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Würzburg
Der frühere Chefökonom der EZB ist Würzburger: Entstand der Euro an einem Schreibtisch im Frauenland?
Der Würzburger Otmar Issing ist ein großer Name in Europas Volkswirtschaft. Er bewegte nicht nur mit dem Euro Entscheidendes. Warum er Inflation für "das Unsozialste" hält.
Entspannter Blick auf Entscheidungen von internationaler Dimension: Der Würzburger Volkswirtschaftler Otmar Issing gilt als einer der geistigen Väter des Euro.
Foto: Thomas Obermeier | Entspannter Blick auf Entscheidungen von internationaler Dimension: Der Würzburger Volkswirtschaftler Otmar Issing gilt als einer der geistigen Väter des Euro.
Andreas Jungbauer
 und  Jürgen Haug-Peichl
 |  aktualisiert: 08.02.2024 11:46 Uhr

Man darf ihn getrost einen ehemaligen Star der europäischen Volkswirtschaft nennen, einen Star aus Würzburg: Otmar Issing. Der emeritierte Professor und frühere Chefvolkswirt der Europäischen Zentralbank (EZB) hat in der EU Entscheidendes bewirkt. Wenn er davon erzählt, wird internationale Politik nah.

Otmar Issing blickt auf viele wichtige Schritte in der nationalen und internationalen Wirtschaft zurück, bei denen er in vorderster Reihe stand. Trotzdem ist der einst einflussreiche Ökonom bodenständig und vor allem sportlich geblieben, wie er im Gespräch mit dieser Redaktion zeigt. Es findet in seinem Haus in Würzburg statt, in seinem Arbeitszimmer, das mal Kinderzimmer seiner beiden Söhne war. Heute ist es voll mit wuchtiger Literatur namhafter Autoren.

Er hatte eine große Rolle auf der  Bühne der Europapolitik: der Würzburger Ökonom Otmar Issing (mittlere Reihe, Dritter von links)  im Oktober 2005 bei einem Treffen des EZB-Rates in Athen,  unter anderem mit  Jean-Claude Trichet (vorne links).
Foto: Orestis Panagiotou/ANA/dpa | Er hatte eine große Rolle auf der  Bühne der Europapolitik: der Würzburger Ökonom Otmar Issing (mittlere Reihe, Dritter von links)  im Oktober 2005 bei einem Treffen des EZB-Rates in Athen,  unter ...

Issing sitzt mit Anzug und Krawatte am Schreibtisch, ganz der staatsmännische Volkswirt von einst.  "Wenn wir mit dem Gespräch zu Ende sind, ziehe ich mir gleich wieder meine Jeans an", sagt der 86-Jährige. Erzählt nebenbei, dass er früher gerne schon mal seine Lehrer geneckt habe und mit Politgranden wie dem früheren EZB-Chef Jean-Claude Trichet noch heute "sehr gut befreundet" sei. Und schildert dann, wie alles anfing und was ihn bei seinen Tätigkeiten auf europäischer Ebene immer bewegte. 

Wie der Krieg und die Zerstörung Würzburgs am 16. März 1945 Otmar Issing zum überzeugten Europäer machten

Issing ist von den Eindrücken der Zerstörung Würzburgs im Zweiten Weltkrieg geprägt. "Den Bombenangriff auf Würzburg am 16. März 1945 werde ich nie vergessen", sagt Issing, der Ende März 87 wird. "Meine Eltern hatten damals in Würzburg die Gastwirtschaft 'Erzherzog Karl' gepachtet. 14 Tage vor dem Angriff hatte mein kleiner Bruder eine doppelseitige Lungenentzündung – dann sind wir Kinder zu einer Tante aufs Land nach Güntersleben gekommen."

Sehr genau kann sich Issing daran erinnern, was am 16. März geschah: "Onkel und Tante haben uns geweckt und wir sind in Güntersleben einen Hügel hoch. Man hätte Zeitung in der Nacht lesen können: Da, wo Würzburg war, war alles rot. So ein Bild vergisst man sein Leben lang nicht mehr. Vor allem, weil meine Mutter in dieser Feuersbrunst war. Sie hat es Gott sei Dank überlebt, mein Vater war noch in Gefangenschaft." Er sei jeden Tag durch eine Ruinenlandschaft zur Schule gelaufen, sagt Issing. "Wer so ein Erlebnis hat, wird unvermeidlich zum Europäer. Was mich geprägt hat: Dass ich in den Ländern, wo angeblich der Feind wohnte, später so viele Freunde gefunden habe."

