Auf der Suche nach Recht und Gerechtigkeit muss man sich im Moment warm anziehen: Nicht, weil es dort jetzt kaltherziger zuginge als sonst. Aber was den Schülern im Klassenzimmer zumutbar ist, gilt nun auch für die Justiz: Zum Schutz vor der Infektion mit Corona reißt man in den Gerichtssälen zum Lüften die Fenster auf – trotz der kalten Temperaturen. 25 Minuten verhandeln, zehn Minuten lüften, 25 Minuten verhandeln: das ist der Rhythmus, der im Gericht jetzt gilt.
Zittern und Bibbern im Sitzungssaal
Weil die Zeit dazwischen kaum zum Warmwerden reicht, wird mehr gezittert als sonst im Gerichtssaal. Und so manche Zeugenaussage gerät stockend und zäh und wird durch die Lüftungspausen zerrissen, obwohl man gerne kurzen Prozess machen würde angesichts der Kälte. Richter tragen längst dicke Pullover unter der Robe, Schöffen sitzen im Ski-Anorak zu Gericht. Und so manche Protokollführerin trägt in diesen Wochen Winterstiefel statt Stilettos.
Und ein Jurist sieht sich schon mal – wenn er beim Lüften des Sitzungssaales selbst Hand anlegt –plötzlich Gefahren ausgesetzt, mit denen er bisher nicht rechnen musste: Die schweren Kippfenster aus Panzerglas sind so viel Bewegung nicht gewohnt. Jüngst glitt das schwere Oberlicht an einem Würzburger Gerichtssaal aus der Fassung und wäre einem Richter fast auf den Kopf gekracht, hätten die herbeieilenden Schöffen nicht Schlimmeres verhindert. "Dann hättet Ihr von kopfloser Justiz schreiben können", kommentierte den Vorfall ein Richterkollege mit Galgenhumor in Richtung Presse.
Haftbefehl am offenen Fenster
Vereinzelt wird improvisiert, wie man es von der Justiz kaum kennt: Da muss zur Not auch mal ein Verdächtiger draußen vor dem Gerichtsgebäude auf der Wiese stehen, während ihm der Untersuchungsrichter am offenen Fenster den Haftbefehl eröffnet -weil sein Zimmer unter Corona-Bedingungen zu klein ist für alle Beteiligten.
Lässt sich die Zahl der Teilnehmer an einem Prozess so reduzieren, dass dem Gesundheitsschutz Genüge getan wird, aber die Gerechtigkeit nicht leidet? Selbst im größten Gerichtssaal im Landgericht Würzburg ist das schwer geworden. Statt der üblichen gut 30 Sitzplätze im Zuschauerraum stehen dort nur noch zwölf Stühle - weit auseinandergezogen, um Abstand zu wahren. Um die wenigen Plätze kämpfen dann Familienangehörige von Angeklagten und Opfern mit den Pressevertretern. In einem halben Dutzend kleinerer Sitzungssäle ist der Platz noch viel knapper.
Landgerichtspräsident: "Hier wird weiter gearbeitet"
Man bemühe sich, trotz der Corona-Beschränkungen so gut wie möglich den Betrieb am Laufen zu halten, sagt Johannes Ebert, Präsident des Würzburger Landgerichts: "Hier wird weiter gearbeitet!" Das geht indes nicht ganz ohne Nebenwirkungen: Prozesse werden verschoben, weil Beteiligte in Quarantäne kommen. Verteidiger - nicht nur zu Risikogruppen zählend - kritisieren lange Verhandlungstage in voll besetzten Gerichtssälen. Auswärtige Anwälte haben zeitweise Probleme, ein Übernachtungsquartier zu finden.
Inzwischen sind die Infektionszahlen weiter gestiegen – und mit ihnen die Sorgen der Justiz. "Die Bürgerinnen und Bürger bitten wir, ihren Beitrag zu leisten und beispielsweise auf nicht notwendige Besuche bei Gerichten und Justizbehörden zu verzichten, da Kontakte so weit wie möglich zu reduzieren sind", heißt es aus dem Justizministerium in München. Gerade in den acht unterfränkischen Amtsgerichten wie in Kitzingen, Gemünden, Bad Kissingen oder Bad Neustadt ging es schon vor Corona teilweise reichlich eng zu. Trotzdem bemüht man sich, unter erschwerten Bedingungen einen geordneten Prozessverlauf mit dem nötigen Abstand zu ermöglichen.
