
45 Jahre – so lange schon pflegt Franziska Heß-Hertlein ihren Mann Ernst, der an Multipler Sklerose (MS) erkrankt ist. "Wir waren gerade ein halbes Jahr verheiratet, als 1977 die Krankheit diagnostiziert wurde", erzählt die 74-Jährige im Garten ihres Würzburger Reihenhauses. 13 Wochen habe ihr Mann damals in der Klinik verbringen müssen. "Eine super Diagnose für einen knapp Dreißigjährigen", sagt Franziska Heß-Hertlein und lächelt ironisch.
Die Krankheit hat das Paar von Anfang an zusammengeschweißt. "Komm‘, wir stehen das zu zweit durch, du musst das nicht alleine machen", erinnert sich Heß-Hertlein an die Worte ihres Mannes. 1986 erleidet er einen schweren MS-Schub. Danach ist ein Vorankommen nur noch mit Rollator, und auf weiteren Strecken mit dem Rollstuhl, möglich.
Bis 1989 arbeitet Ernst Hertlein in Vollzeit als Augenoptiker, bis 1991 noch halbtags, dann nur noch stundenweise. "Seit 1989 bin ich die Hauptverdienerin", sagt seine Frau, die lange im Steuerbüro tätig war, "mein Mann hat den Haushalt gewuppt". Auch um ihre zwei Kinder kümmert er sich, so gut es geht: "Als unser Sohn 1983 auf die Welt kam, konnte mein Mann den Kinderwagen noch schieben", so Franziska-Heß-Hertlein. "Bei der Geburt unserer Tochter zwei Jahre später nicht mehr – da hatte er schon einen Unterarmstock als Gehhilfe."
"Unsere Kinder sind beide etwas geworden, wir haben ihnen das Bestmögliche mitgegeben", ist sich das Paar einig. Doch vor diesem versöhnlichen Fazit standen auch Momente des Zweifelns. "Mein Mann hatte Angst, dass er kein guter Vater war", sagt Franziska Heß-Hertlein. "Doch er hat immer gemacht, was er konnte." Auch ihre Kinder wüssten das. Eine feste Umarmung und ein "du warst der beste Papa", sei die Reaktion ihres Sohnes auf die Selbstzweifel seines Vaters gewesen, erinnert sich Franziska Heß-Hertlein mit Tränen in den Augen.
Als die Kinder aus dem Haus sind, überlegt das Paar, in eine Wohnung zu ziehen. Doch sie finden keine passende barrierefreie. Und so beginnen sie, ihr Haus umzubauen: Aus den zwei Kinderzimmern wird das Schlafzimmer für Ernst Hertlein, Türen werden verbreitert, die Dusche und die Küche umgebaut, ein Treppenlifter installiert und im Garten eine Rampe gebaut, über die man mit dem Rollstuhl ins Haus gelangen kann. "Wir haben es uns soweit eingerichtet", sagt sie. "Perfekt ist was anderes", sagt er.
2016 verschlechtert eine Herzklappen-Operation den Gesundheitszustand von Ernst Hertlein zusätzlich; seine Selbständigkeit nimmt weiter ab. 2019 führt eine Salmonellen-Vergiftung zu einer gefährlichen Sepsis. Als die Aufgabe der Pflege zu groß wird, zieht seine Frau einen Pflegedienst hinzu, der seitdem zweimal am Tag zu den Hertleins nach Hause kommt.

Der Tagesablauf von Franziska Heß-Hertlein ist streng durchgetaktet: Um sechs Uhr steht sie auf, um 6.30 Uhr kommt der Pflegedienst. Wenn sich Ernst Hertlein die Zähne geputzt und rasiert hat, bringt seine Frau ihn mit dem Treppenlifter vom ersten Stock zum Frühstück ins Erdgeschoss. Den Lifter zu bedienen und den 74-Jährigen samt Rollstuhl in der Vorrichtung zu sichern, um ihn anschließend langsam durch das enge Treppenhaus fahren zu können, braucht Zeit – und das, obwohl jeder Handgriff sitzt und jahrelange Routine verrät.
Da ihr Mann nicht mehr aufstehen kann, ist er in vielen Situationen auf Hilfe angewiesen. Um vom mechanischen Rollstuhl in den elektrischen zu wechseln, gibt es einen Lifter – ebenso am Bett und im Bad, "falls er dort ab- und hinter die Toilette rutschen sollte", erklärt Franziska Heß-Hertlein.
