"Wollt ihr wirklich hier rein?" Der Mann auf der anderen Seite des Schreibtischs musterte uns mit ungläubigem Blick. "Das solltet ihr euch wirklich noch mal überlegen." Ingo und ich sahen uns kurz an. Aber was gab es viel zu überlegen, wenn man 21 ist, mit wenig Geld in der Tasche drei Wochen nach dem Mauerfall von der DDR in den Westen fährt und in der Millionenstadt Köln einen Platz zum Schlafen braucht? "Das geht schon in Ordnung für uns." Wir füllten noch irgendeinen Zettel aus, und dann war das Nachtquartier in der Großstadt gesichert – ein Stockbett in einer Unterkunft für Wohnungslose in der Kölner Südstadt.
Die Alternative wäre eine Jugendherberge gewesen. "Das kostet nur so 20 Mark", hatte uns jemand am Hauptbahnhof erzählt, nachdem wir an einem der letzten Novembertage 1989 in Köln angekommen waren. "Nur" 20 Mark? Das war mindestens eine Schallplatte! Eine WEST-Platte! Von meinen 100 Mark Begrüßungsgeld hatte ich ein paar Tage zuvor in Westberlin schon zwei Platten gekauft, jetzt waren noch gut 60 Mark übrig. Und die reichten für drei LPs, mit etwas Glück sogar für vier.
Ein leicht mulmiges Gefühl hatten wir trotzdem, aber das schoben wir beiseite. Der Abend war noch jung, jetzt galt es die Stadt zu entdecken, von der wir bisher nur gehört hatten – und wie! Die Südstadt, durch die wir jetzt zurück Richtung Dom liefen, klang mir als Lied im Kopf, es war die Stimme Wolfgang Niedeckens, es war die Musik von BAP: Kumm Südstadt, verzäll nix, / do merks doch, dat mer dich usstrix / markier nit, datte nit durchblicks - verzäll nix.
Knapp neun Jahre zuvor, Anfang 1981, waren im Internatszimmer abends nach 20 Uhr gute Ohren gefragt. Erst mussten die Schritte der Erzieherin verklungen sein, dann konnte es losgehen. Ich schaltete das Radio ein, und schon bald klang aus dem Monolautsprecher der Jingle der RIAS-Sendung "Schlager der Woche", einer ziemlich ordentlichen Rock-Pop-Hitparade. Mein Zimmerkollege Tom und ich lauschten der Musik: "Woman" von John Lennon, "Fade To Grey" von Visage oder "Bette Davis Eyes" von Kim Carnes.
Unsere Eltern – wie die der anderen Kinder im Internat – waren für die DDR im Ausland und ganz weit weg. Das Schülerinternat des Außenministeriums, das für anderthalb Jahre mein Zuhause war, stand in Königs Wusterhausen bei Berlin. Aus dem nahen, fernen Westen der geteilten Stadt drang jetzt "eine freie Stimme der freien Welt" in unser Zimmer. Tom und ich kuschelten uns in die Decken, hörten die Lieder und die Stimme des Moderators und waren für anderthalb Stunden einfach weg aus der brandenburgischen Kleinstadt. Wir waren zwölf Jahre alt.
Musik hören! Das war und blieb mir so etwas wie ein Tauchgang aus dem Alltag, auch als ich längst wieder zurück in meiner Heimatstadt Halle war. Und was hätte ich darum gegeben, einen West-Rekorder zu besitzen, so ein richtig cooles silbriges Teil mit Boxen links und rechts! Mein Schulfreund Wolfgang hatte einen. "Ich habe da ein ganz tolles Lied aufgenommen, das musst du hören", sagte er mir irgendwann im Sommer 1984. Wenig später saß ich in seinem Zimmer, an dessen blaue Decke Wolfgang weiße Wolken gemalt hatte. Er drückte auf die Play-Taste: Schatten im Blick / Dein Lachen ist gemalt... "Flugzeuge im Bauch", Herbert Grönemeyers melancholische Liebesballade aus dem Album "4630 Bochum", sie traf mitten ins Herz, genau der richtige Soundtrack für zwei Fünfzehnjährige.