Wo es geht, stehen Plexiglasscheiben zum Schutz vor Ansteckung zwischen den weit auseinander gezogenen Sitzplätzen – was vertrauliche Worte zwischen beratenden Richtern ebenso erschwert wie das gewohnte Flüstern zwischen Angeklagten und Verteidigern. Mahnend müssen Vorsitzende die Zuhörer daran erinnern, ihre Masken während des Prozesses aufzubehalten – so wie das Gericht selbst, die Staatsanwälte, Protokollführer und Wachtmeister auch. Nur die Angeklagten und Zeugen sollen ihr Gesicht zeigen: Weil ihr Mienenspiel zur Einschätzung wichtig ist, sagt zum Beispiel im noch andauernden Babymord-Prozess der Vorsitzende Claus Barthel.
Bevorzugt Prozesse mit Angeklagten in U-Haft
Nicht jeder Wunsch nach technischer Verbesserung (etwa für eine rein elektronische Aktenführung) war aus Sicherheitsgründen schnell in die Praxis umzusetzen. Aber die Corona-Pandemie beschert dem Justizapparat auch einen unerwarteten Modernisierungsschub: mit Konferenzschaltungen per Video, Homeoffice und Schichtbetrieb, um die Arbeitsfähigkeit auch dann zu erhalten, wenn sich ein Kollege anstecken sollte.
Wo es geht, werden Prozesse verschoben. Verhandelt werden im Strafprozess derzeit vor allem Verfahren, bei denen Angeklagte in Untersuchungshaft sitzen. Das Gesetz verlangt, dass sie dort nicht länger als nötig ohne rechtskräftige Verurteilung eingesperrt sein dürfen. Da habe es "keine Reduzierung gegeben", sagt Landgerichtspräsident Johannes Ebert. "Wir hatten keinen Fall, der verzögert zur Entlassung führte."
"Im Namen des Volkes" oder "Ihr müsst draußen bleiben"
Geurteilt wird weiter "im Namen des Volkes" – aber das eiserne Prinzip demokratischer Rechtsfindung wird durch Corona stark getroffen: Die Bürger - und auch stellvertretend für die Öffentlichkeit die Journalisten - sollen kontrollieren können, wie in ihrem Namen nach Gerechtigkeit gesucht wird. Aber wie sollen sie das, wenn es vor dem Sitzungssaal wegen Corona heißt: "Ihr müsst draußen bleiben!", wie kürzlich in Würzburg im Verfahren wegen des tödlichen Schusses auf einen Polizeischüler?
Die Situation spitzt sich weiter zu, wenn die Gesamtzahl der Personen selbst im größten Sitzungssaal auf 18 beschränkt werden soll. Ein Jurist rechnet vor: Das fünfköpfige Gericht, Ersatzschöffen, Staatsanwalt und Protokollführerin, drei Angeklagte mit Verteidigern und den Polizisten, die sie vom Gefängnis bringen – schon ist man an der Obergrenze. Und die Öffentlichkeit? Der Richter schüttelt den Kopf und fragt: "Schlimmer noch: Wie soll ich denn jetzt die Zeugen hereinbitten?"
Panne am Justizzentrum mit der Abluft
Seine Kollegen stehen vor vielen ungelösten Fragen: Kann man unter Corona-Bedingungen Menschen zumuten, in Räumen zu arbeiten, in denen sich Fenster gar nicht öffnen lassen? Ist es angesichts winterlicher Temperaturen den Beteiligten zuzumuten, frierend in Winterjacken zu Gericht zu sitzen? "Eigentlich müssten wir den Laden dicht machen. Aber dann bräuchten wir Jahre, um das wieder aufzuholen", sagt zerknirscht ein Vorsitzender.
In Würzburg, wo die Strafjustiz seit 2004 ein neues Haus hat, glaubte man sich bis vor kurzem noch besser ausgerüstet als in vielen alten Gebäuden der Region: Eine Klimaanlage sollte verbrauchte Luft aus den Sitzungssälen saugen. Doch dann stellten Spezialisten fest: Die verbrauchte Luft wird auch ins Foyer des Gerichtsgebäudes geblasen, in dem Angeklagte, Anwälte und Zeugen auf ihren Auftritt warten. Die Anlage musste abgeschaltet werden.
