Die "Süddeutsche Zeitung" hat ihn einen "Entmythologisierer" genannt: Professor Ulrich Konrad, bis vor kurzem Ordinarius für Musikwissenschaft der Universität Würzburg, räumt tatsächlich gerne mit Legenden auf. Er tat es zu Beginn seiner akademischen Karriere, als er in seiner Habilitationsschrift nachwies, dass Wolfgang Amadé Mozart mitnichten ein von Göttern ferngesteuerter Schreibautomat war, sondern ein zwar genialer, aber harter Arbeiter, der seine Kompositionen minutiös plante.
Und er tat es dieser Tage in seiner Abschiedsvorlesung im vollbesetzten Toscana-Saal der Residenz, als er vor Kollegen, Weggefährten, Freunden und Familie dem Standardbild von Ludwig van Beethoven als bürgerlichem Revolutionär einige tiefe Kratzer breibrachte. Doch davon später.
Die Liste seiner Publikationen würde - wie die seiner Auszeichnungen - jeglichen Rahmen sprengen
Ulrich Konrad gehört zu den Menschen, bei denen man sich fragt, wie sie all das schaffen, was sie schaffen. Lehre, Forschung und eine Fülle weiterer Funktionen und Ehrenämter. Er ist Mitglied etlicher Akademien, etwa der Leopoldina, und unter anderem Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats des Beethoven-Hauses Bonn und des Kuratoriums des Mozartfests Würzburg und stellvertretender Vorsitzender des Theater- und Orchesterfördervereins Würzburg.
Die Liste seiner Publikationen würde - wie die seiner Auszeichnungen - jeglichen Rahmen sprengen. Das machte schon das Geschenk deutlich, das ihm sein Kollege Prof. Andreas Haug, Inhaber des Lehrstuhls für Musikwissenschaft II, im Rahmen der Abschiedsvorlesung überreichte: eine kleine Auswahl von Ulrich Konrads Schriften von 1996 bis 2020, die locker zwei dicke Bände füllt.
Es scheint, als hätten die Menschen, bei denen man sich fragt, wie sie all das schaffen, was sie schaffen, etwas gemeinsam: Sie lieben das, was sie tun. Oder tun dürfen, wie Ulrich Konrad selbst es einmal formuliert hat. Er darf sich seit seiner Kindheit mit seiner großen Leidenschaft befassen.
Geboren 1957 in Bonn, studierte er in Bonn und Wien Musikwissenschaft, Germanistik und Geschichte. Nach Promotion und Habilitation und Lehrtätigkeiten in Göttingen, Berlin und Freiburg wurde er 1996 Ordinarius für Musikwissenschaft an der Universität Würzburg. Seit 2009 war er Inhaber des Lehrstuhls für Musikwissenschaft I (Musik des neuzeitlichen Europa) am neuformierten Institut für Musikforschung.
Als Seniorprofessor wird er drei große Forschungsprojekte weiterführen
Am 1. Oktober wird Ulrich Konrad, dann 66 Jahre alt, eine eigens für ihn geschaffene Stelle als Seniorprofessor antreten. Die Frage, ob ihm der Abschied als Institutsleiter schwerfällt, erübrigt sich im Gespräch schnell: "Den eher nicht vergnügungssteuerpflichtigen Teil meiner Diensttätigkeit gebe ich auf in der Hoffnung, dass sich für meinen Beruf eine Luststeigerung ergibt."
Konrad kann drei große Forschungsvorhaben weiterführen - die Schriften Richard Wagners, das neue, auf 24 Jahre angelegte Projekt "Robert Schumanns poetische Welt" , das er freilich nicht bis zum Schluss betreuen wird, und die Ausgabe der Briefe Richard Wagners. "Letztere stand im letzten Jahr auf der Kippe, ist jetzt aber gesichert - mit ausreichend Mitteln und Personal."
