Die Afrikanische Schlafkrankheit, Bilharziose, Chagas, Leishmaniose, Dengue-Fieber oder auch Lepra - jeder fünfte Mensch auf der Welt ist von einer armutsbedingten Krankheit betroffen oder bedroht. Doch noch immer sind diese Tropenkrankheiten vernachlässigt - in Politik, Wissenschaft und Öffentlichkeit. Die Ursachen vieler dieser Erkrankungen wären einfach zu beheben: Durch Armutsbekämpfung und bessere Lebensbedingungen für die Menschen. Die Corona-Pandemie hat die Situation weltweit verschärft.
Covid-19 ist für Milliarden Menschen eine weitere Infektionskrankheit, die sie das Leben kosten kann, sagt die internationale Hilfsorganisation Deutsche Lepra- und Tuberkulosehilfe (DAHW) aus Würzburg. Führt Corona zu Rückschritten bei den Hilfsprojekten? Welche Folgen hat die Pandemie und haben Ausgangssperren und Kontaktbeschränkungen beispielsweise für die Lepra-Arbeit? Die Infektionsbiologin Dr. Saskia Kreibich, Public Health Beraterin der DAHW, berichtet über das, was möglich ist - und was nicht.
Dr. Saskia Kreibich: Eine große Frage. Jedes Land, jede Situation ist anders. Wir sind in sehr engem Austausch mit unseren Regionen und den Mitarbeitern und Partnern dort. Was man grundsätzlich sagen kann: Die zweite Welle tritt in den meisten Ländern ein. Die Trends an Neuinfektionen nehmen leider massiv zu. Es herrscht eine große Sorge, wenn man sich die derzeitigen Fallzahlen anschaut. In Lateinamerika oder auch Asien sind die Sterbefall-Zahlen rapide in die Höhe gegangen. Und auch aus Afrika hören wir, dass die Corona-Lage dort nach wie vor sehr, sehr ernst ist.
Kreibich: Was die Kollegen berichten: Die diagnostischen Kapazitäten sind absolut unzureichend. Gemessen an der Bevölkerungszahl werden im Vergleich zu Deutschland so viel weniger Tests zu Covid-19 gemacht. Es gibt diagnostische Zentren vor allem in den Hauptstädten, von dort werden auch zumeist die hohen Fallzahlen berichtet. Aber viele Länder sind ja doch sehr ländlich geprägt, Äthiopien beispielsweise. Wie dort die Diagnostik wirklich zu der Bevölkerung kommt, ist die große Frage.
Kreibich: Ja, es ist das Problem, dem wir uns grundsätzlich annehmen: Die Gesundheitsversorgung ist sehr zentralisiert und auf die Hauptstädte ausgerichtet. Die DAHW versucht, dezentrale Dienstleistungen anzubieten, so dass wirklich alle erreicht werden und davon profitieren können. Das ist bei Corona nicht anders als bei den vernachlässigten Tropenerkrankungen. Wir müssen die Gemeinden erreichen. Die Sorge in der Afrikanischen Union vor der Übertragung von Corona in den ländlichen Regionen ist groß. Viele Dörfer sind einfach schlicht nicht an die Infrastrukturen angebunden, das nächste Gesundheitszentrum ist vielleicht ein, zwei Stunden weit entfernt. Was ist, wenn aus den Gemeinden grippeähnliche Symptome gemeldet werden? Ist es Corona oder nicht?
Kreibich: Da sind die Erfahrungen sehr unterschiedlich von Land zu Land, von Zeit zu Zeit. Von Frühjahr bis Spätsommer sind in durchaus vielen Ländern sehr harte Lockdown-Maßnahmen umgesetzt worden. Viele Regierungen waren erschrocken, wie Corona Europa getroffen hatte, und in berechtigter Sorge angesichts ihrer schwächeren Gesundheitssysteme. Man hat sehr früh und streng den Notzustand verhängt, um schnell eine Ausbreitung des Virus einzudämmen. Komplette Sperrstunde, sehr eingeschränkte Mobilität – da war die Arbeit in den Feldbüros schwer.
