
Der Journalist und Designer Andreas Croonenbroeck ist Autist. Zusammen mit seinem nicht-autistischen Kollegen, dem Autoren und Fotografen Claus Dick aus Bamberg, hat der Tübinger ein Buch geschrieben, das mit Autismus-Mythen aufräumt. Das Buch gibt private Gespräche wider, die Croonenbroeck und Dick im Lauf der Zeit miteinander geführt haben. Die beiden haben sich vor über 20 Jahren bei der gemeinsamen Arbeit für ein großes Verlags- und Medienhaus kennengelernt und sind seitdem beruflich und freundschaftlich eng miteinander verbunden. Ihr Buch ist ein lebendiger Dialog über Vorurteile, Denkweisen und darüber, dass Klassenarbeiten für manche Kinder das Schönste an der Schule sind.
Andreas Croonenbroeck: Autismus ist keine Krankheit. Es ist eine neurologisch und genetisch bedingte Entwicklungsstörung. Sie ist fest mit einem verbunden und kann nicht aberzogen werden. Per se verursacht Autismus kein Leid. Aber dadurch, dass wir Autisten Informationen und Wahrnehmungen anders verarbeiten, dass wir oft anders agieren und kommunizieren als Nicht-Autisten, kann es zwischenmenschliche Probleme geben. Die Symptome variieren von Mensch zu Mensch stark, deshalb wird Autismus auch als Spektrum-Störung bezeichnet.

Croonenbroeck: Menschen sehen in uns entweder den Verrückten oder den Superhelden mit Inselbegabungen. Beides sind Klischees. Am schlimmsten finde ich das Vorurteil, wir hätten keine Gefühle, seien kaltherzig und verstünden Empathie nicht.
Claus Dick: Ich kann bestätigen, dass das keineswegs stimmt.
Croonenbroeck: Das Gehirn eines Autisten filtert äußere Reize kaum oder schlecht heraus. Anders als beim Nicht-Autisten, dessen Gehirn Irrelevantes gleich löscht, wird der Autist mit unzähligen Reizen überflutet. Das verursacht Stress, manchmal auch Angst oder Schmerz. Deshalb reagieren wir oft extrem auf Krach, Licht, Berührungen oder Gerüche. Noch sind weder die Ursachen für Autismus vollständig klar, noch die genauen Vorgänge im Gehirn.
Croonenbroeck: Schule ist für die meisten autistischen Kinder ein fürchterlicher Ort: laut, verwirrend, durcheinander. Obendrein war ich motorisch total ungeschickt, eine Niete im Sport. Ich war der Depp, der Außenseiter, schließlich das Mobbingopfer. Nur während der Klassenarbeiten war es ganz ruhig, nur da ließen einen alle in Ruhe.
Croonenbroeck: Niemand wusste, was mit mir los ist. Die Diagnose Autismus habe ich erst mit 37 Jahren bekommen. Meine Eltern wollten immer, dass ich mich durchbeiße, dass ich werde, wie die anderen. Auch heute heißt es noch oft, Autismus müsse "geheilt" werden, dabei ist das nicht möglich. Vermeintlich bockige Kinder sind oft einfach verzweifelt. Irgendetwas fühlt sich vielleicht komisch auf der Haut an oder der Lärm ist zu groß, eine Anweisung unverständlich.
Croonenbroeck: Genau das. Dafür sorgt die sogenannte Reizfilter-Schwäche, die bei den meisten Autisten vorliegt. Im Lauf des Lebens lernt man natürlich seine Grenzen kennen, aber auch mir passiert es heute noch manchmal, dass ein Tropfen zu viel – ein lautes Flugzeug, ein unerwartetes Klingeln an der Tür – das Fass zum Überlaufen bringt und ich einen Overload erlebe. Dann schaltet mein Gehirn komplett auf Durchzug. Zwei, drei Stunden geht gar nichts mehr. Andererseits kann ich mich aber auch total in eine Aufgabe reinfuchsen und extrem fokussiert sein.
