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Würzburg
Der bescheidene Wunsch eines Obdachlosenzeitungsverkäufers
Die Stadt ist geschmückt, der Weihnachtsmarkt im vollen Gange. Und mitten im Trubel wartet Heinz D., dass die Passanten ihm seinen einzigen Weihnachtswunsch erfüllen.
Ob Regen, Schnee, oder Sturm: Jeden Tag macht sich Heinz vom Heuchelhof auf den Weg in die Innenstadt, um die Obdachlosenzeitung zu verkaufen. 
Foto: Thomas Obermeier | Ob Regen, Schnee, oder Sturm: Jeden Tag macht sich Heinz vom Heuchelhof auf den Weg in die Innenstadt, um die Obdachlosenzeitung zu verkaufen. 
Sophia Scheder
Sophia Scheder
 |  aktualisiert: 07.04.2020 12:15 Uhr

„Die Obdachlosenzeitung“ – der laute Ruf wiederholt sich in unregelmäßigen Abständen. Seine Stimme ist unverkennbar. Fußgänger senken den Blick, hasten vorbei. Die Hektik der Vorweihnachtszeit ist deutlich zu spüren. Eltern erledigen die letzten Zukäufe für das Christkind, Kinder schauen mit großen Augen durch die Fensterscheiben der Spielzeugläden. Ein kleine Junge stürmt vorbei, drückt seine Nase an das Schaufenster des Würzburger Kaufhofs. „Schau Mama, das wünsch' ich mir vom Christkind“, ruft er einer elegant gekleideten Frau zu und zeigt auf ein großes Raumschiff aus Legobausteinen. Nur wenige Meter nebenan sitzt Heinz auf seinem Klapphocker. Die Zeit und Hoffnung, auch etwas zu Weihnachten zu bekommen, ist für den Mann, der seinen Nachnamen nicht nennen möchte, schon lange vorbei. Sein einziger Wunsch, sagt er, sei mehr Achtsamkeit. „Die Menschen laufen vorbei und ignorieren mich.“ So schlimm wie dieses Jahr sei es noch nie gewesen.

Heinz verkauft die Obdachlosenzeitung "Strassen Gazette". Seit einem Jahr sitzt er jeden Wochentag in der Würzburger Fußgängerzone: Immer am selben Platz, in einer Nische neben dem Eingang vor dem Kaufhof. Sonntags findet man ihn an der Alten Mainbrücke. Heinz ist der Nachfolger von Manni, der sein zweites Bein abgenommen bekommen hat und deshalb nicht mehr von Aschaffenburg nach Würzburg kommen kann. "Ich hab damals Flaschen gesammelt, als mich Manni gefragt hat, ob ich mit ihm die Zeitung verkaufen möchte", erzählt er.

Anders als beim Namen "Obdachlosenzeitung" angenommen, ist Heinz nicht obdachlos. Zumindest nicht mehr. 16 Jahre lang hat er in Versbach gewohnt, bis seine Wohnung verkauft wurde, und die neuen Vermieter ihn nicht mehr in der Wohnung haben wollten. „Über 70 Wohnungen habe ich mir dann angeschaut“, erzählt er. Bekommen hat er jedoch keine. Ein halbes Jahr lang musste er sich auf der Straße durchschlagen, hat unter Brücken geschlafen, in Hauseingängen, und wenn er Glück hatte, bekam er ein Bett in einer Obdachlosenunterkunft. Bis ihm die Christophorus Gesellschaft nach einem Krankenhausaufenthalt angeboten hat, in der sogenannten Kurzzeitübernachtung unterzukommen. „Die haben gesagt, Heinz, Sie müssen nicht mehr auf die Straße. Sie bleiben bei uns, bis Sie eine Wohnung gefunden haben", erinnert er sich. Noch im selben Jahr hat er eine Wohnung am Heuchelhof gefunden. „Mir war egal, wie sie aussieht, Hauptsache ein Dach überm Kopf.“