Kreibich: Ja, das ist teilweise extrem schwierig. Denn welche Möglichkeiten haben die Menschen, um das umzusetzen? Wir arbeiten zum Beispiel in Flüchtlingssiedlungen im Norden von Uganda, wo Geflüchtete aus dem Südsudan und der Demokratischen Republik Kongo leben. Dort ist an physische Distanz, wie sie in Corona-Zeiten nötig wäre, gar nicht zu denken. Wir haben sehr viele Hygieneartikel, Seifen, Desinfektionsmitteln verteilt. Aber für die Bevölkerung ist es wirklich schwierig. Es gibt ja auch häufig keinerlei soziale Absicherungssysteme. Wenn die Tagelöhner einen Tag lang nicht arbeiten können, bedeutet das sofort Existenznöte. Unsere Corona-Hilfsmaßnahmen müssen auf die Bedürfnisse der Menschen vor Ort abgestimmt werden.
Kreibich: Wir haben uns im Laufe des Jahres 2020 akklimatisiert. Wir können ja Projekte nicht einfach aufgeben, der Bedarf ist einfach so groß. Wir haben eine medizinische und soziale Verantwortung, die Projekte umzusetzen. Wir haben überlegt, was können wir anpassen, wie können wir die Corona-Sicherheitsmaßnahmen umsetzen? Andere Räume anmieten, für die Kurse und Trainings die Teilnehmerzahl reduzieren, sie dafür öfter anbieten, Schutzmasken verteilen . . . Da haben wir keine Mühe gescheut, die Projekte dort, wo es möglich ist, wieder umsetzen zu können. Das ist mit hohem logistischem, zeitlichem und auch mit finanziellem Aufwand verknüpft. Manches geht leider noch gar nicht: Normalerweise gehen wir mit Ärzteteams in die Gemeinden und laden zu Versammlungen ein, um Hautkrankheiten festzustellen. Da geht es nicht nur um Lepra, sondern auch um andere vernachlässigte Tropenerkrankungen, die die Haut betreffen. Da bringen wir ganze Dorfgemeinschaften zusammen für kostenlose Untersuchungen. Das ist im Moment sehr schwierig.
Kreibich: Eine unserer Kernaufgaben ist ja, Patienten, die von Lepra, Tuberkulose oder anderen Krankheiten betroffen sind, frühzeitig zu finden. Eine schnelle Diagnose und Behandlung ist einfach extrem wichtig. Wenn das nicht geschieht und sich die Erkrankung von Mensch zu Mensch überträgt, bekommen wir weitere Fälle. Und die Krankheitsverläufe können schwerwiegend sein, bis hin zu anhaltend lebenslangen Beeinträchtigungen. Das war im vergangenen Jahr eine der größten Sorgen der DAHW: Dass wir jetzt weniger Patienten finden! Die Zahl der neu gemeldeten Fälle bei Lepra und auch Tuberkulose ist im vergangenen Jahr wirklich stark zurückgegangen.
Kreibich: Die Auswirkungen, wenn Patienten nicht entdeckt werden, sind wirklich gravierend. Die Erkrankungen werden nicht erkannt, sie werden in der Familie, in der Gemeinde weitergegeben. Ein Problem ist auch, dass wir viele begonnene Behandlungen nicht weiterführen konnten. Weil die Patienten Angst vor Covid-19 haben und sich nicht mehr in die Kliniken trauen. Oder weil es Versorgungsengpässe gibt. Das haben wir bei Lepra-Medikamenten im vergangenen Jahr stark gespürt. Lepra hat eine Inkubationszeit von durchschnittlich fünf Jahren. Die Spanne zwischen Infektion und Ausprägung der Erkrankung ist einfach so lang. Die extremen Rückschritte werden wir also vielleicht erst sehr viel später merken.