Nach dem Frühstück brechen die beiden meist mit dem Elektro-Rollstuhl zu einem Spaziergang auf und unterhalten sich mit Nachbarn. "Wir schauen, was wir noch machen können", sagen die Hertleins. An manchen Tagen schaffen sie es nicht aus dem Haus, doch das soll die Ausnahme bleiben, "sonst würde ich trübsinnig", betont die 74-Jährige.
Nach dem Mittagessen ruht sich Ernst Hertlein im Obergeschoss aus. Nachmittags trinkt das Paar Kaffee, und nach dem Abendessen kommt um halb sieben der Pflegedienst, der den 74-Jährigen ins Bett bringt. "Ohne die Frau geht gar nichts", brummt er und wirft einen verstohlen-liebevollen Blick auf sie. "Ohne mich wärst du ein armer Hund", bestätigt seine Frau, lacht und streicht über seinen Arm.
Humor und blindes Verstehen als Rettungsanker im Pflegealltag
Der Umgang der beiden erzählt von Humor, auch wenn das Leben oft nicht zum Lachen ist, von unzähligen kleinen Routinen und blindem Verstehen. Das Wasserglas bringt Franziska Heß-Hertlein ihrem Mann mit Strohhalm und rückt es immer wieder in Reichweite. Wenn sie merkt, dass er im Gespräch etwas nicht hört, da er, genau wie sie selbst, hochgradig schwerhörig ist, weist sie die Gesprächspartnerin darauf hin und wiederholt das Gesagte. "Ich bin froh, dass Du mit mir Rentner geworden bist", sagt sie und umarmt ihn, als sie sich für den Bericht im Garten fotografieren lassen.
"Wir haben versucht, das Beste aus unserer Situation zu machen", sagt Franziska Heß-Hertlein. Negatives nicht hochzuspielen, sondern lieber zu fragen, wie man damit umgehen könne, sei ihr Motto. "Es gibt aber auch Tage, an denen ich mich frage, 'verdammt nochmal, warum immer wir'?", so die 74-Jährige.
Wie und wo tankt jemand auf, der sich rund um die Uhr um das Wohl eines anderen Menschen kümmert? "Wenn mein Mann vier Wochen im Jahr auf Reha ist, mache ich Urlaub", sagt Heß-Hertlein. Und auch zusammen sind die beiden immer wieder verreist: Auf Teneriffa, in einem barrierefreien Hotel, in dem auch ihr Mann versorgt ist, kann Franziska Heß-Hertlein Auszeiten von ihrem kräftezehrenden Alltag nehmen.
Kraft schöpft die 74-Jährige außerdem aus der Beschäftigung mit ihren zwei Enkeln und Zeit mit ihren Kindern, sowie aus ihrem Garten, in dem verschiedenstes Obst darauf wartet, von ihr verarbeitet zu werden. Kleine Fluchten, wie der Besuch von Freilichttheatern, bescheren ihr Momente, von denen sie im Alltag zehrt. Lange war Franziska Heß-Hertlein auch ehrenamtlich engagiert: Von 2002 bis 2021 leitete sie eine MS-Sportgruppe in Würzburg. Die eigenen Bedürfnisse nicht aus den Augen verlieren, "sich auch leben lassen", wie Franziska Heß-Hertlein es formuliert, ist für sie wichtig. "Manchmal klemme ich mir ein Buch unter die Nase – und mein Mann kann mich dann fragen, ob ich Zeit für ihn habe."
Der Pflegepreis als Anerkennung
Trotz aller Einschränkungen sei ihr Mann ein sehr zufriedener Patient, sagt Franziska Heß-Hertlein und lächelt. Der Pflegepreis sei für sie "eine Anerkennung". Mit dem Preisgeld kann das Paar einen Urlaub planen, "ein MS-ler auf Rügen vermietet eine barrierefreie Wohnung, bei der man einen Pflegedienst dazubuchen kann."
Welchen Wunsch hat Franziska Heß-Hertlein für die Zukunft? "Dass wir unseren Humor behalten", sagt sie, ohne zu zögern. "Ohne wär’s nicht ertragbar."