
Nachdem Maria Brik 2018 im Alter von 92 Jahren gestorben war, fand ihre Tochter Halina St James über 60 Briefe. Geschrieben auf Russisch und Polnisch, von Briks Eltern und ihren Freundinnen. Die Dokumente erzählen vom Leben der jungen Maria Brik, einer Zwangsarbeiterin im Deutschen Reich. "Diese Briefe brachten mich nach Würzburg", erzählt St James, ihre Stimme bricht leicht. "Ich möchte herausfinden, wer meine Mutter war. Und wer ich bin."
Am 24. Februar 1943 umzingelten SS-Männer die technische Schule im ukrainischen Winnyzja. Sie sammelten alle ein, die Lehrkräfte, Schülerinnen und Schüler. Unter ihnen die 17-jährige Brik mit ihren zwei besten Freundinnen. Sie wurden für eine Nacht in einem mit Stacheldraht umzäunten Lager untergebracht, Briks Eltern Aniela und Sergei konnten ihrer Tochter durch den Zaun noch ein Paket mit Lebensmitteln geben – danach ging es für Brik in einem Viehtransporter nach Deutschland. Ihre Eltern, ihre Familie, ihre Heimat sollte sie nie wieder sehen.
Drei Stunden Freizeit in zwei Wochen
Während des Zweiten Weltkriegs beschäftigten die Nazis etwa 13,5 Millionen ausländische Arbeitskräfte und Häftlinge in Konzentrationslagern. Der überwiegende Großteil von ihnen wird zur Gruppe der Zwangs- und Sklavenarbeiter gerechnet, zu der auch Maria Brik gehörte. Sie war eine der rund 2,75 Millionen Ostarbeiter, die in zahlreichen deutschen Firmen und Haushalten zur Arbeit gezwungen wurden, erkennbar am aufgenähten blauen Rechteck mit der weißen Aufschrift "OST". Sie arbeiteten meist zwölf Stunden am Tag, sechs bis sieben Tage die Woche. Sie bekamen kaum Geld, hatten nur wenig zu essen, durften den Öffentlichen Nahverkehr nicht nutzen.

Briks erste Station in Deutschland war Würzburg. Am 10. März 1943 begann sie ihren ersten Job als Dienstmädchen und Haushälterin bei einem Arzt in der Schillerstraße 8, jeden zweiten Sonntag hatte sie drei Stunden Freizeit. Wenn der Arzt und seine Frau außer Haus waren, hatte sie sich vor lauter Hunger heimlich eine Scheibe Brot abgeschnitten. "Danach hat sie das Brot auf dem Balkon in die Sonne gehalten, damit es wieder antrocknet", schildert St James.
Nach ein paar Monaten wurde Brik in die Seifenfabrik Robert Unkel verlegt. Im Dezember 1943 ging es nach Schweinfurt in die Kugellaberfabrik. Wenn sie nicht arbeitete, wurde sie mit den anderen Arbeiterinnen in einem engen Schlafsaal eingesperrt, gebettet auf Stroh mit einer dünnen Decke. Sie brauchte die Erlaubnis der Aufpasser, um auf Toilette zu gehen. Einmal wurde Brik für 30 Stunden in Einzelhaft gesteckt, weil sie für eine Kollegin ein paar Wörter auf Deutsch übersetzt hatte.
Familie wandert 1951 nach Kanada aus
Kurz nach dem Krieg kam Brik in ein "Displaced Persons" Camp in Weiden. Dort lernte sie Stanislav Zebrowski kennen, den sie im November 1946 heiratete. Ein paar Monate später kam die kleine Halina zur Welt und nach einer weiteren Verlegung nach Bad Reichenhall schaffte es die Familie - sechs Jahre nach dem Krieg - nach Kanada auszuwandern. Dort trennte sich die 26-jährige Brik vom oft alkoholisierten und gewalttätigen Zebrowski.
Den Rest ihres Lebens verbrachte Maria Brik mit Frank Uzarowski, den sie ebenfalls in Weiden kennengelernt hatte. In ihre Heimat, die Ukraine, ist sie nie wieder gefahren – aus Angst vor den Sowjets. So habe sie ihre Großeltern nicht kennengelernt, erklärte Halina St James. Ob sie noch Verwandtschaft in der Ukraine hat, weiß sie nicht.
St James hat alles, was sie über ihre Mutter weiß, in einem Film zusammengefügt. Gemeinsam mit ihrem Mann Neil Everton ist sie aus Kanada nach Deutschland gereist und besucht die Orte, an denen Brik gelebt und gearbeitet hat. Die Ehrenamtlichen des Arbeitskreises Würzburger Stolpersteine unterstützen sie dabei.