Ulrich Konrads lebenslanger Begleiter aber war und ist Mozart: "Das hat mit meiner katholischen Sozialisation zu tun." Konrad spielte Klarinette und sang als Knabe im Kirchenchor die "Spatzenmesse". "Das war das allererste Stück Mozarts, wo ich aktiv mitgearbeitet habe." Zu Beethoven führte der Weg - ebenfalls sehr früh - über die "Pastorale" und das Violinkonzert. Und dann kamen auch schon Wagner und Strauss: "Die allererste Oper meines Lebens war 'Salome'."
Als Jugendlicher investierte er sein gesamtes Taschengeld in Schallplatten
Zu Robert Schumann hat er eine besondere Beziehung: Die städtische Musikbibliothek Bonn ist in der ehemaligen "Irrenanstalt" untergebracht, in der Schumann starb. "Ich bin da seit meinem 16. Lebensjahr ein- und ausgegangen - mit großen Tüten oder Koffern. Die habe ich vollgemacht mit Partituren. Kopieren war zu teuer, man musste ausleihen." Es ging darum, Repertoirekenntnisse aufzubauen: "Ich habe mein ganzes Taschengeld in Schallplatten investiert."
Das Internet sollte erst ein Vierteljahrhundert später kommen. Heute kann man im Netz Musik jeder Art hören, etwa auf Youtube oder Spotify. Und lesen: "In der Petrucci Library sind inzwischen fast 40.000 Partituren kostenlos zugänglich." Dennoch sind die Repertoirekenntnisse bei den Digital Natives weitaus kleiner als bei Studierenden früher, hat Konrad beobachtet. "Ich bin da aber gar nicht kulturpessimistisch. Diese Lücken kann man heute ja sehr schnell schließen."
Für die Abschiedsvorlesung ist wieder der Entmythologisierer in ihm aktiv geworden
Vielleicht hat dieses Verständnis auch damit zu tun, dass er selbst immer bereit war, eigene Ansichten zu überprüfen und zu korrigieren. "Früher hatte ich die kecke Meinung, dass Beethoven und Zeitgenossen wie Louis Spohr gar nicht so weit auseinanderliegen." Davon ist er wieder abgerückt, sagt er: "Wenn die Lebenszeit allmählich begrenzter wird, bekommt man ein Gespür dafür, mit welcher Musik es sich auseinanderzusetzen lohnt." Immer wieder wird dabei ein Motiv deutlich: Der Forscher wie der Lehrer Ulrich Konrad will den Blick auf die Kunst selbst freischaufeln. Biografische Informationen spielen dabei eine wichtige Rolle, Legenden aber sind nur im Weg.
Womit wir wieder bei Beethoven wären. Bis vor wenigen Jahren habe er sich nicht wissenschaftlich mit seinem Mit-Bonner befasst, sagt er. Für die Abschiedsvorlesung ist dann aber doch wieder der Entmythologisierer in ihm aktiv geworden. "War Beethoven ein bürgerlicher Revolutionär?", fragt Ulrich Konrad und schickt sich an, mit der Legende des Prometheus Beethoven aufzuräumen, der sein Werk als selbständiger Humanist widrigen Mächten abringt und dabei für Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit steht.
Dieses Bild habe das Bürgertum des 19. Jahrhunderts entworfen, das Beethoven energisch für sich reklamiert habe. "Das hält aber nur stand, wenn man Störendes in Beethovens Biografie ausblendet." Seine lebenslange Affinität zur höfischen Kultur und deren aristokratischen Trägern etwa. Seine Hoffnung auf eine Anstellung am kaiserlichen Hof. Sein Kokettieren mit der angeblichen unehelichen Abstammung von Friedrich-Wilhelm II. Konrad nennt Beethoven deshalb unverhohlen einen "Hofmenschen". Und schiebt ein entlarvendes Originalzitat nach: "So republikanisch wir denken, so hat's auch sein Gutes um die oligarchische Aristokratie."