Als Otmar Issing am 16. März 2006 vor der Festversammlung steht, muss er innehalten. Alle sind sie wegen ihm gekommen – Prominente aus Politik, Wissenschaft und Wirtschaft. Nach acht Jahren verabschieden sie den Würzburger als Chefökonom der Europäischen Zentralbank (EZB).
Doch just in dem Moment, als Issing mit seiner Rede an die Reihe kommt, schießt ihm dieser Gedanke durch den Kopf: Dass genau zu diesem Zeitpunkt vor 61 Jahren seine geliebte Heimatstadt Würzburg durch Bomben in Schutt und Asche gelegt wurde, 4000 Menschen starben. Und dass er als kleiner Junge pures Glück hatte, zu überleben.
Aus dem Franken wurde ein überzeugter Europäer
Für Otmar Issing war und ist das geeinte Europa die wichtigste Antwort auf die Schrecken und Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs. Dass er im Direktorium der EZB eine herausragende Rolle bei der Schaffung des Euro spielen durfte – das erfüllt den 88-Jährigen noch heute mit Stolz und Freude. Und: Dass er dadurch Freunde in ganz Europa gefunden hat.
Einiges dazu hat er nun aufgeschrieben – hintergründig, persönlich und anekdotenreich. In seinem Buch "Von der D-Mark zum Euro" blickt er nicht nur auf die spannenden Jahre des Währungsübergangs, sondern geht weit zurück in seine Würzburger Kindheit.
Bei einer Tante im nahen Güntersleben hatten Issing und sein Bruder die Würzburger Bombennacht vom 16. März 1945 überstanden. Die Rückkehr mit seiner Mutter in die Ruinen war schockierend: "Den Weg über Schuttberge nicht geräumter Straßen, den Brandgeruch und das Bild einer Geisterstadt werde ich nie vergessen."
Bescheiden waren die Verhältnisse, in denen Issing aufgewachsen ist. Seine Eltern hatten eine Gaststätte gepachtet. Die ganze Familie musste anpacken, auch der junge Otmar während seiner Schulzeit. Eine Karriere als Wirtschaftsprofessor war nicht vorhersehbar.
Eigentlich wollte er Altphilologe werden, doch Uni-Vorlesungen in Latein und Griechisch langweilten ihn schnell. Durch den Tipp eines früheren Klassenkameraden stieß er auf die Volkswirtschaftslehre. Sie faszinierte ihn und ließ ihn sein Leben lang nicht mehr los.
Der Ökonom erzählt in teilweise fast schelmischem Ton. Etwa wie seine Wissenschaftslaufbahn an der Hochschule Nürnberg begann und ihn dann als Professor früh wieder zurück an die Uni Würzburg brachte. Hier baute er sich ein Renommee nicht nur aufgrund fachlicher Expertise auf – kurzweilige und verständliche Vorlesungen machten ihn zu einem beliebten Dozenten.
Und auch er selbst liebte den Wissenschaftsbetrieb. Insofern musste er sich 1990 den Wechsel zur Bundesbank gut überlegen. Bereut hat er ihn nie. Als Chefvolkswirt habe er dort wie später bei der EZB alle Freiheiten gehabt, die sich ein unabhängiger Ökonom nur wünschen könne. Sich für politische Zwecke einspannen lassen, das kam für Issing nie in Frage. Strippen ziehen hinter den Kulissen, das zeigen seine Schilderungen, konnte er allerdings gut.
Stabilitätsbesessen und warnend bei der frühen Euro-Einführung
Aus seiner kritischen Einstellung zur Europäischen Währungsunion machte er selbst dann kein Hehl, als er 1998 zum EZB-Chefökonomen berufen wurde. Zu früh, zu viele Länder, fehlende Einheitlichkeit – das war seine Sorge. War Europa 1999 reif für dieses historische Experiment? Zumindest, sagt Issing, waren "noch erhebliche Hausaufgaben" zu erledigen.
Er war alles andere als ein "Europhoriker", stattdessen galt er als stabilitätsbesessen. Die Preisstabilität stand für ihn über allem. Dass die EZB zuletzt auf die hohe Inflation erst spät mit höheren Zinsen reagierte, ärgert ihn.
Wie herausfordernd es war, eine neue Notenbank aufzubauen – für den Ökonomen ein wesentliches Motiv, das nun vorliegende Buch darüber zu schreiben. Ein anderes: "Zu zeigen, dass hinter den Entscheidungen der Notenbanken Menschen aus Fleisch und Blut tätig sind. Einer davon kam aus Würzburg."
Otmar Issing: Von der D-Mark zum Euro – Erinnerungen des Chefökonomen, Vahlen Verlag 2024, 24,90 Euro.