"Eigentlich", sagt Walter Dieck, "sorgt der Brexit nur für Verlierer". Der 68-Jährige ist überzeugt, dass vom EU-Austritt weder Europa noch das Vereinigte Königsreich profitieren werden. "Gadheim ist der einzige Gewinner", vermutet der Ortssprecher.
Auch wenn es den Bewohnern des 80-Einwohner-Weilers fast ein wenig peinlich ist, Nutznießer einer Entscheidung von solch historischer Tragweite zu sein: Jetzt gilt es, das Beste draus zu machen. Ab Freitag um Mitternacht liegt der geografische Mittelpunkt der Europäischen Union (EU) auf einem Acker in Gadheim, einem Ortsteil von Veitshöchheim (Lkr. Würzburg).
Eine Bank am Mittelpunkt der EU
Der Wind bläst in diesen Tagen über die rund 1000 Quadratmeter große Fläche hoch über dem Maintal, die von einem schmalen Flurweg erschlossen wird. Die Fahnen von Veitshöchheim, Deutschland und Europa wehen im Wind.
Davor hat die Gemeinde einen kleinen Platz gepflastert, eine halbrunde Bank lockt zum Verweilen (wenn denn das Wetter wieder besser ist), dahinter ein Muschelkalk-Findling, aus dem ein rot-weißer Vermessungsstab herausragt und den Mittelpunkt markiert: Neun Grad, 54 Minuten, sieben Sekunden östlicher Länge und 49 Grad, 50 Minuten, 35 Sekunden nördlicher Breite, diese Koordinaten hat das Nationale Geografische Institut (IGN) in Frankreich für das neue Zentrum Europas errechnet.
Der EU-Mittelpunkt wandert nach sechseinhalb Jahren in Westerngrund (Lkr. Aschaffenburg) rund 70 Kilometer weiter nach Südosten.
Seit dem Frühling 2017 wissen sie in Gadheim von der Rechnung der Pariser Experten, seitdem künden Schilder an den Ortseingängen vom "zukünftigen Mittelpunkt der EU". Und zeitweise sah es ja auch so aus, als bliebe es dabei. Erst stockten die Austrittsverhandlungen zwischen Brüssel und London, dann wurde der Brexit von Monat zu Monat verschoben.
"Wir haben gehofft, dass er nicht kommt", sagt Bürgermeister Jürgen Götz (CSU). Man darf dem überzeugten Europäer abnehmen, dass ihm "lieber gewesen wäre, Großbritannien und die EU blieben beisammen". In Gadheim hätten sie dann halt ein Mahnmal für das geeinte Europa aufgestellt.
Nun aber gilt es, den EU-Mittelpunkt zu vermarkten, auch touristisch zu nutzen. Der Acker in Gadheim ist künftig ein weiteres Ausflugsziel für Gäste, die ansonsten wegen der Lage am Main, dem Rokoko-Garten, dem Balthasar-Neumann-Schloss und der Fränkischen Fasnacht nach Veitshöchheim kommen. "Uns wird noch einiges einfallen", verspricht Götz allen, die schon jetzt von Würstchenbude und Biergarten am EU-Mittelpunkt träumen.
Jetzt, an diesem Freitagabend, ist keine größere Feier geplant. Erst im März soll es ein Eröffnungsfest geben, mit Bayerns Ministerpräsident Markus Söder.
Derweil haben auch internationale Medien Gadheim in ihren Fokus genommen. Der britische "Guardian", die finnische Tageszeitung "Helsingin Sanomat", Fernsehsender aus den USA, aus Japan und China, sie alle haben Reporter in das kleine fränkische Dorf geschickt. "Ich weiß gar nicht, wie viele Interviews ich schon gegeben habe", sagt Karin Keßler, auf deren Acker der EU-Mittelpunkt liegt.
Gadheim wollte lieber Teil von Veitshöchheim werden
Einmal habe sie für Fernsehbilder gar auf den Muschelkalk-Findling klettern müssen. Derweil sind die Resultate in den Medien nicht immer gleich gut: Im Bericht der Finnen etwa heißt es, das EU-Zentrum wandere mit dem Brexit von Gadheim nach Veitshöchheim.
Auch Walter Dieck ist bei Journalisten gefragt in diesen Tagen. Der Nebenerwerbslandwirt gilt nicht nur als Ortssprecher, der 68-Jährige ist auch einer der wenigen Menschen, die sogar in Gadheim geboren sind.
Er kennt die Geschichte des Dorfs. Ein Meilenstein in jüngerer Zeit war der 1. Juli 1976: Da wurde Gadheim, zuvor ein Ortsteil der selbstständigen Gemeinde Oberdürrbach, im Zuge der Gebietsreform nach Veitshöchheim eingegliedert.
"Das war unser Glück", bekennt Dieck. Der damalige Würzburger Oberbürgermeister Klaus Zeitler habe lange geworben, Gadheim solle sich doch gemeinsam mit Oberdürrbach der Domstadt anschießen. "Neben der Kanalisation hat er uns ein großes Wohnbaugebiet versprochen", erinnert sich Dieck. Doch die Gadheimer Bauern fürchteten um ihre berufliche Zukunft und entschieden sich anders.
Man habe das Votum nicht bereut, versichert der Ortssprecher. Allerdings müsse Veitshöchheim auch dankbar sein, "dass es uns bekommen hat". Um mehr als ein Drittel sei die Gemeindefläche dank Gadheim gewachsen.
Die Erweiterung des Gewerbegebiets im Osten sei sonst nicht möglich gewesen, auch der Waldfriedhof liege auf Gadheimer Gemarkung. Walter Dieck witzelt: "Wenigstens zum Sterben muss jeder Veitshöchheimer einmal nach Gadheim."
Die 80 Einwohner pflegen ihre Gemeinschaft bei zahlreichen Dorffesten, den Gottesdiensten in der schmucken Markuskapelle sowie beim regelmäßigen Stammtisch im Markushof, dem überregional bekannten Ausbildungsbetrieb von Don Bosco. Da wird dann traditionell die Dorfpolitik diskutiert - und ab sofort nun auch Europapolitik.
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