Warum Otmar Issing seiner Heimatstadt Würzburg immer treu blieb

Otmar Issing ist nie dauerhaft aus seiner Heimatstadt Würzburg weggezogen. Warum eigentlich? "Ich hatte meinen ersten Lehrstuhl in Nürnberg. Und um ehrlich zu sein: Ich wollte wieder nach Würzburg zurück – aber meine Vorstellung war, vielleicht so mit 55, also zum Ende der Laufbahn", sagt der Volkswirtschaftler. Der Ruf an die Uni Würzburg aber kam sehr bald. Issing war 37: "Ich habe angenommen – und gleichzeitig sofort begonnen, Kontakte nach außerhalb aufzunehmen, Netzwerke zu knüpfen und viel zu veröffentlichen."

Was Issing damals wie heute an seiner Heimatstadt schätzt: "Man hatte Ruhe in Würzburg, ich wollte mich aber nicht einlullen lassen." Er nennt die zentrale Lage als großen Vorteil: "Man war von hier aus schnell in anderen Städten zu Sitzungen oder Tagungen." Rufe nach Marburg oder Karlsruhe habe er später abgelehnt. Nur der nach Konstanz habe ihn gereizt, weil dort ein Sonderforschungsbereich Außenwirtschaft gegründet wurde. "Aber ich habe meiner Frau zuliebe verzichtet."

Wie Otmar Issing von seiner Berufung in das Direktorium einer neu zu gründenden Europäischen Zentralbank erfuhr

Issings Sprung auf die internationale Bühne liegt 25 Jahre zurück. Die Hintergründe sind kurios: "Es war ein Freitagabend im März 1998. Ich kam aus Frankfurt von der Bundesbank, war von der Woche ziemlich kaputt – und hatte meine Frau gebeten, unsere Heimsauna anzuheizen. Gegen zehn Uhr abends, ich war gerade in der Sauna, kommt sie mit dem tragbaren Telefon: 'Der Herr Waigel ist dran'."

Was der damalige Bundesfinanzminister wollte, war sehr konkret: "Am 1. Juni sollte die EZB gegründet werden und ich galt als möglicher deutscher Kandidat für das Direktorium", sagt Issing. "Der Hintergedanke von Bundesbank-Präsident Tietmeyer war, dass Deutschland mit mir die wichtige Position des Chefvolkswirts im Direktorium sichern konnte, das war eine Schlüsselstelle für die Schaffung der Zentralbank und der neuen Währung." Waigel habe ihn in dem Telefonat konkret nach seiner Bereitschaft gefragt – "und ich habe ohne Taktieren zugesagt". Es sei eine Anerkennung für seine bisherige Arbeit gewesen, sagt der Volkswirt. "Als damals Einzigem im Direktorium – neben dem Präsidenten – erhielt ich einen Vertrag über die vollen acht Jahre."

2006, im Alter von 70 Jahren, schied Issing bei der EZB aus. Während des Gesprächs in seinem Haus wird klar, dass er hier am Schreibtisch wichtige Weichen für die europäische Geldpolitik gestellt hat. Ob an diesem Schreibtisch aus den Siebziger Jahren letztendlich auch der Euro entstand? Auf die Frage ziert sich Issing schmunzelnd: "Das wollt Ihr wohl gerne hören..."

Doch schon einen Satz später lenkt er ein: Ja, an dem Gedanken mit dem Euro und seinem Schreibtisch sei was dran.