Es würde fünf Jahre dauern, bis "Bochum" auch in der DDR erschien. Im Oktober 1989, ziemlich zeitgleich mit der Absetzung Erich Honeckers, kam die LP als Lizenzpressung der DDR-Plattenfirma Amiga in die Läden. Ich hatte Glück und bekam auch eine ab, nachdem ich eine gute Stunde lang am Plattenladen "Polyhymnia" in Halle angestanden hatte. Was ich damals nicht wusste: "Bochum" würde die letzte Schallplatte sein, für die ich Schlange stehen muss.
An Platten mit Westmusik zu kommen, das war neben dem Autokauf die hohe Schule im DDR-Verteilungswettbewerb. Wer wie ich kein Westgeld hatte, war auf das angewiesen, was Amiga in Lizenz pressen ließ. Und auch an diese Platten gelangte man nicht ohne weiteres. Im besten Fall kam man gerade dazu, wenn die Lieferung im Laden ausgepackt wurde. Dann musste man nur noch hoffen, dass der Vorrat reicht, bis man dran war. Klappte das nicht, brauchte man etwas Gleichwertiges zum Tauschen. Das kam für mich nicht in Frage, ich war ja froh, dass ich meine Schätze im Regal hatte. Blieb noch eine dritte Möglichkeit: tiefer in die Tasche greifen!
Das funktionierte beim übersichtlichen Budget eines Jugendlichen nur begrenzt, aber ab und zu musste es sein – wie an einem dunklen Herbstnachmittag Ende der 80er in Halle-Glaucha, einem alten Arbeiterviertel. Hier war Margot Feist, die später Erich Honecker heiratete und ein Vierteljahrhundert lang die Bildungspolitik der DDR prägte, 1927 auf die Welt gekommen. Sechs Jahrzehnte später verkaufte hier in irgendeinem der heruntergekommen Gründerzeithäuser ein junges Pärchen alles Mögliche, darunter auch Schallplatten. Eigentlich wollten die beiden 50 Mark, aber dann konnte ich den Preis für die Dire-Straits-Platte von Amiga (Neupreis 16,10 Mark) doch noch auf 40 Mark drücken. Erst danach erfuhr ich, warum die beiden ihren Hausrat vertickten. Sie hatten einen Ausreiseantrag gestellt. Bald, so hofften sie, würden sie die DDR verlassen können.
Das Pärchen gehörte zur Generation der jungen Erwachsenen, die mit der DDR nichts mehr am Hut hatten, denen der Staat schlicht egal war. Und Musik war da eben oft nicht nur Spaß und Unterhaltung, sie war ein Ventil. Als im Juli 1988 Bruce Springsteen auf der Ostberliner Radrennbahn Weißensee vor 160 000 Fans auftrat, war das nicht zu übersehen. Auf dem größten Rockkonzert, das jemals in der DDR stattfand, sangen Zigtausende aus voller Kehle "Born in the USA! Born in the USA!". Was der Boss vorn auf der Bühne womöglich nur als Begeisterung für seine Musik empfand, es war zugleich auch ein Abgesang – auf die DDR.
Ein Jahr später waren es vor allem junge Menschen, die in Ungarn bei Sopron über die Grenze nach Österreich liefen, in Prag über den Botschaftszaun kletterten oder sonstwo ihrem Staat den Rücken kehrten. Für mich stand das nicht zur Debatte. Ja, die DDR ging auf die Nerven mit Gängeleien und eingeschränkter Freiheit, mit öden Läden und grauen Altstädten. Aber diese DDR war mein Land. Die Bundesrepublik war es nicht.
Gleichzeitig war klar: So geht es nicht weiter. Den Soundtrack zur bleiernen Zeit der DDR lieferte 1988 die Ostberliner Band Pankow mit "Langeweile": Dasselbe Land zu lange geseh'n / dieselbe Sprache zu lange gehört / zu lange gewartet, zu lange gehofft / zu lange die alten Männer verehrt. Dass der Text die Zensur passierte, es war wohl auch ein Zeichen dafür, dass der Staats- und Parteiführung das Heft des Handelns langsam aus den Händen glitt.
