
33 Jahre deutsche Einheit am 3. Oktober, 34 Jahre Mauerfall am 9. November: Momentan jähren sich wieder einmal die Wendepunkte deutsch-deutscher Geschichte. Eberhard Schellenberger, der ehemalige Leiter des Studios Mainfranken beim Bayerischen Rundfunk, hat die Geschehnisse damals in Unterfranken journalistisch ebenso begleitet wie die Zeit der Teilung und des kalten Krieges in den Jahren zuvor.
Unter dem Titel "Deckname Antenne. Als Journalist im Visier der Stasi" hat der 66-Jährige, der aus Zeil am Main (Lkr. Haßberge) stammt, seine Erlebnisse und Erfahrungen in und mit der DDR aufgeschrieben. Basis ist die 400-seitige Akte, die offizielle und inoffizielle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Staatssicherheit zusammengeschrieben haben, als der Reporter im Osten unterwegs war, um unter anderem über die Anbahnung der Städtepartnerschaft Würzburg-Suhl zu berichten.
Eberhard Schellenberger: Mittlerweile waren es über 40 Lesungen - mit rund 3000 Zuhörerinnen und Zuhörern. Und die Termine reichen bis weit ins nächste Jahr - selbst nach München und Berlin bin ich eingeladen. So eine Resonanz habe ich nicht für möglich gehalten. Es sind meistens etwas ältere Menschen, die kommen, die die deutsche Teilung als Zeitzeugen miterlebt, vielfach auch mit erlitten haben. Für die ist das eine Reise in die Vergangenheit. Manchmal fließen sogar Tränen, wenn ich bei den Lesungen auch die Radioreportagen aus der Wendezeit abspiele.
Schellenberger: Schwierig, einzelne Veranstaltungen herauszuheben. Jede hat ihren eigenen Charme.
Schellenberger: Da ist Henri Eppler, ein Amateurfunker aus Milz, einem kleinen thüringischen Dorf gleich hinter der ehemaligen Grenze bei Bad Königshofen. Er hatte uns im BR-Studio zu DDR-Zeiten einen Brief zugeschickt, mit Informationen rund um die Milzer Kirchweih. Den habe ich damals - vor fast 40 Jahren - im Radio vorgelesen. Jetzt haben wir uns persönlich kennengelernt. Als Vorsitzender des Heimatvereins hatte er mich zur Lesung eingeladen. Ein sehr emotionaler Abend. Ich habe dabei einmal mehr erfahren, wie wichtig die regelmäßige Berichterstattung der "Welle Mainfranken" aus dem Grenzgebiet für die Menschen in Südthüringen gewesen ist. Wir Reporter waren ihre Brücke in den Westen.

Schellenberger: Im Gasthaus "Ölmühle" in Abtswind lädt die Familie Schwanfelder jedes Jahr zu Themenabenden – diesmal unter dem Motto DDR. Zweimal waren sie ausverkauft. Ich habe gelesen – und dazu gab es ein Mehr-Gänge-Menü mit Ostspezialitäten.
Schellenberger: Ganz genau. Vorneweg eine Soljanka, dann der Broiler, also das Hähnchen, dazu Rotkäppchen-Sekt und Korn aus Nordhausen. Und zum Dessert einen Schwedeneisbecher.
Schellenberger: Das ist Vanilleeis mit Apfelmus und Sahne. Der Legende nach soll Walter Ulbricht, der DDR-Staatsratsvorsitzende, diese Nachspeise gerne gegessen haben und ihr den Namen gegeben haben, nachdem Schweden bei Olympia 1952 im Eishockey die Mannschaft der verhassten Bundesrepublik geschlagen hatte.

Schellenberger: Das Bildungswerk der Katholischen Arbeitnehmerbewegung (KAB) im Bistum Würzburg hatte einen ganzen Bus mit 50 Leuten gechartert. In Eußenhausen und Behrungen bei Mellrichstadt stehen noch Teile der Grenzanlagen. Da habe ich im Freien gelesen. Richtig beklemmend wurde es dann im einst geheimen Verschlussraum neben dem ehemaligen Atombunker unter der Hainbergkaserne in Mellrichstadt, heute ein Dokumentationszentrum über eine Kaserne im kalten Krieg. Im Tresor dort lagern noch die Operationspläne, die im Falle eines Angriffs des Warschauer Pakts zum Einsatz gekommen wären. Unterfranken wäre zum Schlachtfeld geworden, die ganze Region wäre vermutlich gleich in den ersten Kriegstagen niedergebrannt, berichtete der frühere Bundeswehr-Zugführer Udo Straub. Das zu hören, sorgte bei allen, die dabei waren, für Gänsehaut-Momente.
Schellenberger: Ja, zum Glück. Mehrfach gab es die Kombination "öffentliche Lesung am Abend, eine Schulveranstaltung am Vormittag". Das reichte vom Bayernkolleg in Schweinfurt bis zur Montessori-Schule in Würzburg. Erst dieser Tage war ich am Gymnasium in Lauda-Königshofen. Die Schülerinnen und Schüler haben mir fast schon ungläubig zugehört. Mitten in Deutschland ein technisch hochgerüsteter, schwer bewachter Zaun, an dem Menschen ihr Leben lassen mussten, das ist heute für viele – zum Glück - unvorstellbar. Ganz abgesehen vom Treiben der Staatssicherheit.
Schellenberger: Das waren auch besondere Erlebnisse, die Lesungen und Diskussionen sowohl bei der Bereitschaftspolizei in Würzburg als auch bei der Bundespolizei in Oerlenbach. Da wurde der Geschichts- und Politikunterricht richtig lebendig. Ich konnte den jungen Auszubildenden zeigen, wie wichtig Presse- und Meinungsfreiheit sind.

Schellenberger: Wenn das die Erkenntnis ist, dann habe ich einiges erreicht. Mir ging es beim Schreiben vor allem darum, ein Stück Zeitgeschichte zu bewahren. Am Ende haben wir es vielen mutigen Menschen im Osten sowie der Weitsicht von Politikern wie Michail Gorbatschow, aber auch den Westalliierten, zu verdanken, dass der kalte Krieg zumindest hierzulande ohne Blutvergießen zu Ende ging. Dass das geteilte Deutschland wieder zusammenwachsen konnte, grenzt für mich an ein Wunder. Da bin ich heute noch demütig.
Schellenberger: Das mag so sein. Sicher haben viele Menschen im Osten persönliche Verwerfungen erlebt, beispielsweise ihren Job verloren. Die Politik hat auch Fehler gemacht, aber die Dankbarkeit für die friedliche Revolution sollte das nicht schmälern.
Schellenberger: Ich hatte die Arbeit an meinem Buch gerade beendet, da kam am 24. Februar 2022 die Nachricht, dass Putins Russland die Ukraine überfallen hat. Kein kalter, sondern ein heißer Krieg mitten in Europa, nur etwas mehr als 1000 Kilometer von uns entfernt. Zehntausende Tote, Millionen Geflüchtete, unfassbare Zerstörungen… Ich habe mir das nicht vorstellen können. Dieser Krieg ist eine Mahnung an uns alle, dass Frieden und Demokratie nicht selbstverständlich sind, dass wir sie tagtäglich neu verteidigen müssen.
Buchtipp: Eberhard Schellenberger: "Deckname Antenne. Als Journalist im Visier der Stasi", 195 Seiten, gebunden, Echter-Verlag Würzburg, 19,90 Euro