Kreibich: Natürlich gibt es einige, die weltweit sehr viele Menschen betreffen. Schistosomiasis, also Bilharziose, zum Beispiel mit weltweit mehr als 200 Millionen Infizierten. Das wichtige bei dieser Wurmerkrankung ist, dass die Betroffenen zwei Mal im Jahr eine Präventivbehandlung bekommen. Da braucht es Massenbehandlungskampagnen. Und natürlich beschäftigt uns Lepra nach wie vor sehr. Viele denken ja, das ist eine historische Krankheit. Aber es infizieren sich damit jedes Jahr 200 000 Menschen neu. Und es ist eine sehr komplizierte Erkrankung. Aber im Grunde sind es weniger die Krankheiten, die uns Sorge bereiten, sondern die Menschen. Sie sind es, die eigentlich vernachlässigt werden.
Kreibich: Sie sind medizinisch nicht alle sehr einfach zu behandeln. Häufig fehlt es uns auch an guten diagnostischen Tests für ländliche Regionen. Oder die Medikamente sind sehr alt und mit vielen Nebenwirkungen behaftet. Bei Buruli ulcer zum Beispiel kennt man noch nicht einmal die genauen Übertragungswege. Da ist es schwierig, die Bevölkerung zu schützen. Grundsätzlich ist es bei diesen Tropenerkrankungen immer ähnlich: Betroffen sind vor allem ländliche Gemeinden, in denen die Wasser-, Sanitär- und Hygieneversorgung sehr schlecht ist. Gemeinden, die stark von Armut betroffen sind.
Kreibich: Ja, es ist ganz zentral, die sozialen Faktoren anzugehen. Die Symptome sind das eine, die Krankheiten müssen bestmöglich behandelt werden. Aber viel wichtiger ist, dass die Ursachen für Infektionskrankheiten und deren Übertragung behoben werden. Da geht es um den Lebensstand der Bevölkerung, den Zugang zu sauberem Wasser, zu einer Sanitärversorgung. Die Menschen müssen sich die Hände waschen können, bevor sie eine Mahlzeit zu sich nehmen. Und Bildung ist wichtig. Die Menschen müssen sich bewusst sein können, welchen Risiken sie sich bei bestimmtem Verhalten aussetzen. Es braucht Jobs, sicheres Einkommen. Man muss da sehr ganzheitlich denken.
Kreibich: Für die Patienten und die Gemeinden, in denen wir tätig sind, sind die indirekten Konsequenzen unsere größte Sorge. Corona wird große sozioökonomische Auswirkungen in den Ländern haben, das sehen wir jetzt schon. Und es gibt ja nicht nur Corona als Krise: Afghanistan, Jemen, Südsudan mit den Bürgerkriegen, in Äthiopien jetzt auch noch eine Heuschreckenplage. Armut und Hunger werden eine gravierende Folge von Corona sein. Aber sicher, was positiv ist: Global gesehen ist Gesundheit ein großes Thema geworden. Und es ist so klar geworden, dass wir füreinander solidarisch einstehen müssen. Und in den Ländern selbst werden Strukturen geschaffen oder gestärkt, um Covid-19 zu bekämpfen. Die Hygienemaßnahmen kommen ja auch der Kontrolle von anderen Krankheiten zu Gute. Allein die Möglichkeit, Hände zu waschen!
Kreibich: Dass Corona langfristig die globalen Zusammenhänge von Gesundheit aufgezeigt hat und das Bewusstsein für die großen gesundheitlichen Risiken, denen Menschen in ärmeren Ländern tagtäglich ausgesetzt sind, wächst. Und dass klar geworden ist: Jeder hat das gleich Recht auf Gesundheit.
Dr. Saskia Kreibich ist Infektionsbiologin. Sie hat in München und Marburg Biologie studiert und an der Universität Basel das Diplom in Health Care Management in Tropical Countries erlangt. An der ETH Zürich promovierte sie über bakterielle Infektionskrankheiten. Sie arbeitete in Malawi und Nepal und ist seit 2017 Beraterin für Internationale Gesundheit bei der DAHW in Würzburg. Seit 2018 ist sie dort stellvertretende Leiterin der Abteilung Medizinische und soziale Projekte, seit 2019 auch Regionalteamleiterin für Ost-Afrika.