„Hättest du früher was geschafft, müsstest du das jetzt nicht machen!“ Sprüche wie diesen bekommt Manfred H. aus Aschaffenburg nicht selten zu hören. Seit elf Jahren verkauft der Rentner die Zeitung „Strassen Gazette“ zwischen Kaufhof und s.Oliver-Filiale. Wer kennt ihn nicht – seinen Werbespruch und vor allem den Tonfall, mit dem er Passanten anspricht: „Diiiiie Obdachlosenzeitung!“
Jeden Morgen bepackt der 77-Jährige seinen Rucksack mit fünfzig Exemplaren der Straßenzeitung und macht sich von Aschaffenburg mit dem Zug auf den Weg nach Würzburg. An die 500 Zeitschriften bestellt er, sobald die neue monatliche Ausgabe erscheint. „Bis auf Mittwoch bin ich jeden Tag unter der Woche von 10 bis 16 Uhr da, egal bei welcher Wetterlage“. Pro Tag verkauft er dann zwischen zwanzig und dreißig Zeitungen, wobei es jedoch mal besser und mal schlechter läuft.
Zu seiner Kundschaft zählen sowohl Einkaufspassanten als auch Touristen, die das Konzept der Obdachlosenzeitung bereits aus ihrer Heimat kennen. Über die Jahre hinweg hat Manfred H., der seinen Nachnamen lieber nicht in der Zeitung lesen möchte, aber auch viele Stammkunden gewonnen: Zwischen achtzig und neunzig Käufer besuchen ihn regelmäßig. „Eine Frau kommt sogar alle zwei Tage und kauft die gleiche Ausgabe der Zeitschrift“, berichtet er.
„Bis auf Mittwoch bin ich jeden Tag unter der Woche da, egal bei welchem Wetter.“
Manfred H. verkauft die Obdachlosenzeitung
Von dem Kaufpreis von 1,50 Euro geht die eine Hälfte an den Verkäufer, während die andere die Kosten für Redaktion, Vertrieb und Druck deckt und nebenbei soziale Projekte unterstützt. 45 Jahre war Manfred H. im Stahlbau tätig war. Eine „ehrliche Arbeit“ zu haben, ist ihm wichtig: „Man muss dahinter stehen“ und der Inhalt des Blattes müsse überzeugen.
Aller Anfang ist schwer
Im Jahr 2004 verlor der Alleinstehende bei einem Arbeitsunfall ein Bein. Als er ein Jahr später in Rente ging, ließ er sich davon nicht unterkriegen: „Ich brauche Abwechslung, sonst würde ich den ganzen Tag nur vor der Glotze hängen, und so tue ich etwas Gutes.“ Ein bereits verstorbener Freund nahm ihn damals zum ersten Mal mit nach Würzburg und zeigte ihm, wie er die „Strassen Gazette“ verkaufte.
„Am ersten Tag habe ich nur drei Zeitungen verkauft“, erinnert sich der Rentner, doch aller Anfang ist schwer und schnell stiegen seine Verkaufszahlen. Seit diesem Tag preist er die stadtbekannte „Obdachlosenzeitung“ auf seine Krücken gestützt vor dem Kaufhof an und auch heute noch ist er dessen nicht müde: „Solang dass ma's Spaß macht, mach ich das!“ Inzwischen sitzt er jedoch auf einem kleinen Hocker. Sein hohes Alter und ein hartes Arbeitsleben fordern ihren Tribut: Das bisher gesunde Bein macht ihm nun auch zu schaffen.
„Hilfe zur Selbsthilfe“
Nach dem Vorbild einiger Vorläufer aus den 90er Jahren, wurde die „Strassen Gazette“ selbst im März 2002 gegründet. Verkauft wird sie derzeit in neun Städten, zu denen neben Würzburg auch größere wie Frankfurt, Mannheim oder Mainz zählen. Der Hauptsitz der Redaktion befindet sich in Erlangen, während in Hessen die fertige Ausgabe gedruckt wird.
Gabriele Lermann, Leiterin des „Strassen Gazette e.V.“, organisiert, schreibt Artikel und kümmert sich um die Verkäufer und Verkäuferinnen. Sie beschreibt den Verein als „Hilfe zur Selbsthilfe“. Das unabhängige, soziale Selbsthilfeprojekt agiert überregional, wobei besonderer Wert darauf gelegt wird, dass sozial Schwächere durch den Verkauf den Kontakt zur Gesellschaft wahren.
Die Themen der Zeitschrift sind sehr vielfältig: Neben Kultur und Politik behandelt sie vor allem Soziales und philosophische Fragen. Für Manfred H. geht es nicht vorrangig darum, seine geringe Rente aufzubessern. Für ihn ist seine „Obdachlosenzeitung“ längst zur Leidenschaft geworden.