Freude über jede Spende

Ein elegant gekleideter Mann kommt an Heinz' Ecke. Streckt ihm seine Hand entgegen, darin eine Euromünze. „Jedes Jahr komme ich in der Weihnachtszeit extra aus Düsseldorf, um Ihnen etwas zu geben“, sagt er mit einem gewissen Stolz in der Stimme. Warum er wegen eines einzelnen Euros die weite Strecke aus Düsseldorf auf sich nimmt, bleibt offen. Heinz freut sich jedenfalls über die Spende. "Danke! Schönen Tag und schöne Feiertage!", ruft er fast melodisch hinterher. Der Mann dreht sich um, schenkt ihm ein Lächeln. „Etwa sieben oder acht Leute kommen am Tag und geben mir was“, erzählt er. Die Zeitung verkauft sich da schon öfter: 20 bis 30 pro Tag, doch "dieses Jahr läuft es wirklich schlecht", erzählt er. Letztes Jahr hat Heinz schon eine Woche vor Weihnachten alle Exemplare der "Strassen Gazette", die er monatlich per Telefon bestellt, verkauft. "Die Leute denken nur noch an sich, man kann sagen, dass sich eine soziale Kälte verbreitet", ärgert er sich. Von dem Kaufpreis von 1,50 Euro geht die eine Hälfte an den Verkäufer, während die andere soziale Projekte unterstützt.

"Ich möchte nicht auf andere angewiesen sein."
Heinz D., Verkäufer der Obdachlosenzeitung

Heinz ist im Heim groß geworden, die am tiefsten prägende Zeit seiner Kindheit verbrachte er dort. Sieben Geschwister hat er, seine Mutter kümmerte sich um keines. Bis heute denkt er an die schlimmen Ereignisse, die er über sich ergehen lassen musste. In der Zeitung lesen möchte er sie nicht. Nur so viel: „Dort wurde mir meine Kindheit geraubt.“ Die Erlebnisse hätten sein Leben gezeichnet, erzählt er. Er wurde Einzelgänger, hat die Gesellschaft gemieden und wollte nie eine Familie gründen. „Ich wollte keine Kinder in diese grausame Welt setzen, und das habe ich bis heute durchgehalten.“

Von dem Kaufpreis von 1,50 Euro geht die eine Hälfte an den Verkäufer, während die andere soziale Projekte unterstützt. Pater Anselm Grün ziert die diesjährige Dezemberausgabe der 'Strassen Gazette'.
Foto: Thomas Obermeier | Von dem Kaufpreis von 1,50 Euro geht die eine Hälfte an den Verkäufer, während die andere soziale Projekte unterstützt. Pater Anselm Grün ziert die diesjährige Dezemberausgabe der "Strassen Gazette".

Vom Pech verfolgt

Im Minutentakt kommen aus dem Geldautomaten neben Heinz die Scheine raus. Für ihn gibt es nichts von alldem. Er ist ein bescheidener Mann, der sich mit dem Wenigen, was er hat, zufriedengibt. Er hat Koch gelernt, dann mehrere Jahre als Druckhelfer gearbeitet, bis er Opfer einer Entlassungswelle wurde. Dann hat er sich zum Berufskraftfahrer umschulen lassen, bis ihn auch hier das Pech getroffen hat. Die Firma ging pleite, Heinz verlor den Job, und das mit 57 Jahren. „In dem Alter war meine Chance, nochmal einen Job zu bekommen, gleich Null“, sagt er. Seitdem ist er arbeitslos. Seit zwei Jahren erhält er eine Erwerbsunfähigkeitsrente. „630 Euro“, sagt er, „und dafür habe ich 40 Jahre lang gearbeitet.“ 340 Euro gehen monatlich für die Miete ab, viel zum Leben bleibt da nicht mehr.

Um ihn herum befinden sich die Menschen mitten im Weihnachtsstress, haben Tüten voller Geschenke in der Hand. Ein Luxus, von dem Heinz nur träumen kann. Ihn beschäftigen andere Themen – sein Abendessen zum Beispiel. „Heute habe ich von einer netten Dame Gulasch geschenkt bekommen, das mach ich mir gleich heute Abend“, sagt er. Er freut sich über die kleinen Dinge.

