Der Postbote hat geklingelt und Willi Dürrnagel kommt mit zwei Päckchen von der Haustür zurück. "Das habe ich vergangene Woche auf Ebay ersteigert", sagt er. Beim Auspacken des Buchs über die Geschichte des Hochstifts Würzburg strahlt der 77-Jährige über beide Ohren.
In den vergangenen rund 40 Jahren hat der pensionierte Postbeamte rund 40.000 Bücher, 15.000 Postkarten und 1000 Bilder zusammen getragen. Er erzählt davon, wie fast täglich Neues dazukommt, weil ihm Bürgerinnen und Bürger alte Fotoalben, Zeitungen oder Prospekte vorbeibringen oder er im Internet etwas Interessantes entdeckt. Mit dem Einordnen dieser Neuerwerbungen in seine Sammlung käme er kaum hinterher.
Plötzlich tropft Blut von der Fingerkuppe
Es ist also alles eigentlich wie immer, wenn man den Würzburger Stadtrat in seinem mit Historie vollgestopften Haus in der Sanderau besucht. Nur tropft plötzlich Blut von seiner Fingerkuppe. Erst langsam, dann immer schneller.
Willi Dürrnagel hat Krebs. Das ist der Anlass für einen Besuch bei dem stadtbekannten Würzburger. Er geht transparent damit um und spricht über seinen Kampf gegen die Krankheit ebenso offen, wie über die Grenzen seiner Kraft und die Zeit, die ihm noch bleibt.
2023 bekam Willi Dürrnagel Lymphdrüsenkrebs
Vor sieben Jahren wurde der Prostatakrebs entdeckt. Erst wurde operiert, dann bestrahlt. Als im vergangenen Jahr Lymphdrüsenkrebs dazu kam, begann die Chemotherapie. Nach 18 Wochen Chemo hat Dürrnagel 16 Kilogramm verloren, die Haare gehen aus.
Die blutige Fingerkuppe beim Öffnen des Päckchens kommt auch von den Nebenwirkungen der Therapie: Seine Nägel lösen sich. Einige Fingerkuppen sind deshalb verbunden. "Das ist lästig, vor allem erschwert es die Arbeit am Computer", sagt Dürrnagel. Mit einem Stofftaschentuch stillt er die Blutung.
Ende Februar war sein Zustand so schlecht, dass er einige Tage in die Uniklinik musste, um künstlich ernährt zu werden. Als er das auf Facebook postete, reagierten darauf 674 Menschen.
"Sonst wären viele Nachfragen gekommen, warum ich mich nicht melde", erklärt Dürrnagel den Post. Ein anderer Grund für seinen transparenten Umgang mit der Krankheit: "Ich will anderen Krebspatienten Mut machen und zeigen, dass es sich lohnt, zu kämpfen".
Zahlreiche Anrufe und E-Mails erreichen den Würzburger Stadtrat
Dürrnagel erzählt aber auch, wie schwer ihm das Kämpfen manchmal fällt. "Man ist dann sehr schwach und das Schlimmste ist das Gefühl, man hat ein Brett vor dem Kopf", beschreibt er die schlimmen Momente der vergangenen Monate. Was gibt ihm die Kraft?
Zum einen tut ihm die Anteilnahme gut. Dürrnagel berichtet von unzähligen Anrufen und E-Mails. Auch Menschen, mit denen er im Laufe seiner 52 Jahre im Stadtrat politisch aneinander geraten ist, würden ihm alles Gute wünschen. Das berührt ihn.
Kraft gibt ihm auch die Familie. Seine Frau, sein Sohn und vor allem der fünfjährige Enkel. "Es wäre schön, ihn noch länger zu erleben", sagt Dürrnagel und schluckt: "Man versucht halt, ihn jetzt möglichst viel zu genießen."
Dürrnagel sucht seit vielen Jahren einen Ausstellungsort für seine Sammlung
Und dann ist da natürlich noch seine Sammlung, die ihn jeden Tag beschäftigt. Als "lebendes Gedächtnis Würzburgs" hat ein Kollege dieser Redaktion den Hobbyhistoriker bezeichnet. Wenn es irgendwie geht, arbeitet Dürrnagel täglich – auch wenn seine Augen vor dem Computerschirm manchmal so stark tränen, dass er kaum noch lesen kann.
Zwei Stunden nach seiner jüngsten Entlassung aus der Klinik hat Dürrnagel einen Vortrag gehalten. In den nächsten Tagen sind weitere eingeplant und am Gedenktag zur Zerstörung Würzburgs am 16. März eine Führung. "Meine Frau ist dagegen. Sie meint, das ist zu viel. Wahrscheinlich hat sie recht, aber ich habe es doch zugesagt." Der 77-Jährige will seine Aufgabe erfüllen. Das ist seine Pflicht, seine Freude – und gibt ihm Kraft.
Dürrnagel sucht seit vielen Jahren einen Ausstellungsort für seine Sammlung. Falls das klappt, wäre das die Krönung seines Lebenswerks. Aber er versucht auch, Abstand zu gewinnen. "Wenn ich das hier nicht mehr mache, dann ist es vorbei, das ist mir klar", sagt Dürrnagel. Die sieben Jahre Krebs haben ihn nicht nur das Kämpfen, sondern auch das Loslassen gelehrt.
Sein Vater ist mit 69 Jahren und sein Bruder mit 67 gestorben. "Da muss ich mit meinen 77 doch zufrieden sein". Die Zeit nach der ersten Diagnose nennt Dürrnagel "geschenkte Jahre". Im Moment wisse er nicht, "ob ihm noch ein Vierteljahr, ein halbes Jahr oder länger" bleibt. Er würde das realistisch sehen. Aber nicht pessimistisch: Für Oktober hat er sich für die Bürgerreise der Stadt in die amerikanische Partnerstadt Rochester angemeldet.
Der Beitrag allein ist die MP-Abo-Gebühr für März wert: Ein für viele unangenehmes Thema wird ohne Druck auf die Tränendrüse mit dem "Betroffenen" besprochen. In seinen aktiven Jahrzehnten hat der Willi Dürrnagel beeindruckt, im Rahmen seiner Möglichkeiten tut er das auch trotz seiner Krankheit. Schön, dass er der Zeitung und uns Lesern und Leserinnen Einblick gegeben hat, der zum Nachdenken anregt,,,,,