Darwin konnte es sich nicht erklären. Wie nur entstand diese schiefe Haltung, dieser Plattfischbau? Da startet die Flunder ihr Leben als Larve, wie alle anderen Fischarten auch, in völliger Symmetrie. Schwimmt frei im offenen Wasser, gerade, beide Augen geradeaus. Irgendwann aber durchläuft die Flunder einen spektakulären Wandel: Aus der seitengleichen Larve entwickelt sich nach zwei, drei Wochen ein unsymmetrischer Jungfisch, ein Auge wandert über die Stirn auf die Körperhälfte des anderen Auges. Die Flunder wird flach, zieht sich zurück auf den sandigen Meeresboden und verliert dort auf ihrer Unterseite vollständig ihre Pigmentierung.
Wieso wurde der Fisch flach - und wie schnell?
Wieso diese radikale Veränderung in Körperbau, Physiologie und Verhalten? Charles Darwin, dem Begründer der Evolutionstheorie, war die Flunder und mit ihr alle anderen Plattfische ein Rätsel. Wenn diese flachen Schollen, Seezungen, Heilbutte aus „normalen“ Fischen hervorgegangen sind, dann müsste es Übergangsformen gegeben haben. Fische, die nur halb gekippt, halb asymmetrisch sind, deren eines Auge irgendwo am Kopf hängt.
Doch welchen Vorteil in der Evolution, welchen arterhaltenden Nutzen sollten diese merkwürdigen Zwischenformen haben? Eine „bemerkenswerte Einzigartigkeit“ schrieb Darwin der Flunder-Anatomie zu – und konnte sich zeitlebens keinen Reim darauf machen.
Der Plattfisch: Von Evolutionskritikern gegen Darwin ins Feld geführt
Und wie Darwin im 19. Jahrhundert ging es allen Evolutionsbiologen nach ihm. Sie konnten die allmähliche Entstehung des unsymmetrischen Körperbaus nicht erklären. Nahrung für die Kreationisten, der Kritiker der Evolutionstheorie, die heute noch bezweifeln, dass sich diese Entwicklung schrittweise vollziehen kann.
Der Würzburger Biochemiker Professor Manfred Schartl rechnet damit, dass er jetzt wieder Post aus den USA, unfreundliche Briefe von Evolutionszweiflern bekommt. So wie vor drei Jahren, als er das Genom des Quastenflossers, des Urzeitfischs, untersuchte.
Das Erbgut des lebenden, scheinbar unveränderten Fossils bestätigte nämlich Darwins Theorie der Evolution: Vieles, was ein Landlebewesen auszeichnet, findet sich schon bei diesem äußerlich völlig archaischen Fisch im Erbgut angelegt.
Pionier mit 2000 Aquarien: Fische als Modellorganismus
Schartl, Inhaber des Lehrstuhls für Physiologische Chemie der Würzburger Universität, beschäftigt sich seit 20 Jahren mit Fischen, um physiologische Prozesse in Lebewesen grundsätzlich zu verstehen. In den Kellerräumen des Biozentrums hat er 2000 kleine Aquarien stehen. Darin tummeln sich – nein, keine Quastenflosser, keine Seezungen oder Flundern. Zehntausende von winzigen, kleinen, größeren Schwertträgern, Platys und Zebrafischen sind hier versammelt – der Krebsforschung wegen. Manfred Schartls wissenschaftliche Hauptarbeit sind die molekular-genetischen Aspekte von Tumoren, von schwarzem Hautkrebs im Besonderen.
Als Schartl vor 20 Jahre mit Fischen als Modellorganismus begann, war er in Deutschland noch der Einzige. Inzwischen haben Zebrafisch, Xiphophorus hellerii und Xiphophorus maculatus als Labortier Berühmtheit erlangt. Nobelpreisträger haben sich die Fische zum Forschungsobjekt erkoren, überall gibt es an Universitäten und Universitätskliniken Fisch-Arbeitsgruppen.
Was die Zierfische für die Forschung so nützlich macht
Denn die Fische entwickeln sich schnell – vom befruchteten Ei bis zum fertigen Fisch in gerade mal zwei Tagen. Sie brauchen nicht viel Platz, sie sind nach wenigen Wochen geschlechtsreif, vermehren sich in Massen mit bis zu 300 Eiern wöchentlich pro Weibchen. Sie sind günstig, sie lassen sich leicht genetisch manipulieren. Und auch ihre Durchsichtigkeit ist nützlich: Bis ins frühe Larvenstudium hinein sind alle Zellen gut erkennbar.
Das Wichtigste aber: Viele der Erkenntnisse, die sie beim Zebrafisch gewinnen, können die Wissenschaftler auf höhere Lebewesen übertragen. Die grundlegenden Krankheitsprozesse, die Entstehung von Tumoren laufen in Fischen genauso ab wie im Menschen. Wieso ist ein Krebs mal gutartig, mal bösartig? Wie lockt das Tumorgewebe Blutgefäße an? Welche Gene schützen vor Krebs? Solche Fragen lassen sich am Labortier aus dem Aquarium untersuchen.