Mit 630 Euro Rente, bleibt nicht viel zum leben. Deshalb mach sich Heinz D. jeden Tag auf den Weg, um vor dem Würzburger Kaufhof die 'Strassen Gazette' zu verkaufen. 
Foto: Thomas Obermeier | Mit 630 Euro Rente, bleibt nicht viel zum leben. Deshalb mach sich Heinz D. jeden Tag auf den Weg, um vor dem Würzburger Kaufhof die "Strassen Gazette" zu verkaufen. 

Ein kleiner Junge kommt vorbei, etwa sieben, vielleicht acht Jahre alt. „Was machen Sie hier?“, fragt er mit einem breiten Grinsen im Gesicht, seine Zahnlücken treten hervor. „Ich verkaufe die Obdachlosenzeitung“, antwortet Heinz. Der Junge fängt an zu lachen. „Das ist nicht witzig“, sagt Heinz, reagiert aber gelassen. „Der weiß doch nicht, was ein Obdachloser überhaupt ist.“ Solche Begegnungen kommen oft vor, meint er. Manchmal sind es positive: Menschen bringen ihm Kaffee oder zu dieser Zeit gerne Lebkuchen vorbei. Manchmal sind es negative: "Letzte Woche erst hat mich einer dumm angemacht und gesagt, dass ich mein Maul halten soll." Wenn man jeden Tag hier sitzt, erlebt man nun mal einiges. 

Weihnachten als Tag wie jeder andere

Pater Anselm Grün ziert die Titelseite der Dezemberausgabe der „Strassen Gazette“. „Kein Platz für Angst und dunkle Gedanken“, steht auf dem Titel. Das wünscht sich Heinz auch für die Menschen, die durch die weihnachtlichen Straßen gehen. „Die Leute denken nur noch an sich“, sagt er, „die rennen doch nur noch drauf zu, mit Bummeln hat das nichts mehr zu tun. Die Leute machen sich selber verrückt.“ Für Heinz ist Weihnachten ein Tag wie jeder andere. Plätzchen backen, dekorieren oder Geschenke gibt es für ihn nicht, einzig und allein auf seine Weihnachtsente verzichtet er nicht. „Die gibt es bei mir jedes Jahr."  Und mit seinen Brüdern telefoniert er, doch er bleibt alleine. „Und das will ich auch, sonst werden wieder die Erlebnisse aus meiner Kindheit wach.“

Neben Achtsamkeit wünscht sich Heinz nur noch „Gesundheit für meine Brüder und mich“, das sei das Wichtigste. Auf die Frage, ob er nicht auch einen materiellen Wunsch habe, braucht Heinz einige Sekunden, um nachzudenken. „Ich möchte nicht auf andere angewiesen sein“, antwortet er, „so viel Rente zu haben, dass ich das hier nicht mehr machen muss.“

Kurzzeitübernachtung der Christophorus-Gesellschaft
An Weihnachten muss niemand auf der Straße sitzen. Männer, die ihre Wohnung verloren haben und/oder nicht wissen, wo sie die Nacht verbringen sollen, können in der Weihnachtszeit, aber auch an allen anderen Tagen im Jahr, in der Kurzzeitübernachtung der Christophorus-Gesellschaft in der Wallgasse 3 in Würzburg Zuflucht finden. Neben einem Bett für die Nacht finden die Hilfesuchenden Sanitärräume, Waschmöglichkeiten und Verpflegung. Die Kurzzeitübernachtung ist ausschließlich für Männer. Frauen können sich an die Bahnhofsmission wenden.  Öffnungszeiten: täglich von 18 bis 22 Uhr. Tel.: (0931) 32102 16. Im Notfall: (0931) 32102 25
 
