Im März geriet das Würzburger St. Nikolausheim bundesweit in die Schlagzeilen und stand stellvertretend für die Dramatik der Corona-Krise: 74 der rund 160 Bewohner und 38 Mitarbeiter hatten sich mit dem Virus infiziert, 25 Bewohner starben. Seit Ende April ist die Einrichtung coronafrei. Der Alltag ist zwar noch nicht wieder normal, die Isolation aber wurde aufgehoben, die aktuell 116 Bewohner sind zurück in ihren Zimmern. Dr. Michael Schwab, Chefarzt der Geriatrischen Reha-Klinik im Bürgerspital, dem Träger von St. Nikolaus, wurde angesichts der Krise zum Heimarzt bestellt. Jetzt zieht der 61-jährige Altersmediziner eine - erstaunlich positive - Zwischenbilanz.
Herr Dr. Schwab, zuerst eine persönliche Frage: Ist diese Krise als Arzt Ihre bisher größte Herausforderung?
Dr. Michael Schwab: Ja. Wir waren die Ersten in Deutschland, die mit der Pandemie in einem Pflegeheim konfrontiert waren. Ich war sechs Wochen lang jeden Tag im Haus. Da gab es Momente, die hängen bleiben.
Welche waren besonders emotional?
Schwab: Schockiert hat mich das Verhalten einiger Medienvertreter, bei denen ich den Eindruck hatte, als lauerten sie mit ihren Kameras auf spektakuläre, dramatische Bilder. Die meisten anderen Erfahrungen waren positiv. Beeindruckt hat mich, dass die Pflegekräfte trotz aller Widrigkeiten ihre Pflicht getan haben. Berührt hat mich die Sorge der Bewohner vor den Testergebnissen, ihre Angst, ob sie Infektionen überstehen und ihr Bedürfnis nach Sicherheit. Aber auch ihre bemerkenswerte Fähigkeit, so eine Krise zu überstehen.
Können Sie das genauer erklären?
Schwab: Es gibt zwei Phänomene in Krisen. Das eine ist das Erwartbare: Alles wird schlimmer. Das andere nennen wir posttraumatisches Wachstum: Selbst Menschen mit Demenz können sich, sofern sie gut aufgefangen und betreut werden, auf eine Notfallsituation fokussieren und sich am früheren Umgang mit bewältigten Problemen orientieren. Einige unserer Bewohner haben gesagt: "Ich hab schon so viel Schlimmes durchgemacht, den Krieg überstanden." Dieses Resilienz in der Akutphase der ersten vier bis sechs Wochen hat selbst mich überrascht.
Inzwischen leben die Heimbewohner seit rund drei Monaten mehr oder weniger sozial isoliert. Mangelnde Bewegung, fehlende Frischluft, kaum Kontakte, wenige Berührungen und nur von vermummtem Personal in Schutzkleidung - wie hat sich das auf ihre körperliche und seelische Gesundheit ausgewirkt?
Schwab: In der heißen Phase haben die Bewohner einen festen Ansprechpartner unter den Mitarbeitern behalten, der ihnen vertraut war. Auch das Angebot von Videotelefonaten mit Angehörigen hat geholfen. Keine Frage, dass in so einer Situation etwas fehlt, aber Medizin im Alter ist immer auch kompensatorisch und soziale Interaktion ist auf verschiedene Weise möglich. Dazu gehören nicht nur Berührungen, sondern auch Blicke, eine vertraute Stimme. Wie unmittelbar man einen Kontakt mit Menschen herstellen kann und wie sehr das auf Reflex trifft - auch das hat mich beeindruckt, obwohl ich viel Erfahrung in der Geriatrie habe. Wenn ich den Bewohnern nach einem Abstrich einen schönen Tag wünschte und bei manchem dachte, er nimmt das in seinem Bett gar nicht mehr wahr, kam plötzlich als Antwort: "Wünsche ich Ihnen auch."
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Die Überlastung der Pflegekräfte, der Wegfall von gemeinsamen Mahlzeiten und Gruppenbeschäftigungen, das Besuchsverbot - all das dürfte die Einsamkeit der Bewohner dennoch gefördert haben. Und damit auch Depressionen befördert. Sie sind bei älteren Menschen schon in normalen Zeiten ein Problem. In Seniorenheimen betreffen Depressionen Studien zufolge 25 bis 30 Prozent der Bewohner.