So weit war es noch lange nicht, als 1984 auf einem Musikfestival am Saaleufer in Halle eine Coverband auftrat. Die Gruppe spielte alles Mögliche, bis vorn einige Leute anfingen zu rufen: "Wir wollen BAP! Wir wollen BAP!" Ich weiß nicht mehr, wie die Sache ausging, aber „Verdamp lang her“, die frühe BAP-Hymne vom Album „Für usszeschnigge!“, hörte ich in dieser Zeit zum ersten Mal.
Nur am Rande hatte ich das Gezerre um die für Januar 1984 geplante BAP-Tournee mitbekommen. Die Kölschrocker sollten in 13 Städten der DDR auftreten, die Verträge waren fix und fertig und die Gruppe bereits in Ostberlin eingetroffen, als die Tournee abgeblasen wurde. Der Grund war ein Lied. In "Deshalv spill' mer he" (Deshalb spielen wir hier) ging es um Abrüstung in Ost und West, aber auch um Meinungsfreiheit in der DDR. BAP sollte das Lied von der Setliste streichen, was die Gruppe ablehnte. Der Tourbus fuhr wieder in den Westen, zurück blieben enttäuschte Fans im Osten.
In der DDR umwehte BAP danach ein wenig der Hauch des Verbotenen, obwohl kurz vor der geplatzten Tournee sogar noch das 1982er Album "Vun drinne noh drusse" bei Amiga erschienen war. Die Platte war ab sofort Goldstaub. Sie zu besitzen, galt als Privileg, an eine Nachauflage war schließlich nicht zu denken. Auch ich hatte kein Exemplar, aber immerhin konnte ich die LP wenigstens nach längerer Vorbestellung in der halleschen Musikbibliothek ausleihen. Versteht sich von selbst, dass die elf Titel sofort auf Kassette überspielt wurden. Das Kassettencover gestaltete ich selber, im frei nachempfundenen BAP-Look.
Seitdem gehörten die Musik von BAP und Niedeckens Kölsch auf jede Samstagabendparty. Vier Jahre nach der geplatzten Tournee veröffentlichte die Band 1988 das Album "Da capo". Inzwischen hatten sich die Gemüter beruhigt. In der DDR-Jugendradiosendung "Duett – Musik für den Rekorder" gab es einige Lieder der LP sogar zum Mitschneiden, darunter auch "Fortsetzung folgt", die Geschichte eines perspektivlosen Jugendlichen im Westen.
Der pessimistische Ton des Liedes passte auch östlich der Mauer in die Stimmung. Anfang 1989 veröffentlichte die DDR-Rockband Silly das Album "Februar", und wenn Frontfrau Tamara Danz "Verlorne Kinder" sang, wusste jeder, was gemeint war: In die warmen Länder würden sie so gerne fliehn / Die verlornen Kinder in den Straßen von Berlin / Zu den alten Linden die nur in der Ferne blühn / Die sie nicht mehr finden in den Straßen von Berlin. Es sollte nur noch wenige Monate dauern, bis an der Berliner Mauer die Schlagbäume nach oben gingen.
Ingo und ich blieben noch den ganzen nächsten Tag in Köln. Einfach so durch die Stadt zu schlendern, die Wolfgang Niedecken in vielen Liedern beschrieben hatte – noch vor vier Wochen war das unvorstellbar gewesen. Erst am Abend fuhren wir zurück nach Halle. Der riesige Dom verschwand in der Ferne, neben mir auf dem Sitz lagen in einer Tragetasche vier Schallplatten. Es waren BAP-Alben, die ich schon immer haben wollte.
Der Autor: Torsten Schleicher ist in Halle (Saale) aufgewachsen und zog 1994 nach Würzburg. Seit 2017 ist er Leiter der Lokalredaktion Würzburg. BAP hört der 50-Jährige heute auf CD – aber immer noch genauso gern wie früher.