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Kommentare
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  • K. C.
    Die meisten Kommentare hier beziehen sich auf die aktuelle Lebenssituation und die finazielle Not von Heinz und anderen. Mir fiel ein anderer Aspekt in der Geschichte auf, der nur in einem Nebensatz fiel. Seine Kindheit im Heim und die schlimmen Erlebnisse dort. Im Laufe der letzten Jahre habe ich viele Menschen getroffen, die mir ihre Erlebnisse in dieser Zeit geschildert haben. Unterstützung, Respekt und Interesse an den Erfahrungen kommt für die Betroffenen zu spät, zu langsam und zu wenig. Bis heute überlebt hat nur, wer nicht vorher am Leben verzweifelt ist. Die aktuelle Lebenssituation ähnelt sich vielfach. Und in wenigen Jahren werden viele derjenigen, die diese schlimmen Erfahrungen aus der Kindheit und Jugend hatten, pflegebedürftig sein und besondere Bedürfnisse haben, z.B. eine Betreuung, die schon äusserlich nicht an ihre frühere Heimsituation erinnert. Darauf müssen wir uns einstellen, denn Menschen wie Heinz haben Respekt verdient, und keinesfalls Ignoranz oder Ablehnung.
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    habe ihn heute morgen erst beim "brandstetter" gesehen als er sich Kaffee und Hörnchen holte. machte einen sehr sympathischen eindruck, freundlich und grüßt.
    es gibt aber halt auch leider die andere seite von obdachlosen, pöbeln menschen an und schreien vor sich her wie ein Schreihals. alles schon in Würzburg erlebt. schade, dass man für solche menschen kein gemeinsames haus in der Stadt oder am Stadtrand findet wo sie unterschlupf finden.
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  • U. S.
    Richtig @fiekla, das ist schade. Es ist wahrlich seltsam, dass man für diese Menschen keine Unterkunft findet. Oder baut.
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  • J. N.
    Viele der Obdachlosen sind psychisch krank (und damit meine ich jetzt nicht alkoholkrank, obwohl das sicherlich bei dem einen oder anderen auch noch dazu kommt). Das sind die, die "vor sich her schreien" und vermeintlich die Leute anpöbeln.
    Die können nichts dafür, werden aber gerade deshalb noch mehr ausgegrenzt.
    Oft stehen unglaublich traurige Geschichten dahinter.

    Man muss da wirklich genau hinsehen.
    Die "echten Berber" darf man nicht mit den kriminellen Gestalten links am Bahnhofsvorplatz verwechseln, oder mit den Bettlerbanden, die allmorgendlich nach Würzburg reingefahren werden, über einen Kamm scheren.

    Unterhalten Sie sich einfach mal mit einem Berber.
    Man kann sehr viel dabei lernen.
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  • Veraltete Benutzerkennung
    Flaschensammeln und noch arbeiten im hohen Alter um Miete und Verpflegung zu sichern ist ein Unding in unserem Lande. Eine Grundsicherung müsste her wovon jeder leben kann. Für alles ist Geld da nur nicht für die Bedürftigen.
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  • G. J.
    Dieser Kommentar trägt nicht zu Diskussion bei und wurde daher gesperrt.
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  • N. R.
    Viele haben heutzutage Angst, herab zu fallen, vielleicht noch nicht mal so tief wie Heinz. Dann ist es schnell vorbei mit dem bling-bling Konsumleben. Bestimmt ignorieren ihn deshalb viele. Sie sehen in ihm so eine böse Vorahnung davon, was alles passieren kann. Ich wünsch mir für die Zukunft weniger Angst bei den Menschen und mehr Einsicht, dass die Konsumwelt uns alle hektisch und einsam macht. Denn was wirklich glücklich macht, ne sinnvolle Beschäftigung und Freunde, kann ein Einkauf nicht ersetzen. Und trotz allem alles Gute und Frohe Weihnachten für Heinz, den Zeitungsverkäufer in der Würzburger Fußgängerzone.
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  • C. B.
    Zum einen meinen höchsten Respekt vor diesem Mann. Zum anderen leider ein Beispiel eines Versagens der Politik, eine so niedrige Rente für 40 Jahre Arbeit ist eine Schande während sich die Politiker und Beamte fette Pensionen gönnen.
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