Dick: Das stimmt. Andreas ist sehr klug, konstruktiv, lösungsorientiert und hat eine unheimlich schnelle Auffassungsgabe. Wenn er sich für etwas interessiert, eignet er sich alles darüber an und wird zum Experten. Andreas hat ein unglaubliches Musikwissen.
Croonenbroeck: (lacht) Fang Du an, Claus!
Dick: Andreas sticht mit uneingeschränkter Aufrichtigkeit aus der Masse heraus. Ich vertraue ihm komplett. Ich weiß natürlich, dass es bei ihm eine Belastungsgrenze gibt, jenseits derer es ans Eingemachte geht. Ich würde nichts an ihm ändern wollen, ihm höchstens mehr Ruhe im Alltag gönnen.
Croonenbroeck: Claus ist herzensgut, sympathisch, verlässlich, ehrlich, offen, kreativ – und er nimmt mich so, wie ich bin. Wenn wir Projekte zusammen machen, ergänzen wir uns gut.

Croonenbroeck: Wenn man sich angenommen fühlt, ist das Thema Autismus nicht mehr relevant. Sobald ich an einem Safe Space bin, ist alles okay.
Croonenbroeck: In manchen Situationen, etwa auf dem Arbeitsmarkt, brauchen Autisten Unterstützung, da ergibt die Definition "Behinderung" Sinn. Ansonsten ist es aber wie ein Stigma: "Du Autist" wird als Schimpfwort gebraucht. Autisten werden als behindert, manchmal als halbe Kriminelle hingestellt. Generell leiden Autisten unter Misstrauen und Skepsis, die ihnen oft entgegengebracht werden.
Croonenbroeck: Manche Medien, aber auch Politiker und sogar Mediziner verwenden das Wort "autistisch" fachfremd – ob absichtlich oder nicht. Das schürt Ängste und eine Abwehrhaltung uns gegenüber.
Croonenbroeck: Verhaltens-, Sprach- und Ergotherapie können helfen, kommunikative, soziale und sensorische Herausforderungen zu meistern und die Lebensqualität zu verbessern. Für erwachsene Autisten gibt es allerdings kaum Anlaufstellen. Selbst in der Psychologie-Ausbildung wird Autismus noch sehr stiefmütterlich behandelt. Viele Autisten wollen nicht auffallen und wenden deshalb enorm viel Kraft auf, um autistische Verhaltensweisen zu unterdrücken. Das aber macht auf Dauer psychische Wracks aus ihnen.
Dick: Es ist keine gute Idee zu verlangen, dass Autisten sich in allem der Norm anpassen. Auf beiden Seiten muss das Verständnis füreinander wachsen. Was ist so schlimm daran, wenn jemand mit dem Stuhl wippt oder mit der Zunge schnalzt, wenn ihm das hilft, Stress abzubauen?
Croonenbroeck: Nein, denn dann wäre ich ein komplett anderer Mensch. Mit dem Autismus hängt auch Positives zusammen. Und jeder Nicht-Autist hat ja auch Schwieriges zu meistern. Meine innere Überzeugung ist: Jeder ist okay so, wie er ist.
"Die Natur" hat eine breite Diversität an Merkmalen eingerichtet, was für die Weitergabe des Lebens durchaus Sinn macht - je nach äußeren Umständen können unterschiedliche Fähigkeiten gefordert sein, was den Individuen, die darüber verfügen, somit Vorteile verschafft.
Ich möchte daher gerne weg vom Begriff der "Entwicklungsstörung" hin zu einer "Ausprägung".
Ausprägungen, die sich als von Nachteil erweisen, werden dann ("natürlich") seltener weitergegeben als solche, die sich als von Vorteil erweisen. Es sei daher die Frage gestellt, ob wirklich alles, was vom "Normal-Üblichen" abweicht, (gleich) als "Störung" (ab)qualifiziert werden muss - und die betroffene Person in der Regel somit als "gestört".
Eine andere Frage, die ich keinesfalls ausklammern möchte, ist wiederum, ab welchem Punkt eine Ausprägung zu einer Krankheit wird.