Unterbrechungen auf Kosten der Effektivität
Stattdessen wird nun durch die offenen Fenster gelüftet und gebibbert, aber die ständig nötigen Unterbrechungen gehen auf Kosten der Effektivität bei der Wahrheitsfindung. "Vor jedem Sitzungstag stellt sich mir die bange Frage: Sind meine Prozessbeteiligten alle gesund – oder droht mein Prozess zu platzen, weil sich jemand infiziert hat und wir in Quarantäne müssen?", schildert ein Richter seinen derzeitigen Alltag. "Und wenn mich ein Zeuge – nur Stunden, bevor er im Zeugenstand aussagen soll – anruft und von Erkältungssymptomen berichtet, weiß ich nicht: Stimmt das oder versucht sich da jemand zu drücken?"
Der bayerische Justizminister Georg Eisenreich (CSU) hat die Staatsanwaltschaften bereits gebeten, in geeigneten Verfahren anstelle einer Anklage einen Strafbefehl zu beantragen. Dadurch könnten „unter bestimmten Umständen Hauptverhandlungen vermieden werden“, heißt es in einer Mitteilung des Ministeriums.
Prozess in gemieteten Räumen
Bei großen Prozessen - wie in diesem Sommer gegen fünf Mitglieder eines Betrüger-Clans - muss die Justiz nun sogar Räume auswärts mieten, um genug Platz zu haben: Der Falschgeld-Prozess fand wegen der vielen Beteiligten in der Festhalle des Wöllrieder Hofes bei Rottendorf statt. Das ist teuer und oft auch unter Sicherheitsaspekten problematisch. Über Vernehmungen per Bildschirm von Zeugen wird nachgedacht, über mehr moderne Laptops und Videokonferenzen, die Abstand ermöglichen. Die Justiz will vor dem Coronavirus jedenfalls nicht einfach kapitulieren: "Ob und wann Gerichtstermine stattfinden, entscheiden die Richter in Ausübung ihrer richterlichen Unabhängigkeit", heißt es in einer Erklärung des Oberlandesgerichts.
Schwierig wird es, wenn ein laufendes Verfahren unterbrochen werden muss - beispielsweise, wenn ein Schöffe in Quarantäne ist oder ein Zeuge noch auf das Ergebnis eines Coronatests wartet. Vor der Pandemie konnte ein Prozess maximal drei Wochen pausieren, sonst war alles bisher Erreichte für die Katz - man musste von vorne anfangen. Ende März schon bastelte der Gesetzgeber eilends ein Gesetz, das nun sogar Corona-bedingte Pausen von drei Monaten und zehn Tagen möglich macht.
Justiz unter Zeitdruck
Im Zivilen ist es kaum besser: Da sollte in Würzurg beispielsweise ein Verfahren um die Kosten eines Unfalls, knapp 2000 Euro, unbedingt fortgesetzt werden – bis ein Anwalt aus der gesundheitsgefährdeten Gruppe der Älteren mit überstandenem Herzinfarkt mit Dienstaufsichtsbeschwerde drohte. Auch hier wird inzwischen nur verhandelt, was keinen Aufschub duldet.
Wie es aussieht, wenn trotz Druck durch Corona so schnell wie möglich eine Scheidung verhandelt werden muss oder im Familiengericht die Entscheidung über die Zukunft eines Kindes drängt, will man sich gar nicht ausmalen. Und keiner beneidet die Richter am Sozialgericht, die – trotz oder wegen Corona – rasch über die Existenz von Hartz IV-Empfängern und Arbeitslosen entscheiden sollen oder bei ängstlich wartenden Kranken mit Krankenkassen um die Übernahme von Kosten für Heilbehandlungen ringen.
Zusätzliche Arbeit an den Verwaltungsgerichten
Und am Würzburger Verwaltungsgericht? Dort und an den anderen fünf Verwaltungsgerichten in Bayern haben die Richter jede Menge zusätzlicher Arbeit durch die Pandemie: Geklagt wird um die Maskenpflicht für Schüler, Mitgliedsbeiträge für zwangsweise geschlossene Fitnessstudios und Anti-Corona-Demos. Seit März gab es bayernweit über 940 Klagen – darunter über 230 wegen des Teil-Lockdowns seit November. Und da sind die Klagen gegen Bußgeldbescheide noch gar nicht eingerechnet, die zunächst bei den Amtsgerichten landen. "Momentan gehen die Klagen aber wieder zurück," heißt es auf Anfrage beim zentralen Verwaltungsgerichtshof in München.
Wichtig sei für Besucher und Beteiligte, mit der richtigen Ausstattung ins Gericht zu kommen, empfiehlt ein langjähriger Berichterstatter: Schutzmaske gegen Corona, Schal und warme Jacke gegen die Kälte beim Lüften – und genug Kleingeld für den heißen Kaffee aus dem Automaten in den vielen Pausen.