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Würzburg
Der unterfränkische Journalist Eberhard Schellenberger über seine Stasi-Lesungen: "Manchmal fließen sogar Tränen"
Seine Akte dokumentiert Weltgeschichte in Unterfranken. Seit einem Jahr ist der frühere Radioreporter Schellenberger mit seinem Buch auf Lesereise. Was er dabei erlebt.
Vor über einem Jahr ist das Buch „Deckname Antenne' von Eberhard Schellenberger erschienen. Seitdem ist er mehrfach in der Woche damit auf Lesungen, Diskussionsveranstaltungen, bei Vereinen und in Schulen. Mit Main-Post-Redakteur Michael Czygan spricht er über berührende Momente.
Foto: Johannes Kiefer | Vor über einem Jahr ist das Buch „Deckname Antenne" von Eberhard Schellenberger erschienen. Seitdem ist er mehrfach in der Woche damit auf Lesungen, Diskussionsveranstaltungen, bei Vereinen und in Schulen.
Michael Czygan
 |  aktualisiert: 08.11.2023 02:59 Uhr

33 Jahre deutsche Einheit am 3. Oktober, 34 Jahre Mauerfall am 9. November: Momentan jähren sich wieder einmal die Wendepunkte deutsch-deutscher Geschichte. Eberhard Schellenberger, der ehemalige Leiter des Studios Mainfranken beim Bayerischen Rundfunk, hat die Geschehnisse damals in Unterfranken journalistisch ebenso begleitet wie die Zeit der Teilung und des kalten Krieges in den Jahren zuvor.

Unter dem Titel "Deckname Antenne. Als Journalist im Visier der Stasi" hat der 66-Jährige, der aus Zeil am Main (Lkr. Haßberge) stammt, seine Erlebnisse und Erfahrungen in und mit der DDR aufgeschrieben. Basis ist die 400-seitige Akte, die offizielle und inoffizielle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Staatssicherheit zusammengeschrieben haben, als der Reporter im Osten unterwegs war, um unter anderem über die Anbahnung der Städtepartnerschaft Würzburg-Suhl zu berichten.

Frage: Seit einem Jahr sind Sie mit Ihrem Buch "Deckname Antenne" unterwegs. Ein Ende der Lesereise ist nicht in Sicht. Woher kommt dieses Interesse?

Eberhard Schellenberger: Mittlerweile waren es über 40 Lesungen - mit rund 3000 Zuhörerinnen und Zuhörern. Und die Termine reichen bis weit ins nächste Jahr - selbst nach München und Berlin bin ich eingeladen. So eine Resonanz habe ich nicht für möglich gehalten. Es sind meistens etwas ältere Menschen, die kommen, die die deutsche Teilung als Zeitzeugen miterlebt, vielfach auch mit erlitten haben. Für die ist das eine Reise in die Vergangenheit. Manchmal fließen sogar Tränen, wenn ich bei den Lesungen auch die Radioreportagen aus der Wendezeit abspiele.

Was waren die schönsten Erlebnisse?

Schellenberger: Schwierig, einzelne Veranstaltungen herauszuheben. Jede hat ihren eigenen Charme.

Versuchen Sie es trotzdem.

Schellenberger: Da ist Henri Eppler, ein Amateurfunker aus Milz, einem kleinen thüringischen Dorf gleich hinter der ehemaligen Grenze bei Bad Königshofen. Er hatte uns im BR-Studio zu DDR-Zeiten einen Brief zugeschickt, mit Informationen rund um die Milzer Kirchweih. Den habe ich damals - vor fast 40 Jahren - im Radio vorgelesen. Jetzt haben wir uns persönlich kennengelernt. Als Vorsitzender des Heimatvereins hatte er mich zur Lesung eingeladen. Ein sehr emotionaler Abend. Ich habe dabei einmal mehr erfahren, wie wichtig die regelmäßige Berichterstattung der "Welle Mainfranken" aus dem Grenzgebiet für die Menschen in Südthüringen gewesen ist. Wir Reporter waren ihre Brücke in den Westen.

Eberhard Schellenberger bei seiner Lesung in Behrungen an der ehemaligen innerdeutschen Grenze.
Foto: Irene Konrad | Eberhard Schellenberger bei seiner Lesung in Behrungen an der ehemaligen innerdeutschen Grenze.
Ich habe gelesen, im Steigerwald gab es sogar eine kulinarische Lesung.

Schellenberger: Im Gasthaus "Ölmühle" in Abtswind lädt die Familie Schwanfelder jedes Jahr zu Themenabenden – diesmal unter dem Motto DDR. Zweimal waren sie ausverkauft. Ich habe gelesen – und dazu gab es ein Mehr-Gänge-Menü mit Ostspezialitäten.

Mit Broiler?

Schellenberger: Ganz genau. Vorneweg eine Soljanka, dann der Broiler, also das Hähnchen, dazu Rotkäppchen-Sekt und Korn aus Nordhausen. Und zum Dessert einen Schwedeneisbecher.

Noch nie gehört. Was ist denn das?

Schellenberger: Das ist Vanilleeis mit Apfelmus und Sahne. Der Legende nach soll Walter Ulbricht, der DDR-Staatsratsvorsitzende, diese Nachspeise gerne gegessen haben und ihr den Namen gegeben haben, nachdem Schweden bei Olympia 1952 im Eishockey die Mannschaft der verhassten Bundesrepublik geschlagen hatte.

