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Bamberg
"Dann schaltet mein Gehirn komplett auf Durchzug": Warum Autisten ein Overload droht, wenn es chaotisch zugeht
Autisten verstehen Ironie oft nicht, sind gerne allein und haben Spezialinteressen – stimmt das wirklich? Ein Interview über Vorurteile und Vorgänge im Gehirn.
Für  viele Autisten ist das Leben ein ständiges Ankämpfen gegen Reizüberflutung.
Foto: Claus Dick | Für viele Autisten ist das Leben ein ständiges Ankämpfen gegen Reizüberflutung.
Diana Fuchs
 |  aktualisiert: 12.07.2024 02:42 Uhr

Der Journalist und Designer Andreas Croonenbroeck ist Autist. Zusammen mit seinem nicht-autistischen Kollegen, dem Autoren und Fotografen Claus Dick aus Bamberg, hat der Tübinger ein Buch geschrieben, das mit Autismus-Mythen aufräumt. Das Buch gibt private Gespräche wider, die Croonenbroeck und Dick im Lauf der Zeit miteinander geführt haben. Die beiden haben sich vor über 20 Jahren bei der gemeinsamen Arbeit für ein großes Verlags- und Medienhaus kennengelernt und sind seitdem beruflich und freundschaftlich eng miteinander verbunden. Ihr Buch ist ein lebendiger Dialog über Vorurteile, Denkweisen und darüber, dass Klassenarbeiten für manche Kinder das Schönste an der Schule sind.

Frage: Was genau ist Autismus?

Andreas Croonenbroeck: Autismus ist keine Krankheit. Es ist eine neurologisch und genetisch bedingte Entwicklungsstörung. Sie ist fest mit einem verbunden und kann nicht aberzogen werden. Per se verursacht Autismus kein Leid. Aber dadurch, dass wir Autisten Informationen und Wahrnehmungen anders verarbeiten, dass wir oft anders agieren und kommunizieren als Nicht-Autisten, kann es zwischenmenschliche Probleme geben. Die Symptome variieren von Mensch zu Mensch stark, deshalb wird Autismus auch als Spektrum-Störung bezeichnet.

Claus Dick (links) und Andreas Croonenbroeck, Autoren des Buchs "Dialog. Gespräche über Autismus", finden, dass Autisten und Nicht-Autisten einander im Arbeitsleben perfekt ergänzen können.
Foto: Claus Dick | Claus Dick (links) und Andreas Croonenbroeck, Autoren des Buchs "Dialog. Gespräche über Autismus", finden, dass Autisten und Nicht-Autisten einander im Arbeitsleben perfekt ergänzen können.
Was ist das schlimmste Vorurteil gegenüber Autisten?

Croonenbroeck: Menschen sehen in uns entweder den Verrückten oder den Superhelden mit Inselbegabungen. Beides sind Klischees. Am schlimmsten finde ich das Vorurteil, wir hätten keine Gefühle, seien kaltherzig und verstünden Empathie nicht.

Claus Dick: Ich kann bestätigen, dass das keineswegs stimmt.

Was genau funktioniert im Gehirn eines Autisten anders als bei Nicht-Autisten?

Croonenbroeck: Das Gehirn eines Autisten filtert äußere Reize kaum oder schlecht heraus. Anders als beim Nicht-Autisten, dessen Gehirn Irrelevantes gleich löscht, wird der Autist mit unzähligen Reizen überflutet. Das verursacht Stress, manchmal auch Angst oder Schmerz. Deshalb reagieren wir oft extrem auf Krach, Licht, Berührungen oder Gerüche. Noch sind weder die Ursachen für Autismus vollständig klar, noch die genauen Vorgänge im Gehirn.

Herr Croonenbroeck, in der Schule haben Sie sich, so heißt es in Ihrem Buch, am meisten auf die Klassenarbeiten gefreut. Weshalb denn das?

Croonenbroeck: Schule ist für die meisten autistischen Kinder ein fürchterlicher Ort: laut, verwirrend, durcheinander. Obendrein war ich motorisch total ungeschickt, eine Niete im Sport. Ich war der Depp, der Außenseiter, schließlich das Mobbingopfer. Nur während der Klassenarbeiten war es ganz ruhig, nur da ließen einen alle in Ruhe.

Warum schritten Ihre Eltern nicht ein?