Schwab: Hätte der Prozess länger angehalten, hätte er sicher zu einer Art Erschöpfung geführt. Es war natürlich bitter notwendig, dass nach sechs Wochen Licht am Ende des Tunnels sichtbar war. Der erste und größte Wunsch der Bewohner war, in den Garten zu gehen. Es war ein wunderbares Bild, als es dort auch kleine Konzerte gab und die Bewohner an den Fenstern und auf den Balkonen standen und erstmals wieder eine Art der Gemeinsamkeit erleben durften.
Und der Wunsch nach Wiedersehen mit den Familien?
Schwab: Der wuchs natürlich auch. Vor dem Muttertag, in Bayern der erste Tag der Öffnung für Besucher, hatten wir etwas gezittert. Es ist ja ein emotional aufgeladener Tag, und wir hatten befürchtet, dass es Probleme auslöst, wenn der Besuch wieder geht. Es gab dann auch die eine oder andere Träne, aber auch da haben wir Erstaunliches erlebt. Da sieht ein Sohn seine Mutter nach längerer Zeit mal wieder, und was sagt die Mutter zu den Schwestern? "Ich glaube, mein Sohn isst nicht genug." Sie hat sich mehr um den Sohn gesorgt als um sich.
Was Sie aus dem St. Nikolausheim schildern, klingt viel weniger dramatisch als die Befürchtungen anderer Experten und die Berichte mancher Angehöriger aus Pflegeheimen.
Schwab: Wie gesagt, ich war selbst überrascht, wie psychisch stabil unsere Bewohner mit dem Thema umgegangen sind.
Wie gut lassen sich psychische Erkrankungen bei älteren Menschen generell diagnostizieren, wenn sie mitunter zurückgezogen und mit teils veränderten kognitiven Fähigkeiten in Heimen leben?
Schwab: Das ist tatsächlich eine große Herausforderung. Die Störungen Demenz, Delir und Depression können ähnliche Erscheinungsbilder haben. Sie richtig einzuschätzen und zu therapieren, darin liegt eine große Verantwortung. Veränderungen der Bewohner im Alltag bedeuten immer Alarm.
Fürchten Sie gesundheitliche Langzeitschäden, die sich jetzt vielleicht noch nicht abzeichnen?
Schwab: Seit der Freigabe der Heime durch die Staatsregierung fördern wir die mobile geriatrische Rehabilitation sowie die Behandlung auf Rezept. Das heißt, wir wollen therapeutisch versuchen, verloren gegangene Funktionen der Bewohner möglichst wiederherzustellen.
Körperlich ist das mit Physiotherapie und Hilfsmitteln vermutlich etwas einfacher als bei psychischen Erkrankungen.
Schwab: Dieser Einwand ist berechtigt. Vor 20 Jahren haben die Ärzte gesagt: Psychotherapie in hohem Alter ist nicht mehr wirksam. Heute weiß man, dass sie funktioniert. Auch medikamentöse Therapie ist recht gut möglich. Aber auf diesem Gebiet gibt es sicher Verbesserungsbedarf.
Wie kann die Gratwanderung gelingen, die Gesundheit von Menschen in Seniorenheimen zu schützen und gleichzeitig ihren Wunsch nach Autonomie zu respektieren? Nicht jeder möchte ja seine letzte Lebensphase in Isolation verbringen.
Schwab: Nach so einem Schreckschuss, wie wir ihn erlebt haben, gilt erst mal ein Notstand, das ist ja klar. Die Maßnahmen waren notwendig, berechtigt und haben geholfen. Wir sind immer noch nicht über den Berg, sondern in einer Übergangsphase mit nach wie vor erheblichem Risiko. Daher müssen wir Sicherheit gewähren, das ist ein hohes Gut. Aber, völlig richtig, am Ende ist der Wunsch des Bewohners maßgebend, und Ärzte und Pflegekräfte sind verpflichtet, diesen Wunsch zu verstehen, zu interpretieren und den tatsächlichen Willen des Patienten abzuleiten.
Wie meinen Sie das?
Schwab: Wenn der Patient sagt „Ich will nicht mehr“, dann ist das nicht Ausdruck eines Willens, sondern einer aktuellen Krise. Das muss man als Geriater unterscheiden können. Eine ethische Herausforderung, die man in der Begleitung alter Menschen immer hat. Mit dem Patientenwillen müssen wir uns künftig noch gewissenhafter beschäftigen. Trotz Patientenverfügungen, die wichtig sind, müssen wir lernen, den Wunsch des Einzelnen für bestimmte Situationen genauer festzuschreiben und diesen noch mehr respektieren.