Eberhard Schellenberger beim 'Zeitzeugengespräch' des Bayernkolleg in Schweinfurt.
Foto: Petra Pfister | Eberhard Schellenberger beim "Zeitzeugengespräch" des Bayernkolleg in Schweinfurt.
Sie haben auch an historischen Schauplätzen gelesen.

Schellenberger: Das Bildungswerk der Katholischen Arbeitnehmerbewegung (KAB) im Bistum Würzburg hatte einen ganzen Bus mit 50 Leuten gechartert. In Eußenhausen und Behrungen bei Mellrichstadt stehen noch Teile der Grenzanlagen. Da habe ich im Freien gelesen. Richtig beklemmend wurde es dann im einst geheimen Verschlussraum neben dem ehemaligen Atombunker unter der Hainbergkaserne in Mellrichstadt, heute ein Dokumentationszentrum über eine Kaserne im kalten Krieg. Im Tresor dort lagern noch die Operationspläne, die im Falle eines Angriffs des Warschauer Pakts zum Einsatz gekommen wären. Unterfranken wäre zum Schlachtfeld geworden, die ganze Region wäre vermutlich gleich in den ersten Kriegstagen niedergebrannt, berichtete der frühere Bundeswehr-Zugführer Udo Straub. Das zu hören, sorgte bei allen, die dabei waren, für Gänsehaut-Momente.

Interessieren sich auch jüngere Leute für Ihre Geschichten?

Schellenberger: Ja, zum Glück. Mehrfach gab es die Kombination "öffentliche Lesung am Abend, eine Schulveranstaltung am Vormittag". Das reichte vom Bayernkolleg in Schweinfurt bis zur Montessori-Schule in Würzburg. Erst dieser Tage war ich am Gymnasium in Lauda-Königshofen. Die Schülerinnen und Schüler haben mir fast schon ungläubig zugehört. Mitten in Deutschland ein technisch hochgerüsteter, schwer bewachter Zaun, an dem Menschen ihr Leben lassen mussten, das ist heute für viele – zum Glück - unvorstellbar. Ganz abgesehen vom Treiben der Staatssicherheit.

Ihre Erfahrungen mit dem Überwachungsstaat DDR sind mittlerweile sogar Thema bei der Ausbildung von Polizistinnen und Polizisten.

Schellenberger: Das waren auch besondere Erlebnisse, die Lesungen und Diskussionen sowohl bei der Bereitschaftspolizei in Würzburg als auch bei der Bundespolizei in Oerlenbach. Da wurde der Geschichts- und Politikunterricht richtig lebendig. Ich konnte den jungen Auszubildenden zeigen, wie wichtig Presse- und Meinungsfreiheit sind.

Seit über einem Jahr ist Eberhard Schellenberger mit seinem Buch 'Deckname Antenne. Als Journalist im Visier der Stasi' auf Lesereise.
Foto: Johannes Kiefer | Seit über einem Jahr ist Eberhard Schellenberger mit seinem Buch "Deckname Antenne. Als Journalist im Visier der Stasi" auf Lesereise.
Wenn man Ihr Buch liest, wird einem wieder bewusst, wie dankbar wir im Westen sein müssen, in einer Demokratie aufgewachsen zu sein.

Schellenberger: Wenn das die Erkenntnis ist, dann habe ich einiges erreicht. Mir ging es beim Schreiben vor allem darum, ein Stück Zeitgeschichte zu bewahren. Am Ende haben wir es vielen mutigen Menschen im Osten sowie der Weitsicht von Politikern wie Michail Gorbatschow, aber auch den Westalliierten, zu verdanken, dass der kalte Krieg zumindest hierzulande ohne Blutvergießen zu Ende ging. Dass das geteilte Deutschland wieder zusammenwachsen konnte, grenzt für mich an ein Wunder. Da bin ich heute noch demütig.

Nicht alle sind so glücklich darüber, wie die Wiedervereinigung gelaufen ist.

Schellenberger: Das mag so sein. Sicher haben viele Menschen im Osten persönliche Verwerfungen erlebt, beispielsweise ihren Job verloren. Die Politik hat auch Fehler gemacht, aber die Dankbarkeit für die friedliche Revolution sollte das nicht schmälern.

Selbst die Demokratie scheint heute nicht mehr für jedermann erstrebenswert.

Schellenberger: Ich hatte die Arbeit an meinem Buch gerade beendet, da kam am 24. Februar 2022 die Nachricht, dass Putins Russland die Ukraine überfallen hat. Kein kalter, sondern ein heißer Krieg mitten in Europa, nur etwas mehr als 1000 Kilometer von uns entfernt. Zehntausende Tote, Millionen Geflüchtete, unfassbare Zerstörungen… Ich habe mir das nicht vorstellen können. Dieser Krieg ist eine Mahnung an uns alle, dass Frieden und Demokratie nicht selbstverständlich sind, dass wir sie tagtäglich neu verteidigen müssen.

Buchtipp: Eberhard Schellenberger: "Deckname Antenne. Als Journalist im Visier der Stasi", 195 Seiten, gebunden, Echter-Verlag Würzburg, 19,90 Euro 

 
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