Croonenbroeck: Niemand wusste, was mit mir los ist. Die Diagnose Autismus habe ich erst mit 37 Jahren bekommen. Meine Eltern wollten immer, dass ich mich durchbeiße, dass ich werde, wie die anderen. Auch heute heißt es noch oft, Autismus müsse "geheilt" werden, dabei ist das nicht möglich. Vermeintlich bockige Kinder sind oft einfach verzweifelt. Irgendetwas fühlt sich vielleicht komisch auf der Haut an oder der Lärm ist zu groß, eine Anweisung unverständlich.

"Bei einem Overload schaltet mein Gehirn komplett auf Durchzug. Zwei, drei Stunden geht gar nichts mehr."
Andreas Croonenbroeck, Autist und Autor
Heißt das, für Autisten sind vermeintliche Belanglosigkeiten ein großes Problem?

Croonenbroeck: Genau das. Dafür sorgt die sogenannte Reizfilter-Schwäche, die bei den meisten Autisten vorliegt. Im Lauf des Lebens lernt man natürlich seine Grenzen kennen, aber auch mir passiert es heute noch manchmal, dass ein Tropfen zu viel – ein lautes Flugzeug, ein unerwartetes Klingeln an der Tür – das Fass zum Überlaufen bringt und ich einen Overload erlebe. Dann schaltet mein Gehirn komplett auf Durchzug. Zwei, drei Stunden geht gar nichts mehr. Andererseits kann ich mich aber auch total in eine Aufgabe reinfuchsen und extrem fokussiert sein.

Dick: Das stimmt. Andreas ist sehr klug, konstruktiv, lösungsorientiert und hat eine unheimlich schnelle Auffassungsgabe. Wenn er sich für etwas interessiert, eignet er sich alles darüber an und wird zum Experten. Andreas hat ein unglaubliches Musikwissen.

Sie arbeiten seit langem zusammen, kennen einander gut. Was schätzen Sie am jeweils anderen? Und was würden Sie gerne an ihm ändern?

Croonenbroeck: (lacht) Fang Du an, Claus!

Dick: Andreas sticht mit uneingeschränkter Aufrichtigkeit aus der Masse heraus. Ich vertraue ihm komplett. Ich weiß natürlich, dass es bei ihm eine Belastungsgrenze gibt, jenseits derer es ans Eingemachte geht. Ich würde nichts an ihm ändern wollen, ihm höchstens mehr Ruhe im Alltag gönnen.

Croonenbroeck: Claus ist herzensgut, sympathisch, verlässlich, ehrlich, offen, kreativ – und er nimmt mich so, wie ich bin. Wenn wir Projekte zusammen machen, ergänzen wir uns gut.

Autistische Menschen wenden häufig enorm viel Kraft auf, um ihre autistischen Verhaltensweisen zu unterdrücken, damit sie nicht auffallen.
Foto: Claus Dick | Autistische Menschen wenden häufig enorm viel Kraft auf, um ihre autistischen Verhaltensweisen zu unterdrücken, damit sie nicht auffallen.
Klingt, als könnte Integration grundsätzlich ganz einfach sein?

Croonenbroeck: Wenn man sich angenommen fühlt, ist das Thema Autismus nicht mehr relevant. Sobald ich an einem Safe Space bin, ist alles okay.

Laut Sozialgesetzbuch gilt Autismus als Behinderung. Wie empfinden Sie das?

Croonenbroeck: In manchen Situationen, etwa auf dem Arbeitsmarkt, brauchen Autisten Unterstützung, da ergibt die Definition "Behinderung" Sinn. Ansonsten ist es aber wie ein Stigma: "Du Autist" wird als Schimpfwort gebraucht. Autisten werden als behindert, manchmal als halbe Kriminelle hingestellt. Generell leiden Autisten unter Misstrauen und Skepsis, die ihnen oft entgegengebracht werden.

Woher kommt dieses Misstrauen?

Croonenbroeck: Manche Medien, aber auch Politiker und sogar Mediziner verwenden das Wort "autistisch" fachfremd – ob absichtlich oder nicht. Das schürt Ängste und eine Abwehrhaltung uns gegenüber.

Gibt es Möglichkeiten, die Autismus-Symptome zu lindern?

Croonenbroeck: Verhaltens-, Sprach- und Ergotherapie können helfen, kommunikative, soziale und sensorische Herausforderungen zu meistern und die Lebensqualität zu verbessern. Für erwachsene Autisten gibt es allerdings kaum Anlaufstellen. Selbst in der Psychologie-Ausbildung wird Autismus noch sehr stiefmütterlich behandelt. Viele Autisten wollen nicht auffallen und wenden deshalb enorm viel Kraft auf, um autistische Verhaltensweisen zu unterdrücken. Das aber macht auf Dauer psychische Wracks aus ihnen.

