereits angelaufen und die ersten Kinder werden ab nächsten Montag in die Schule gehen", erzählt Manuela Hemmerich stolz. Viele Menschen hätten gespendet, "wir sind nun dazu übergangen über die Homepage der Gemeinde oder Social-Media Accounts gezielt Dinge anzufragen, die dringend gebraucht werden".

Bürgermeister Stefan Hemmerich mit einer Lebensmitteltüte, die beim Edeka in Reichenberg für 9,99 Euro gepackt werden kann. Abends werden die Tüten gesammelt abgeholt.
Foto: Thomas Obermeier | Bürgermeister Stefan Hemmerich mit einer Lebensmitteltüte, die beim Edeka in Reichenberg für 9,99 Euro gepackt werden kann. Abends werden die Tüten gesammelt abgeholt.

Manche Frauen und Kinder hätten wirklich nur die Kleidung dabei, die sie am Leib tragen, "so, dass wir am kommenden Wochenende einen Kleidermarkt veranstalten", erklärt Manuela Hemmerich weiter. Zum Glück sei das dank multimedialer Kommunikation schnell und gezielt möglich. Auch Schwimmunterricht konnte für die ukrainischen Kinder initiiert werden: "Das hat viel Freude ausgelöst. Die Kinder wünschen sich nichts mehr als ein bisschen Normalität. Die versuchen wir ihnen zu geben." So sind auch die Jugendlichen im Jugendhaus der Gemeinde willkommen und Stefan Hemmerich würde zeitnah gern einen Filmabend anbieten, "vielleicht ein deutscher Film mit ukrainischen Untertiteln".

Warum fanden viele Geflüchtete den Weg nach Reichenberg?

Warum so viele Geflüchtete privat den Weg nach Reichenberg fanden, hat bestimmt auch den Grund, dass die Ukrainerin Kateryna Daschkovska mit ihrer Familie seit einigen Jahren hier lebt und momentan hilft, wo es geht. Sie und ihr ebenfalls ukrainischer Mann arbeiten beide an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg. "Ich war schockiert, als am 24. Februar der Krieg in meinem Heimatland begann", schildert sie.

Natürlich sei sie mit ihrer Verwandtschaft und Freunden in Kontakt gewesen, inzwischen seien einige Familienmitglieder wohl behalten in Reichenberg angekommen. "Zeitweise hatte sie bis zu 20 Leute in ihrem Haus beherbergt, die dann in Reichenberg in andere Unterkünfte verteilt wurden", so Manuela Hemmerich augenzwinkernd.

"Zeitweise hatte sie bis zu 20 Leute in ihrem Haus beherbergt, die dann in Reichenberg in andere Unterkünfte verteilt wurden."
Manuela Hemmerich

Auch eine Studienfreundin Daschkovskas - beide Frauen studierten im ukrainischen Odessa - ist über ihren Kontakt in die unterfränkische Gemeinde gekommen und fühlt sich hier herzlich aufgenommen. Valeria Kulyk kommt aus dem 25 Kilometer nordwestlich der Hauptstadt Kiew gelegenen Ort Butscha. Durch die Nähe zu Kiew sei das Kriegsgeschehen dort schon in den Anfangstagen des Krieges fassbar gewesen und sie und ihre Familie mussten mehrere Tage in einem Luftschutzkeller verbringen, erzählt sie mit Tränen in den Augen.

In der, wie sie beschreibt, "vorerst letzten Möglichkeit" - danach waren Zugangsstraßen zerstört, grüne Korridore gab es bis zum 10. März nicht -  schaffte sie es mit ihren Kindern zu flüchten. Ihre kranke Mutter musste zurückbleiben, ebenso ihr Mann, der sich für die Freiwillige Armee gemeldet hat.

Schicksale, die die Reichenberger bewegen. Und, so wie es aussieht, ist der Zustrom längst nicht vorbei: Erst am Donnerstagmorgen war Manuela Hemmerich mit einer jungen ukrainischen Frau in telefonischem Kontakt, die momentan mit ihrer Mutter in Berlin sitzt und nicht weiß wohin. Voraussichtlich werden sie am Freitag in Reichenberg ankommen und genauso warm und herzlich empfangen werden wie ihre Landsleute.

Über die aktuelle Lage in Reichenberg wird auf der Gemeindehomepage http://www.markt-reichenberg.de/ informiert, an einer eigene Homepage  "Wir helfen! Markt Reichenberg" wird gearbeitet. Außerdem hält die Gemeinde auf Facebook (Stefan Hemmerich - Markt Reichenberg) und Instagram (stefan.hemmerich) auf dem Laufenden.

Eine Art Supermarkt im Gemeindezentrum: Hier können sich die ukrainischen Geflüchteten kostenlos versorgen.
Foto: Thomas Obermeier | Eine Art Supermarkt im Gemeindezentrum: Hier können sich die ukrainischen Geflüchteten kostenlos versorgen.
 
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  • K. F.
    kann man nur sagen: hut ab vor reichenberg! gibt aber sonst auch schon sehr viele ortschaften die menschen aus der ukraine aufgenommen haben.
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