Was Bundeskanzlerin Angela Merkel an einem Sonntagabend wollte

In den Jahren nach dem Anruf von Theo Waigel hat Otmar Issing mit den Großen der europäischen Politik hautnah zu tun. Der Würzburger erinnert sich an einen weiteren Anruf von besonderer Tragweite: "Es war ein Sonntag im Jahr 2008. Ich hatte eigentlich den Anruf von einem meiner drei Brüder erwartet. Meine Frau und ich wollten gerade weggehen, da läutet das Telefon und es meldet sich jemand mit 'Guten Abend, Angela Merkel'. Ich habe nur gesagt: 'Ist schon Recht…' und dachte, jemand nimmt mich auf den Arm. Merkel sagte: 'Ich bin es, die Bundeskanzlerin, keine Stimmenimitatorin'."

'Ich bin es, die Bundeskanzlerin': Als Angela Merkel 2008 bei Otmar Issing anrief, dachte er erst an einen Scherz. Zwei Jahre später steht er mit ihr bei dieser Pressekonferenz am Rednerpult.
Foto: Soeren Stache, dpa | "Ich bin es, die Bundeskanzlerin": Als Angela Merkel 2008 bei Otmar Issing anrief, dachte er erst an einen Scherz. Zwei Jahre später steht er mit ihr bei dieser Pressekonferenz am Rednerpult.

Issing hatte also die Bundeskanzlerin fast abblitzen lassen, doch die Sache ging gut: "Ich habe mich entschuldigt und wir kamen ins Gespräch. Ich sollte den Vorsitz der Kommission übernehmen, die sie und den Finanzminister dann nach Ausbruch der Finanzkrise 2008 beraten hat. Wir hatten zahlreiche gemeinsame Sitzungen. Damals hatten sich angesichts der globalen Krise erstmals die Staatschefs der G20 getroffen."

Wie Otmar Issing von Frankfurt und Würzburg aus 1998/99 den Euro konstruierte

Wie schafft man eine neue Währung für Millionen von Menschen? Issing hat noch heute Respekt davor: "Ich hatte freie Hand durch EZB-Präsident Duisenberg, er hat mich in allem unterstützt. Das war eine historisch einmalige Situation und Konstellation." Er selbst sei der Ansicht gewesen, die  Währungsunion komme zu früh und mit zu vielen Ländern. "Ich war also recht kritisch. Aber ich wollte diesem europäischen Projekt zum Erfolg verhelfen."

Es blieb wenig Zeit: Am 1. Juni 1998 wurde die EZB gegründet, ein halbes Jahr später, am 1. Januar 1999, sollte die Währungsunion in Kraft treten und damit die gemeinsame Geldpolitik. "Mit einer neuen Währung! Und elf nationale Währungen verschwinden. So etwas hatte es bis dahin noch nie gegeben. Ich kann gar nicht beschreiben, was das für eine Herausforderung war."

Er habe sich aus seinem Stab zehn junge europäische Wissenschaftler zusammengeholt, sagt Issing. "An einem Augustabend 1998 saßen wir beieinander und ich habe allen klar gemacht: Was wir hier denken, hat Einfluss auf das Schicksal von über 300 Millionen Menschen. Also eine enorme Verantwortung." Und für ihn selbst habe festgestanden: "Wäre meine Strategie schiefgegangen, wäre ich zurückgetreten. Wir hatten nur einen Schuss. Und Kritik gab es damals genug."

Wie Otmar Issing heute auf den Euro schaut - und was er mit den vielen Auszeichnungen gemacht hat 

Die aktuelle Geldpolitik in Europa sieht Otmar Issing kritisch: "Ich war letztes Jahr von der EZB enttäuscht, weil sie die Inflation so lange unterschätzt und die Zinsen viel zu spät erhöht hat. Bis vor zwei Jahren war der Euro stabiler als zuvor die D-Mark. Die aktuelle Inflationsphase hatte sich aber bereits Mitte 2021 abgezeichnet, der Krieg hat dann alles noch verschlimmert. Erst im Sommer nach Kriegsausbruch wurden dann die Zinsen erhöht, das ist für mich unbegreiflich.

Der Preisanstieg zur Zeit der Ausgabe der Euro-Banknoten und Euro-Münzen Anfang 2002 war sei übrigens nicht größer als zuvor in D-Mark-Zeiten, sagt Issing: "Der 'Teuro' war eine gefühlte Inflation – von der Statistik gedeckt war sie nicht."