Wie aber kommt ein Krebsforscher auf die Flunder? Aus schierem Grundinteresse für die Dinge des Lebens, aus Forscherneugier, wissenschaftlichem Vergnügen und auch als Gegenpol zur Krebsforschung, die langwierig ist und manchmal schwermütig macht, hat Schartl vor zehn Jahren begonnen, nebenbei das Erbgut seiner Modellfische zu untersuchen. Irgendwann kam das Genom des Quastenflossers dazu. Und weil der Biochemiker inzwischen als Fischgenom-Fachmann gilt, bekam er eine Anfrage aus China.
Anruf eines ehemaligen Doktoranden aus China
Songlin Chen vom Yellow Sea Fisheries Research Institute in Qingdao, ein ehemaliger Doktorand Schartls, meldete sich in Würzburg. Ob Schartl nicht mithelfen wolle, das Erbgut der chinesischen Seezunge (Cynoglossus semilaevis) zu untersuchen. Im modernen Sequenzierverfahren „entschlüsselten“ die Forscher stückweise das Genom. Und zugleich das Erbgut der Japanischen Flunder (Paralichthys olivaceus), einer entfernten Verwandten der Seezunge. Beide schwimmen nicht in Bauchlage, sondern schweben mit ihrem abgeflachten Körper seitwärts über den Boden. Beim Vergleich ihrer Genome fanden die Biologen jetzt die entscheidenden Hinweise auf die genetischen Grundlagen des radikalen Körperumbaus.
Die Wissenschaftler, darunter Forscher mehrerer Institute in China, konzentrierten sich bei ihrer Suche auf die Gene, die während der Metamorphose, also der Umwandlung vom symmetrischen zum asymmetrischen Fisch aktiv sind. Dabei machten sie einen wichtigen Akteur aus: die Retinsäure. „Retinsäure sorgt für die Veränderungen der Hautpigmentierung bei Flundern“, sagt Schartl. Sie „bleicht“ die künftige Unterseite des Fisches quasi aus.
„Gleichzeitig interagiert sie mit einem Schilddrüsenhormon, das seinerseits dafür verantwortlich ist, dass beide Augen auf eine Körperhälfte wandern“, so Schartl.
Auch das Licht spielt mit
Licht spielt bei der für Darwin unerklärbaren Entwicklung ebenfalls eine entscheidende Rolle, stellten die Forscher zu ihrer eigenen Überraschung im Laufe ihrer Arbeit fest. Sie entdeckten, dass die gleichen Pigmente, die im Auge das Licht einfangen, auch in der Haut der Flunderlarven aktiv sind. „Sie nehmen dort Helligkeitsunterschiede wahr und verändern dann die Konzentration der Retinsäure“, sagt Schartl. Das wiederum hat Einfluss auf das Schilddrüsenhormon und damit auf die Entwicklung der Asymmetrie. Allerdings: „Die Faktoren müssen richtig zusammenkommen, damit die Metamorphose abläuft.“
Forschung für die Fischwirtschaft: Millionengeschäft mit Seezungen und Flundern
Und daran hat nicht zuletzt die Fischwirtschaft ein großes Interesse. Flundern und Seezungen haben festes Fleisch, sind eine beliebte Delikatesse und als guter Speisefisch entsprechend teuer. In China gibt es gewaltige Fischfarmen, aus denen mehr als die Hälfte der weltweiten Zuchtfisch-Produktion stammt. Bei der Aufzucht von Flundern in Aquakulturen gibt es jedoch immer wieder Probleme, weil die Metamorphose von der symmetrischen Larve zum unsymmetrischen Fisch nicht fehlerfrei abläuft. So verschwinden die Pigmente an der Unterseite nicht immer komplett, Pünktchen und Flecken bleiben. Das tut dem Geschmack zwar keinen Abbruch, doch der Fisch lässt sich so auf dem asiatischen Markt kaum mehr verkaufen. Aus Sicht der Züchter bedeutet dies Millionenverluste.
Ein Grund, warum die Arbeit der Wissenschaftler finanziell unter anderem vom chinesischen Ministerium für Landwirtschaft unterstützt wurde. Wenn es gelingt, die Entwicklung dieser seltsamen Lebewesen zu verstehen, löst das nicht nur Darwins ungelöstes Rätsel der Flunder-Evolution. Es nützt gleichzeitig der Fischindustrie weltweit.
Fossil als Beweis für die langsame Entwicklung
Einen Beleg für eine Zwischenform, einen „halben“ Plattfisch gibt es übrigens seit acht Jahren: Da stieß der britische Paläobiologe Matt Friedman auf 50 Millionen Jahre alte Fischfossilien mit einem erst halbwegs gewanderten Auge. Der bizarre Fund belegte – als Gegenbeweis zu den Kreationisten – dass die Fische sich über lange Zeit zum Plattfisch entwickelten. Die molekularen Mechanismen kann Manfred Schartl jetzt erklären.