Was heißt das für uns als Gesellschaft?

Dick: Es ist keine gute Idee zu verlangen, dass Autisten sich in allem der Norm anpassen. Auf beiden Seiten muss das Verständnis füreinander wachsen. Was ist so schlimm daran, wenn jemand mit dem Stuhl wippt oder mit der Zunge schnalzt, wenn ihm das hilft, Stress abzubauen?

Wenn Sie einen Wunsch frei hätten, wäre es dann der, nicht-autistisch zu sein, Herr Croonenbroeck?

Croonenbroeck: Nein, denn dann wäre ich ein komplett anderer Mensch. Mit dem Autismus hängt auch Positives zusammen. Und jeder Nicht-Autist hat ja auch Schwieriges zu meistern. Meine innere Überzeugung ist: Jeder ist okay so, wie er ist.

Das Buch "Dialog. Gespräche über Autismus" und die Autoren

Die Autoren Andreas Croonenbroeck und Claus Dick haben zusammen das Buch "Dialog. Gespräche über Autismus" (ISBN 978-3-7597-0260-9) geschrieben.
Andreas Croonenbroeck wurde 1976 in Bergisch Gladbach geboren. Nach der Schule machte er eine Ausbildung zum Mediengestalter und anschließend in einem Stuttgarter Zeitschriftenverlag eine Ausbildung zum Grafikdesigner und Redakteur. Seit 2006 arbeitet er selbstständig in den Bereichen Design und Journalismus. Nach seiner Autismus-Diagnose im Jahr 2014 sind Aufklärung und Öffentlichkeitsarbeit zum Thema Autismus ein wichtiger Schwerpunkt seiner beruflichen Tätigkeit. 2017 gründete er das erste deutschlandweite, unabhängige Fachmagazin zum Thema Autismus. Seit 2024 ist er Chefredakteur des "autismus magazin".
Claus Dick kam 1961 in Bamberg zur Welt. Nach einer Lehre zum Bankkaufmann kam er über die Liebe zur Musik in einen Stuttgarter Zeitschriftenverlag, wo er sich zum Redakteur ausbilden ließ. Seit dem Jahr 2000 ist er als freier Redakteur und Fotograf unterwegs, unter anderem für den "Stern". Seit 2019 begleitet er Andreas Croonenbroeck zu Interviews und Reportagen rund um das Thema Autismus.
Etwa ein Prozent der Bevölkerung hat eine Autismus-Spektrum-Störung. Die Zahl der diagnostizierten Fälle steigt seit Jahren. Grund sind verbesserte Diagnose-Möglichkeiten.
Quelle: ldk
 
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  • Hans-Martin Hoffmann
    Anmerkung

    "Die Natur" hat eine breite Diversität an Merkmalen eingerichtet, was für die Weitergabe des Lebens durchaus Sinn macht - je nach äußeren Umständen können unterschiedliche Fähigkeiten gefordert sein, was den Individuen, die darüber verfügen, somit Vorteile verschafft.

    Ich möchte daher gerne weg vom Begriff der "Entwicklungsstörung" hin zu einer "Ausprägung".

    Ausprägungen, die sich als von Nachteil erweisen, werden dann ("natürlich") seltener weitergegeben als solche, die sich als von Vorteil erweisen. Es sei daher die Frage gestellt, ob wirklich alles, was vom "Normal-Üblichen" abweicht, (gleich) als "Störung" (ab)qualifiziert werden muss - und die betroffene Person in der Regel somit als "gestört".

    Eine andere Frage, die ich keinesfalls ausklammern möchte, ist wiederum, ab welchem Punkt eine Ausprägung zu einer Krankheit wird.
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  • Frank Stößel
    Dem Dank von Frau Nöther schließe ich mich an. Gibt es keine Selbsthilfegruppen von und für erwachsene Menschen mit Autismus? Die Freundschaft zwischen einem Menschen mit und einem Menschen ohne Autismus hilft offensichtlich auch dann gut, wenn beide sich beruflich bzw. in ihren Interessen ergänzen, sich deshalb schätzen und geschätzt werden. Das ist mehr als nur eine Patenschaft am Arbeitsplatz und im besten Sinne gelebter humanitärer Humanismus, der auf andere ausstrahlt. Herzlichen Glückwunsch und weiterhin gute Zusammenarbeit!
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  • Jutta Nöther
    Danke für diesen Artikel.
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