Gespräch inmitten von viel Literatur: der Würzburger Ökonom Otmar Issing in seinem Arbeitszimmer beim Gespräch mit den Reportern Jürgen Haug-Peichl (links) und Andreas Jungbauer. 
Foto: Thomas Obermeier | Gespräch inmitten von viel Literatur: der Würzburger Ökonom Otmar Issing in seinem Arbeitszimmer beim Gespräch mit den Reportern Jürgen Haug-Peichl (links) und Andreas Jungbauer. 

Bundesverdienstkreuz, Europa-Medaille, Honorarprofessuren: Issing ist mit vielen hochrangigen Auszeichnungen geehrt worden. Er habe sie nicht gezählt, sagt der Ökonom. Zu sehen sind all die Urkunden und Medaillen in seinem Arbeitszimmer nicht. Er habe sie irgendwo hinten im Büroschrank verwahrt.

Wie Otmar Issing die heutige starke Inflation bewertet - und welche Verlierer und Profiteure er sieht

Zur aktuellen Inflation hat Otmar Issing eine klare Meinung: "Ich bin im Europäischen Parlament teilweise heftig für unsere als streng empfundene Politik angegriffen worden. Dabei habe ich immer erklärt: Wir machen unsere Politik nicht für die Banken, sondern vor allem für die kleinen Leute. Sie leiden am stärksten unter der Inflation."

Man sehe aktuell die Reallohnverluste, sagt der Volkswirt: "Zentralbank und Gewerkschaften müssten eigentlich Verbündete sein. Hohe Inflation bringt das gesamte volkswirtschaftliche Gefüge durcheinander – und in einer solchen Situation sahnen manche auch ab und nutzen die Verwirrung aus. Inflation ist mit das Unsozialste, das man sich denken kann." Die Erfahrungen der vergangenen Monate würden zeigen, wie wichtig ein stabiler Geldwert ist - "gerade für das Vertrauen der Menschen".

Wie Otmar Issing auch in der Leichtathletik Spitzenplätze errang und was ihm Sport bedeutet

Volkswirtschaft ist nicht alles im Leben von Issing. Eine Leidenschaft bis heute: Sport. "Ich war in der Schule ein guter Sprinter, war unterfränkischer Meister." Und schildert, wie es mit dem Laufen "abrupt vorbei" war, als er mit 20 eine schwere Tuberkulose bekam: "Ich wäre fast daran gestorben, das war ein heftiger Einschnitt. Es dauerte ein ganzes Jahr, bis ich mich erholt hatte – viel Zeit nachzudenken, was einem wichtig ist im Leben." Er habe sich dann voll auf das Studium konzentriert.

Die sportlichen Leistungen Issings sind nach wie vor beachtlich: "Als ich 45 war, hat mich einer meiner zwei Söhne ohne mein Wissen zur unterfränkischen Seniorenmeisterschaft im 100-Meter-Lauf angemeldet. Ich habe etwas trainiert und tatsächlich gewonnen, und im Anschluss noch die bayerischen Meisterschaften. Da hatte ich Blut geleckt." Als Senioren-Leichtathlet wurde der Würzburger zehn Mal Seniorenmeister über 100 und 200 Meter.

Seine Zeit? "Mit 50 war ich mit 11,8 Sekunden über die 100 Meter immer noch schnell", sagt Issing. "Heute laufe ich nur noch locker ein- bis zweimal die Woche, fahre Rad oder gehe Schwimmen. Ohne Sport könnte ich nicht leben." Was Issing bei all der Sportlichkeit auch verrät: "Ich bin kein Asket." Früher habe er Zigarren geraucht. Und einen Schoppen Frankenwein verschmähe er auch heute nicht.

 
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  • ralfestenfeld@aol.com
    Danke für den interessanten Bericht. Ich kenne Prof. Issing aus meinen Vorlesungen in Aussenwirtschaft (1975-1980) bei ihm. Ein bodenständiger Mensch, mit gesundem Menschenverstand und realitätsnahem Wissenschaftsverständnis. Eine heutzutage seltene Erscheinung im Umfeld der Wirtschaftswissenschaften.
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